»So viel Kunst und Kultur hatte ich in London nie«, sagt Sirilko, als er und Kanbara Hand in Hand auf dem Weg zu einer der Besprechungen bei Aiguo unterhalb des dritten Reifens Christian begegnen, der an der Leiter hängt und eins der riesigen Tintentableaus von Zhou Yi an der Innenwölbung des Durchgangs betrachtet.
»Ich glaube, sie will uns helfen, nicht zu vergessen«, antwortet Christian auf die mild ironische Bemerkung des »letzten Sowjetbürgers«, wie Cordula Späth den Ingenieur manchmal nennt, »dass wir als Menschen mit Geschichte und Träumen und … ja, Kunst … von der Erde kommen, dass wir nicht bloß … wie diese russischen Hunde und Katzen, die man ins All geschossen hat … irgendwie hier so rumsausen.«
Kanbara sagt: »Wie schwarze Schuppen, die ein Drache hinterlassen hat, oder Schatten seiner Haut.«
Er meint die Muster, die langen Streifen von lückenhaften, teerschwarzen, regelmäßigen Flecken, Kunst eines chinesischen Künstlers, von der alle drei Männer wissen, dass sie eigentlich nicht wirklich da ist – es handelt sich um Farbsuggestionen der polychromatischen Wandauskleidung, die es fast überall im Schiff gibt, eigentlich gedacht als virtuelle Fenster, auf denen die Außenkameras gelegentlich ihre Aussichten herzeigen, oder als Bildschirme für wichtige Übertragungen von Ansagen der Schiffsleitung in graphischer Form.
»Warum sollen wir, wenn wir Kinos haben, Konzerte und eine Disco, nicht auch Galerien und Museen einrichten? Ich will den Leuten mal einen Caravaggio zeigen, einen Courbet, einen Picasso, einen Klee, was von Louise Bourgeois oder Jeff Wall oder Maria Lassnig oder Wu Tsang oder Matthew Barney oder Yasuto Masumoto oder Zhang Peili oder wem auch immer …«, hat Cordula an dem Abend erklärt, als sie für das Projekt brav eine formelle Genehmigung des Kapitäns einholte.
Jetzt wird diese Ausstellung turnusmäßig kuratiert von ihr und anderen Kunstsinnigen an Bord, aus den Menschheitsarchiven in den Zentralspeichern gegriffen. Die Antwort auf ihre rhetorische Frage dehnt sich bis in die Kabinen, ins Restaurant, sogar in den Sportbereich aus – die schwebende, konvex elliptische Form aus weißer Farbe, deren nichtvirtuelles Original der geheimnisvolle Wang Guangle, ein chinesischer Kollege des Tintenmalers Zhou Yi, dessen Werk Kanbara, Andrej und Christian gerade bewundern, 2011 für eine Ausstellung in Beijing gemalt hat und dessen täuschend echte Kopie jetzt an der gekrümmten Längsfront der größten Trainingshalle an Bord der PODKAYNE FRIES in deren Kunstlicht leuchtet, ist laut Filipa Scholz »das schönste Dingsbums, das ich je gesehen habe, ich sage bewusst Dingsbums und will gar nicht wissen, was es vielleicht bedeuten soll, also bitte keine Kunstvorträge jetzt von Cordula, dass das irgendwie das Unbewusste der Macht oder die Dialektik der Arbeitsteilung oder so was darstellt, sonst werde ich gewalttätig«.
»Man könnte natürlich«, sagt Sirilko jetzt und zieht dabei ein bisschen an der Hand seines Freundes, weil er weiterwill und die Besprechung nicht verpassen, »auch sagen, sie erinnert uns nicht an das, was wir sind, sondern lässt uns vergessen, wo wir sind: im Weltraum, wo es nicht nur keine Kunst gibt, sondern nicht mal was zu essen.«
»Alles schlechtreden, das kannst du«, sagt Kanbara gespielt entnervt, stößt sich dann aber mit beiden Beinen von einem der Tunnelsegmentringe ab und zieht Andrej so mit sich. Der lacht, während Christian denkt: Wie ein altes Ehepaar, wir sind wirklich Menschen hier – und dass Cordulas Kulturprogramm es uns erleichtert, das zu sein, daran kann ich nichts Schlechtes finden.
Drei Tage später erkundigt sich Christian bei Cordula, während sie beide auf Trainingsfahrrädern sitzen und die Chefin seltsamerweise nicht außer Atem gerät, obwohl sie dreimal so schnell strampelt wie der Sprachwissenschaftler, der sich beim Reden schon an der Grenze seiner Lungenleistungskapazität wähnt, ob er ihre Motive für die Kunstvermittlung an Bord richtig erraten hat.
»Das ist ja nett, dass ihr mich alle für eine so durchtriebene Sozialingenieurin haltet. Nee, ehrlich gesagt, ich mach’s für mich. Es ist einfach gegen Heimweh und gegen Reue.«
»Reue?«, keucht Christian, und sie zuckt unglaublicherweise beim wilden, heftigen Treten in die Pedale beiläufig mit den Schultern. Dann sagt sie: »Na ja, all das, was ich auf der Erde hätte haben, sehen, hören, besuchen können und nicht in Anspruch genommen habe, weil es immer irgendeine wichtigere Scheiße gab. Liebesgeschichten, länger Ausschlafen, kommunistische Wühlarbeit … du warst doch auch schon mal in meiner Kabine. Hast du das Foto gesehen, das da über meinem Bettchen an der Wand hängt?«
»Da … sind … zwei … Sing… Sängerinnen?«, erinnert sich Christian mit pfeifenden, rasselnden Atemzügen zwischen den Wörtern. Auf dem Foto, das sie meint, sitzen zwei junge Frauen am Rand einer großen Freilicht-Konzertbühne, die eine, eine Schönheit in Bluejeans und hellem Sweater mit mediterranem Teint, großen dunklen Wimpern und zwei dunkelblonden Zöpfen rechts und links, lehnt sich mit geschlossenen Augen selig an die andere, eine höchstens Fünfundzwanzigjährige mit langem, etwas ausgefranstem Haar, dessen Spitzen grell blondiert sind, im dunklen T-Shirt mit rosa Herzaufdruck und schwarzweiß karierten Kniebundhosen, eine Künstlerin, die mit klaren, schönen, stolzen und leuchtenden Augen in die Kamera schaut, während sie den linken Arm um die Kollegin gelegt und sie ganz nah zu sich gezogen hat, mit der Rechten das Mikrophon hält und offensichtlich gerade etwas überaus Grundsätzliches zu singen hat.
»Na!«, empört sich die Komponistin in dem Ton, in dem man ein Kind rügt. »Das sind doch nicht irgendwelche Singsängerinnen. Das sind die zwei bedeutendsten Qualitätsmäusekünstlerinnen, die sich vor unserer überhasteten Abreise von der Erde dort gerade noch bemerkbar gemacht haben, bevor ich schon gar keine Lust mehr hatte, mich mit Popmusik abzugeben. Miley Cyrus, mein lieber Christian, und Ariana Grande, aufgenommen in Manchester, auf einem Konzert, das die Grande gegeben hat, weil bei ihrem letzten Konzert in derselben Stadt wenige Wochen vorher ein Arschloch aus eigenem Willen in die Luft geflogen war und einen Haufen netter, feiernder Menschen mit ins Nichts gerissen hatte. Da hat die Grande ein paar Leute eingeladen, um gegen diese Scheiße noch mal darauf zu bestehen, dass Menschen auch schön können, nicht nur geisteskrank. Ich hab mir dieses Bild hingehängt, weil ich damit sagen will: Selber schuld, Cordula Späth, alte Drecknudel, dass du das nicht gesehen hast – ich war zu der Zeit nämlich in England, einen Tag vor dem Konzert auf dem Bild, und Miley, ich meine, wie blöd kann man sein, dass man da nicht hinfährt. Miley in Europa, ich war ja nun leider viel zu selten in den USA, aber Späth muss ja den ganzen Samstag mit so Idioten von der Weltraumbürokratenscheiße verhandeln, wo dann so ein Vertragsfetischist und ein verblödeter BWL-Vollwichser sitzen und mich dermaßen mürbe quatschen, dass ich im Hotel erst mal drei Stunden mit Freeman Dyson telefonieren muss. Und dann will ich ins Bett, damit ich morgen ausgeschlafen genug bin, um halt doch nach Manchester fahren zu können, zur Grande und zu Miley, again: MILEY, verdammte Axt, und Justin Bieber war auch noch dabei – da macht es vor dem Hotelfenster plötzlich Tatütata, denn schon wieder haben drei Dummkoranisten Besoffene und Touristinnen abgestochen, weil das ihr seltsamer und widerlicher … jedenfalls, was macht Frau Späth statt Ohrstöpsel und ab ins Bett, weil man ja eh nichts tun kann? Rennt gaffermäßig auf die Straße, quatscht die ganze Nacht in der Hotelbar mit Rassisten, die auch nicht gerade den Plan haben, wie man die Welt weniger beschissen macht, sondern sich auf diese typische merkwürdige Art der Panikfreunde aller Zeiten und Regionen in Wirklichkeit richtiggehend freuen über den Scheiß da, und dann war es fünf Uhr morgens, und ich war so schlapp, da dachte ich, nein, du kannst heute nicht nach Manchester, zumal sie es vielleicht absagen, na, alle diese sich selbst was verderbenden Ausreden und indirekten sinnlosen Selbstbestrafungen fürs Scheitern am Verhandlungstisch mit den Astroschwachköpfen am Tag zuvor, also: Ich sause gleich zurück nach Deutschland, wollte nur noch meine Badewanne und meine Bose-Anlage, und dann habe ich aber in dieser Wanne mit dieser Anlage den ganzen Abend Miley laufen lassen, dabei hätte ich sie live sehen können, und wie großartig erst, siehe Foto.«
Das letzte Wort setzt sie wie den Punkt im größtmöglichen Druckbild, der ein modernistisches episches Gedicht von ungeheurem Umfang – Pounds »Cantos« vielleicht oder Zukofskys »A« – abschließen müsste, als sei damit nun wirklich alles gesagt.
»Ah«, keucht Christian, um ihr anzuzeigen, dass er zumindest die Ernsthaftigkeit ihrer Ausführungen anerkennt, wenn er auch nicht recht weiß, was sie ihm da eigentlich gerade mitgeteilt hat. Dabei sinkt er nach vorn auf den Lenker, was sie, die ihr Tritttempo in dem langen und leidenschaftlichen Monolog keinen Augenblick verlangsamt hat, zu der sanft tadelnden Bemerkung veranlasst: »Du solltest öfter trainieren, Junge, ich mein, sogar öfter als nach Bioplan, das wird ja eh überprüft«, da bezieht sie sich auf das Kontrollarmband, das er hasst, »wir würden dir ja das Essen kürzen, wenn du ein Faulenzer wärst. Es klingt auch immer, als hättest du keinen Spaß dran, was ich gar nicht verstehe. Auf der Erde gab’s für mich nix Lieberes als eine gute Stunde Kraftradeln im Studio oder in der Wirklichkeit, den Main, die Isar, die Spree oder die Dreisam lang, mit einer feinen Zigarre im Mund, schön paffen und sich dabei fertigmachen, in jedem Ohr einen Stöpsel und tüchtig Richard Wagner, Bruckner oder Pfitzner drauf. Zur Not Schostakowitsch, Leningrad hält durch und so.«
»Du …« Er kann es nicht fassen. »Du … hast … du … beim … Sport … geraucht?«
»Wann denn sonst? Rauchen ist ungesund, das muss man doch ausgleichen!«
Da reicht es Christian, er hört auf zu treten, steigt vom Sattel und ergreift das Handtuch, um es zu werfen.
Keine vierhundert Meter weiter Richtung Triebwerk zeigt Liz ihrer Freundin Filipa ihre neueste Einrichtung im großen Garten, ein mitten in die inzwischen recht hohe Wiese gestelltes Experimentalgewächshaus aus Stegdoppelplatten, bei dessen Errichtung ihr der neuerdings agrikulturinteressierte Meinhard Budde zur Hand gegangen ist. Das Ding, so erklärt sie Filipa, »ist für bestimmte Tomaten, Bohnen und, how do you say, Calabasa … Kürbis … für die ist es hier inzwischen zu kalt, wir simulieren ja Jahreszeiten …«
Als Filipa das Experiment aus der Nähe betrachtet und mit Liz in die Hocke geht, um auch nach ein paar Käfern und Ameisen zu sehen, die sich hier vergnügen, fällt ihr ein »Minibäumchen« auf, wie sie sagt, ein in kleine Trichter aufgeteiltes gelbes Gewächs, das sie sehr schön findet. Liz erklärt: »That’s a real rarity, oenothera biennis, in German you say ›gelb blühende Nachtkerze‹, I looked it up. Ich züchte die hier, weil … na ja, wenn es nach Captain Sun ginge, würden wir ja nur Landwirtschaft treiben, aber so schön die … Rote Beete, geraspelt oder dünn ge… gehobelt, auch schmeckt und so … responsible ich mich fühle hier für die … you know, Spinat, Feldsalat, all of that … wenn Max endlich herkommt, weißt du, dann möchte ich mit ihm auch einfach mal auf einer Wiese rumtoben und rumrollen, like … we did not do too much of that, im Freien, auf der Flucht …«
»Könnte eine neue Sorte Freiheit sein. Ohne Verfolger auch mal durchs Gemüse, durch … wir sagen: durch die Botanik.« Filipa grinst, und Liz sagt nichts. Sie fühlt sich verstanden, wundert sich dann aber, wie schnell der Gesichtsausdruck der Jüngeren von schelmischer Lustigkeit zur Verschwörerinnenmiene wechselt, während Filipa die Stimme bis zum Flüstern senkt und fragt: »Sag mal, von wegen Simulation von Jahreszeiten … stimmt das mit den Gespenstern hier im Garten? Wachstumsraten, Gesundheit und so? Symbiose …?«
Liz ahnt, worum es geht, sieht die Freundin aber abwartend an, damit die Frage ein bisschen deutlicher gestellt wird. Filipa holt Luft und bleibt so leise wie eben, als sie sagt: »Die Chinesen … du weißt, ich hab mich mit einer aus der Krankenstation angefreundet, weil mich das nervt, wie Meinhard die abkanzelt … ich halte zu ihm, er ist mein Lover, aber ich will den Chinesen schon zeigen, dass ich nicht nur sein Anhängsel bin, und wenn er da auf den deutschen Nazitrip kommt, dann mach ich da einen extra Punkt draus …«
Sie holt wieder Luft. Liz sagt noch immer nichts, Filipas Stirn runzelt sich, glättet sich wieder, als habe die junge Frau kurz in ihrem Kopf nachgesehen, was sie eigentlich wollte, dann sagt sie: »Also, die Chinesen. Ich häng ab und zu mit Jiang rum, aus der Medizin, und Freundinnen und Freunden, wissenschaftliches Personal … und da haben die drüber geredet, wieso das eigentlich immer besser wird mit deinen Erträgen hier und dass es eine außergewöhnliche Resistenz gibt gegen alle möglichen erwarteten … ja, ein Biologe, so einer mit Fadenbart am Kinn …«
»Wang«, sagt Liz. Sie weiß jetzt, worauf das hinausläuft. »Genau, Wang«, nickt Filipa, »der hat durchblicken lassen, als ihn mal jemand von Jiangs Freunden fragte, ob da irgendwas Gentechnisches … der hat gesagt, wie war das … besondere biologische Bedingungen im Leerraum. Ja. So, nur … was heißt das, im Leerraum gibt’s doch nix Biologisches, fragen die also nach, und Wang wird ganz unbestimmt und sagt so Sachen wie, das ist weniger eindeutig, als man dachte, oder: kommt auf die Definition von Biologie an, und irgendwann hört mal einer von den Ärzten, wie Wang mit Käpt’n Sun drüber redet, dass es da eine … wie sagt er? Perverse Vakuumbio … nee …«
»Vakuumökologie. Pervasive Vakuumökologie«, berichtigt Liz freundlich, aber nicht mehr sonderlich entspannt; das Thema ist ein sehr heikles, sie hat sich Cordula Späth und Aiguo Sun gegenüber mehrfach darauf verpflichtet, darüber nicht »herumzutratschen« (Cordula).
Filipa sagt: »Genau, pervasive Ökosache, nur, was heißt pervasiv, ich gucke nach, das heißt durchdringend, also, es dringt was durch Wände und Begrenzungen, und das ist eine Ökologie, also was Lebendiges, aber im Vakuum, also hier draußen, kurz gesagt, man geht jetzt bei den Chinesen davon aus, dass es im Weltraum irgendwas gibt, was anders als die vielen kosmischen Teilchen, die man aus Gesundheitsgründen ja draußen halten will mit den Wassertankschutzdingern in den Wänden und dem Metall und allem, durch diese Wände offenbar durchkommt und deine Rüben und deine gelb blühende … Nachtkerze hier fördert … tja, also: Gespenster eben. Da wollte ich dich jetzt mal ganz direkt Folgendes fragen: Hallo?«
Liz muss lachen, auch deshalb, weil in diesem Moment eine Hummel recht nah, nur zwei Handbreit weit weg, an Filipas Kopf vorbeifliegt. Filipa bemerkt die Hummel, scheucht sie nicht weg, zieht den Kopf nur ein bisschen ein, da fliegt das Tierchen weiter, als hätte es verstanden, dass es nicht willkommen ist. Liz legt den Zeigefinger der rechten Hand an die Lippen und macht ein Geräusch, das nicht misszuverstehen ist: »Pssst!«, dann sagt sie, so leise wie eben Filipa: »Ich sag’s dir, okay? As far as it goes. Ich weiß nicht viel, Wang gibt sich zugeknöpft, aber hat großes Interesse an meinen Wachstumsraten, an Schädlingsbefall, an … er will Messungen, und ich gebe sie ihm, und behind his back … ich soll das in so Dateien eintragen, und … well, I don’t wanna brag, but in my time I’ve been known to be quite the creative hacker, I’ll have you know.«
Filipas Augen weiten sich: »Du schnüffelst rum? Beim Käptn, bei Cola?« Der Spitzname für Frau Späth stammt von dieser selbst, das heißt, woher sie ihn hat, kam noch nicht zur Sprache, aber manchmal redet sie von sich in der dritten Person und gebraucht ihn dabei: »Da sag ich zu mir, Cola, sag ich, pass mal auf …«
Liz lächelt: »Ich kann nicht alles lesen und verstehen, schon gar nicht bei den Chinesen, aber … Cola, wie du sie nennst … die macht sich Notizen, und … there’s this acronym PVÖ, that was easy to understand …«
»Perverses Vakuumökozappzerapp«, sagt Filipa, und Liz bestätigt: »Yeah, und außerdem hat sie mich sogar mal beiseitegenommen und … na, das macht sie ja gern. Wang hatte mir so was gesagt wie: Nehmen Sie einfach an … nehmen Sie an, dass wir hier draußen lernen müssen, was alles Leben sein kann. Und dass wir lernen müssen, es kommt da ganz auf die Definition an, dann wollte er nicht mehr sagen when I cornered him, or tried to, at least, und also bin ich zu Frau Späth, und die sagte: Das hat er nicht selbst erfunden, das mit der Definition, das hat er von mir, und ich hab es von den Dysoniki.«
»Den …« Filipa ist verblüfft, fast schockiert: »Den Dyso… den Viechern, die den Vater vom Christian …«
»Den Bewohnern der Asteroiden, der Restcrew of that vessel, that soviet ship, those that stayed behind …«
»IWAN JEFREMOW.«
»Right. Und da gab es nicht nur … also, man hat es uns ja ein bisschen so dargestellt: Die Russen sind in den Asteroiden geblieben, und die Deutschen sind mit ihrer neuen Kapitänin, der Frau Alexandra Burkhard, weiter Richtung Außenbezirk Sonnensystem. Aber wenigstens eine Deutsche ist auch bei den Russen, bei den Dysonleuten geblieben, eine Frau Sonntag, und von der stammt die … Definition von Leben, die … nötig wurde, als gewisse Phänomene …«
»Du redest sehr schwammig«, zischt Filipa, und anstatt ihr zu widersprechen, zuckt Liz mit den Schultern: »They found life. Kaum sichtbares Leben, nicht auf Zellenbasis errichtetes Leben, nicht mit einem, how do you say … biologischen … a temporal homeostasis of …«
Filipa ist gut genug unterrichtet, nicht nur vom Licht, um helfen zu können: »Fließgleichgewicht.«
»Yeah, though, kind of … also, nicht so wie irgendwas, das auf der Erde von Leuten studiert wird, die sich mit Flora und Fauna … this is real exobiology. Right here, in the solar system. Practically next door. Aber sehr … Truly weird. That’s why the Russians … deshalb wollten die Russen nicht weiter. Deshalb wollten sie auf den Felsen und Eisbrocken Stationen und Siedlungen und Forschungseinrichtungen … sie fanden was, über das sie erst gestritten haben wie verrückt, untereinander, mit den Deutschen, also … die Frage war: Das ließ sich messen, und das stellte schließlich Kontakt her, und also sagte jemand: Das ist Leben, mehr: intelligentes Leben. Da haben sie zwei Jahre diskutiert, was ist Leben, was ist intelligentes Leben? And from what Cordula Späth tells me who says that there have been informal contacts between the Russians on those rocks and some earthbound communists for years … sie sagt, es wäre dann diese Frau Sonntag gewesen, die in Zusammenarbeit mit einer Russin namens … Swerkunowa? Ja, Swerkunowa … die Frau Sonntag war deren Schülerin und hat den Streit mit einer, no, wait … mit zwei Definitionen entschieden, einer für Leben und einer für intelligentes Leben, und dabei kam dann raus, das muss man studieren, mit dem muss man kommunizieren, mit dem muss man kooperieren lernen, egal wie … crazy und … also, sie haben ja nicht mal Technik, diese Lebewesen, sie sind in a way … deeply …«
»Unterentwickelt? Unzivilisiert?«
Liz mag die Wörter nicht, sagt aber: »Maybe. Jedenfalls, als das geklärt war …«
»Moment, halt, nicht so schnell.« Filipa hebt eine Hand wie eine Schülerlotsin die Kelle, die sagt, man solle nicht weitergehen. Liz schaut sie hilfsbereit an, also hakt Filipa nach: »Kennst du die? Diese zwei Definitionen von der … wie heißt sie?«
»Eva Sonntag. Yeah. Cordula told me: Leben ist alles, was … erstens einen endlichen Prozess durchmacht, also sterben kann, zweitens damit anfängt, dass irgendwas, das schon lebt, sich reproduziert, und drittens bei dieser Kopie, die da stattfindet und eine Form der Informationsverarbeitung sein muss, den Gesetzen der Kopierfehler und der Selektion ausgesetzt ist, auf deren Spur uns … Darwin gebracht hat. Alles Sterbliche, das eine Evolution durchmacht. In diesem Sinn sind dann die Diff lebendig.«
»Die …«
»Diff. That’s what they call ’em. I did not understand why, it seems some kind of a scientific in-joke, but … ich bin ja wissenschaftlich … gebildet, as you say, but I don’t know what …«
»Und intelligentes Leben? Intelligent inwiefern?«, fragt Filipa. Da antwortet Liz: »Alles, was lebt und den Turingtest besteht. Du weißt schon, Alan Turing, der gefragt hat, wann kann man von einem Computer sagen, er wäre … Wenn man … you put up kind of a screen …«
»Eine Trennwand, und dann redest du mit dem Ding und siehst nicht, ob es ein Mensch ist, und wenn es dir menschlich vorkommt, oder jedenfalls deinem eigenen Mitteilungs- und Verständnisdingsbums ebenbürtig, dann ist es intelligent.«
»Yes. Und die Diff können das. Die reden mit den Leuten, wenn auch … again, strange. Frag mich nicht, auf welche Art. That’s just the words she used. Cordula. Und du kennst sie, wenn man weiterfragt …«
Filipa braucht einige Sekunden, das alles zu verarbeiten, sie schaut zu Boden und betrachtet drei Ameisen bei Geländeübungen. Dann schaut sie Liz direkt an und sagt: »Bullshit. Ich kenne dich, girlfriend. Nie im Leben hast du dich damit abspeisen lassen. Du hast weitergefragt. Du hast dich bestimmt sogar aufgeregt, dass man uns das vorenthält, weil das ja wohl die ganze Mission in neuem Licht …«
Sie wird etwas lauter jetzt, so dass Liz ihr mit der Hand wedelnd ein Zeichen gibt, sie solle das lassen: »Alright, alright. Sheesh, Filipa … I mean, okay. Ich habe sie … wie sagst du … genervt und gelöchert. Sie hat dann meistens gesagt, es gibt bald ein Tutorial, eine Erläuterung bei Sun, auf der Brücke, aber für alle, das wird dann in sämtliche Schiffsteile übertragen, und zwar soll das stattfinden, wenn …«
»Wenn die SMITH und die FRIES vereinigt sind, war ja klar«, seufzt Filipa, sie kennt das schon, es ist die Standardantwort der Chefin, des Kapitäns und überhaupt aller Leute, die hier an Bord irgendeine leitende Funktion bekleiden, wenn man sie danach fragt, wann irgendeine offenstehende Frage beantwortet werden wird.
Während ihr Blick nach den Ameisen sucht, die aber inzwischen im lockeren Erdreich verschwunden sind, spürt Filipa, wie Liz sich nah zu ihr neigt und ihr ins Ohr wispert: »Sie sind sehr klein. Und sehr groß. They’re not … sie sind nicht einfach aus … Teilchen, sondern aus winzigsten … Einheiten der Raumzeit, aber in großen … großen, großen … sehr großen Networks miteinander verbunden, Superorganismen wie deine Bienenstöcke und Ameisenhaufen.«
Filipa schaut Liz wieder an und sagt atemlos: »Du verarschst mich.«
»No. I don’t. She told me … weißt du, was Twistoren sind? Sachen in einem speziellen Raum, nicht unsere vierdimensionale Einstein-Minkowski-Umgebung, sondern mit Koordinaten, für die man komplexe Zahlen braucht, Wurzel aus minus eins plus was Normales und das alles …«
»Ich weiß, was Twistoren sind«, sagt Filipa ein bisschen beleidigt, schiebt die Unterlippe dabei leicht schmollend vor, »ich war im Licht, es hat mich gelesen, schon vergessen? Du weißt auch nicht mehr als ich, Alte. Echt. Was Twistoren sind. Toll. Ich hab’s danach alles unter persönlicher Anleitung von Vera Ulitz, einer … klugen Tante, durchgenommen, um’s zu verstehen, ich hatte wahrscheinlich bessere Hilfe als du und dein Max: Spinorfelder, kompaktifizierte Räume, Krümmung, keine Krümmung … aber das sind mathematische … Ideen, Konstruktionen, ich meine, Twistoren kann man nicht sehen, das sind so … Verständnishilfen, die sich, was weiß ich, der Roger Penrose ausgedacht hat, um … aber du sagst jetzt, diese Diff sind … was genau? Sachen, die aus so twistormäßigen Nichtphotonen irgendwie gebastelt sind wie wir aus Erbgut mit Zellen? Wie soll so was entstehen, und wieso gibt’s davon dann auf der Erde keine Spuren, wieso hat niemand je …«
»Wenn irgendwo eine Sorte Leben entsteht, entsteht da keine zweite Sorte Leben, weil die Nischen dann besetzt sind. Das Leben ist der ärgste Feind seiner eigenen spontanen Neuentstehung. Wo wir, oder unsere Einzellervorfahren, waren, da … there was no room for those Diff, und umgekehrt. Die Antwort ist übrigens nicht von mir, sondern von …«
»Lass mich raten, Eva Sonntag.«
»Right. Und die hat außerdem gesagt, wie Cordula Späth sie mir voller Ehrfurcht zitiert hat … this Sonntag woman teaches that … sie sagt, dass man diesen Vergleich zwischen diesem komischen Diffleben und unserem gewohnten irdischen Leben totally ernst nehmen sollte, dass man nämlich … also, if you face up to it, if you think about it clearly and honestly, dann ist es nicht mal nennenswert unwahrscheinlicher, dass irgendwo in irgendwelcher sehr reduzierten Physik und Chemie, auf den Asteroiden oder sonst wo, so ein Diffleben entsteht, als dass bei uns auf der Erde in der kochenden Ursuppe …«
Filipa schüttelt ärgerlich den Kopf: »Das ist doch kein Geheimnis für die Erde, das kann man sich doch mit ein bisschen Hirn selber denken. Alles, was du brauchst, ist ein … es fällt immer alles runter in der Schwerkraft, nicht wahr, das ist die Differenz der Höhe, wenn du was loslässt, fällt es, und analog dazu, alles will immer in den niedrigeren Energiezustand, und der Hang zur Unordnung nimmt auch immer weiter zu, das ist alles Thermodynamik … der Fluss fließt stromabwärts, aus geordnetem Licht wird ungeordnete Wärme, wenn der angeleuchtete Körper damit fertig ist, alles«, zischt Filipa, teils gereizt, teils eifrig, »ist ein Wasserfall«, sie kann davon ausgehen, dass Liz das versteht und annimmt, denn das Bild des Wasserfalls gehört zu den ersten, die das Licht Menschen zeigt, die es liest, »und wenn du jetzt viele Proteine und Nukleinsäuren und kleine Moleküle hast, die aus einem hochenergetischen Zustand in einen niedrigeren wollen, aus Naturneigung, ganz ohne Anstoß, dann hast du vielleicht so verknusselte und verknäulte Polymere, und weil sie lieber frei in der Suppe schwimmen wollen als so verknotet, trennen sich zum Beispiel zwei Stränge von … muss ich dir doch jetzt nicht aufmalen, der ganze Prozess hat einfach thermodynamisch Rückenwind, das sind alles kleine Beiträge zur ständigen Abnahme freier Energie überall …«
»Yeah«, stimmt Liz zu, »but I think that’s exactly where Sonntag goes with her analogy: Warum soll es nicht auch eine space-time-situation geben, in der genau so ein Rückenwind, so ein Wasserfall, so eine Differenz, so ein Gradient, so eine Richtung von wegen decrease of free energy nicht unter irgendwelchen Molekülen ein Ereignis wie die DNA-Kopiergeschichte auslöst, sondern unter Bestandteilen, Aspekten, attributes der … Raumzeit selbst, so dass …«
Jetzt macht Filipa energisch, erschrocken und heftig »Psssst!«, und gerade noch rechtzeitig: Die Schritte auf den Trittplatten sind schon sehr nah, und die Stimmen der beiden Männer, die auf ihrem Spaziergang ihren seit Monaten in mal heftiger, mal geruhsamer, aber niemals aussetzender Bewegung ausgetragenen Streit oder Wettkampf um die richtige wissenschaftliche Weltauffassung fortsetzen, sind bereits deutlich zu verstehen. Der Russe und der Chinese reden deutsch. Weder Aiguo Sun noch Andrej Sirilko haben die geringsten Schwierigkeiten damit, verzwickteste Sachverhalte in dieser Sprache auszudrücken.
»Nein, ich kann das nicht billigen«, sagt Andrej, »wenn du und Cordula so reden, als wären Naturgesetze bloß Zwischenergebnisse, die sich im Lauf der Zeit irgendwie ändern. Selbst wenn es so aussieht, wenn wir also unsere Naturgesetze ändern müssen, weil wir was Neues gefunden haben, dann waren das aber eben keine Gesetze …«
»Damit sagst du«, Aiguos Stimme ist warm, voll, ausgeruht, »nichts anderes als wir, wenn du nicht mit einigen westlichen und irrationalistischen Philosophen behaupten willst, man könne sich dem wahren Sachverhalt vielleicht nie genug annähern, es gäbe da Gesetze als solche, die seien unerkennbar, immer nur in Näherungen, unerreichbar, im Jenseits der menschlichen Erfahrungen und Denkmöglichkeiten – und das ist dann schon wieder ganz alte Metaphysik, das Unerkennbare, das Jenseits. Da bist du kein Materialist mehr, egal, ob in deinem Jenseits Engel oder Naturgesetze leben. Deng hat meine Nation an Maos Satz erinnert, dass man die Wahrheit, also auch die Naturgesetze, in den Tatsachen suchen soll und nicht woanders. Und wenn man eines weiß über die Tatsachen, dann, dass sie sich ändern.«
»Nein, nein, nein.« Andrej atmet heftiger, aber es ist auch etwas wie ein Lachen darin, eine Freude am hitzigen geistigen Austausch. »Moment, ich sage nicht, alles ist dauernd … also, klar, viel wird geändert, aber es ist doch andererseits so, dass viele Grundannahmen der wissenschaftlichen Disziplinen sich mit immer mehr Wissen gerade nicht erübrigt haben, sondern immer mehr bestätigt wurden – der Energieerhaltungssatz in der Physik beispielsweise, also dass nichts von nichts kommt und nichts verschwindet, das konnten die ersten Physiker noch gar nicht wissen, wie wahr das ist und wie viel daraus folgt, aber es ist sozusagen eben immer wahrer geworden, je mehr man wusste – was ich sagen will: Die Gesetze, das Gültige, das, was man eben sehr wohl in der, wie du sagst, menschlichen Erfahrung und den menschlichen Denkmöglichkeiten finden kann, das liegt für mich nicht irgendwo im Jenseits, unerreichbar, sondern oft ist es geradezu der notwendige Anfang: Du musst, glaube ich, wenigstens die Grundideen schon sehr nah an der Wirklichkeit entwickeln, du musst das dauerhaft Gesetzesförmige, das Stabile, schon sehr genau treffen, damit du überhaupt weiterforschen kannst, und solche Sachen wie Newtons Ideen, dass die Bewegung immer weitergeht, wenn keine Gegenkraft …«
»Also«, kürzt Aiguo den Streit ab, »ich verstehe dich richtig, die Naturgesetze entwickeln sich nicht, aber sie stehen auch nicht erst am Ende des Erkenntnisprozesses. Dass man sie richtig sieht oder weiß oder wenigstens ahnt, ist geradezu die Voraussetzung dieses Prozesses?«
Andrej sieht keinen Nachteil für seine Position darin, sich zu dieser Zusammenfassung zu bekennen: »Ja, so sehe ich das.«
Jetzt klingt Aiguo amüsiert: »Dann werden wir doch mal konkret. Nicht Physik und ihre sehr allgemeinen Annahmen, die du dir rausgepickt hast, sondern nehmen wir mal eine andere Wissenschaft, die Geologie, und in der den wichtigsten Teil, die Erdgeschichte. Lyell, dem wir die Disziplin verdanken, wollte sie von Aberglauben und der Einmischung der Priester befreien, die immer alles nach der Bibel gedeutet haben wollten: die Erde, erschaffen, dann die Sintflut, der ganze Ablauf im … Alten Testament, und so stellt Lyell drei Gesetze auf, an denen sich die Forschung orientieren soll: Erstens, geologische Veränderung ist langsam, da passieren keine göttlichen Willensakte plötzlich, die Sache vollzieht sich graduell, über große Zeiträume. Zweitens, überirdische Mächte haben da nichts verloren, geologische Kräfte, die dafür verantwortlich sind, dass sich die Erdgestalt ändert, kommen aus der Erde, von der Erde. Drittens, in dem, was wir den Spuren der Entwicklungsgeschichte entnehmen können, gibt es keine regelmäßig auftretenden Muster, die etwa auf Wechselwirkung mit Kräften deuten würden, die wir nicht rein immanent verstehen, und das gilt insbesondere für die Entwicklung des Lebendigen, das sich rein nach Irdischem richtet. Nun ja, du weißt es sicher, alle drei sind falsch. Wir wissen jetzt, das erste Gesetz ist falsch, weil die Veränderungen nicht immer graduell und langsam sind, es gab katastrophische Ereignisse, Vulkangeschichten und anderes, zweitens, das zweite Gesetz ist falsch, einiges kommt nicht von der Erde, Kometen sind eingeschlagen und haben die Landschaft verändert, und drittens, am Allerwichtigsten, nicht einmal die Wechselwirkung von Erde und Leben beschränkt sich auf diese beiden, auch hier wirken Sachen mit, die Lyell nicht ahnen konnte, für die nämlich nicht nur Irdisches, sondern geradezu die allergroßräumigste Astronomie zuständig ist – es gibt in den Fossilspuren einen Zyklus von etwa sechsundzwanzig Millionen Jahren Dauer, der ziemlich genau der Bewegung des Sonnensystems im galaktischen Rahmen entspricht. Alles war falsch, und doch wurde eine Wissenschaft daraus, warum? Nicht, weil sie an fixe Naturgesetze glaubte, von denen sie nie abweichen durfte, sondern weil sie die Wahrheit in den Tatsachen suchte und sich so berichtigen konnte.«
Andrej gib sich nicht geschlagen: »Aber mit einer falschen Mathematik zum Beispiel kannst du gar nichts machen, du wirst keine Physik, keine Geologie, gar nichts treiben können …«
»Ah, Mathematik, die letzte Zuflucht der Platonisten. Ja, dann schauen wir, was ist die Mathematik? Es war einer von euch, einer der geschätzten russischen Genossen, der große Wladimir Igorewitsch Arnold, der hier das Entscheidende, das Richtige gesagt hat: Die Mathematik, das ist einfach ein Unterbereich der Physik.«
Andrej ist empört: »Aber du wirst doch nicht bestreiten, dass … ich meine, das mag für die ganz primitive Mathematik gelten, für die Griechen und die Ägypter, bei denen, na, die Geometrie zum Beispiel wirklich noch Bodenvermessung ist oder so was, aber die Mathematik, die du und ich im Studium kennengelernt haben, die Mathematik des … sagen wir, des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, das ist doch ein Ausmaß an Abstraktion, dass man …«
Durch die Büsche sehen Liz und Filipa, die in Drehrichtung des Reifens neben dem neuen Gewächshaus hocken wie die Häschen in der Grube, dass Andrej die Arme hochwirft, als wollte er sagen: Was soll ich mit diesem Chinesen machen?
Der Angeprangerte lächelt, nickt sogar bedächtig und lässt sich vom Theaterdonner nicht beeindrucken: »Lieber Andrej, der Genosse Arnold hat seinen klugen Satz doch nicht einfach ins Blaue gesagt. Das ist kein Provokateur, der den Eigenwert seiner mathematischen Forschung leugnen will, um einen philosophisch originellen Satz gegen die Intuition und die Tradition zu sagen. Kein Mensch bestreitet, dass Mathematik eine andere, abstraktere Arbeit ist als die Reparatur eines Traktors. Aber prüf den Wahrheitsgehalt des Satzes, wie er es getan hat. Ihm ist beim Versuch, die Mathematik zu ordnen, von der du redest, die revolutionäre und die kühne Mathematik der Neuzeit, einfach aufgefallen, was eben auch niemand leugnen kann, der sich die Sache vorurteilsfrei anschaut – du hast drei Zweige, Kryptographie ist der Name für den Nutzen des ersten, den die CIA, euer KGB und andere Dienste bezahlt haben, dann Hydrodynamik, das ist der Name, der den Nutzen des zweiten bezeichnet, alle Flussvorgänge, alle zeitabhängigen wilden Sachen, da haben diejenigen schließlich die Höhepunkte finanziert, die Atom-U-Boote bauen lassen, und schließlich Himmelsmechanik, das wurde finanziert von allen, die sich für Raketen interessieren, dem Militär, der NASA, dem Wettbewerb zwischen eurem Sozialismus und der imperialistischen Staatenwelt. Und was haben diese drei Zweige nicht für Früchte getragen! All die aufregenden Dinge: Die Kryptographie, das war der Weltbezug für die Zahlentheorie, die algebraische Geometrie über endiche Körper, die Algebra – ja, sagt Arnold ganz richtig, der Schöpfer der modernen Algebra, Viète, war der Geheimschriftenmann, der Verschlüsselungsdiener des Königs Henri IV. von Frankreich –, und die Kombinatorik und endlich auch die Computer. Alles Kryptographie, so wie die Komplexe Analysis, die partiellen Differentialgleichungen, die Lie-Gruppen, die theoretische Algebra, die Kohomologie und auch einige Sachen in der Computerwissenschaft, die von meinem zweiten Zweig gefallen sind, die Hydrodynamik, der Strömungswissenschaften. Und die Himmelsmechanik, na, da kommen die dynamischen Systeme her, da ist die lineare Algebra daheim, die Topologie, die sym…«
»Ja, ja, schon gut«, sagt Andrej und winkt ärgerlich ab, »alles nur Anwendungsinteresse, was? Nein, also … dieser Instrumentalismus, so ein undialektischer, mechanischer, mechanistischer Blödsinn …« Jetzt lacht Kapitän Sun sogar hell und fröhlich. Dann zeigt er im Weitergehen kurz und lustig mit dem ausgestreckten Zeigefinger der Rechten auf Andrej, wie man das macht, wenn man gestisch sagen will: Ha, jetzt hab ich dich aber erwischt!, und sagt: »Siehst du, das ist der Kern deiner Sorgen, das ist dein verzweifelter Standpunkt, wenn du für ewige Gesetze die Brust rausdrückst – die Angst vor dem ganzen philosophischen Unsinn des Westens aus den letzten hundert Jahren, Pragmatismus und Instrumentalismus, Relativismus, die Lehre, dass es überhaupt keine Wahrheit gäbe, dass man ihr im Forschungsprozess auch nicht näher kommen könnte, dass die Welt nur immer gerade so sei, wie die Menschen sie halt verstehen, dass man aber verschiedene Abschnitte dieses historischen Forschungsprozesses nicht auseinander hervorgehen lassen dürfte, weil im Mittelalter die Welt eben eine Scheibe gewesen sei, um die sich die Sonne dreht, und danach eben nicht mehr, und die Sterne nur so sind, wie sie sind, damit wir das Meer befahren können … also diese ganzen Wiedergeburten des Skepitizismus als Quietismus, dieses Nichtwissenkönnen als große Wehklage, auch der Herr Kant, man kann das Ding an sich nicht erkennen – du missdeutest das, was ich sage, als einen Weg, der zu diesem ganzen Unsinn führt. Weil ich sage, dass nur die Praxis der Geheimdienste und Raketenbauer zur Wahrheit führt, und weil sich die Wahrheit verändern kann, denkst du, ich würde sagen, was diese westlichen, verrückten Philosophen alle sagen, nämlich dass die Geheimdienste und Raketenbauer die Wahrheit nicht nur herausfinden, sondern selbst bauen, und was sich verändert, denkst du, sage ich, das ist eigentlich gar nicht vorhanden, denn nur das Ewige ist für dich vorhanden, nur das von Interessen der Geheimdienste und Raketenbauer unbeschmutzte – du willst die Wahrheit rein, sonst, denkst du, gibt es keine Wahrheit. So müsste das sein, wenn stimmen würde, was du mich sagen hören möchtest.« So viele Konjunktive, denkt Filipa staunend, und soweit sie die Grammatik verstanden hat, sind alle richtig. Sun beendet sein Argument: »Aber im Gegensatz zu dir sage ich nicht, wenn die Wahrheit nicht von Interessen unberührbar rein ist, wenn sie außerdem nicht ewig ist, gibt es keine. Ich sehe, dass in Wirklichkeit nichts Ewiges und eben auch nichts Unberührbares, nichts, das nicht Interessen wecken, erfüllen oder frustrieren kann, überhaupt existiert, dass man, wenn man von etwas sagt, es existiere, auch sagt, es hat einen Anfang und ein Ende und es könnte Menschen irgendwie, irgendwann, irgendwo nützen oder schaden. Und nur weil man also die Geheimdienste und Raketenbauer braucht, um bestimmte Sachen herauszufinden, sind es nicht sie, die bestimmen, wie sich das verhält, was man da herausfindet. Siehst du, das sind einfach die Denkschwierigkeiten einer verbrauchten Gesellschaft – das ist der Westen, der daran verzweifelt, dass seine Gesellschaftsordnung ihn daran hindert, die einmal erlangte Stufe der Rationalität seines Wissens und Könnens auch wirklich im Interesse seiner Menschen anzuwenden. Was sie wissen, macht sie nicht alle glücklicher, reicher oder freier, sondern nur sehr wenige von ihnen. Und in jeder Gesellschaft, in der die Intellektuellen merken, dass das Erkennen und das Wissen keine echten Fortschritte an Glück, Reichtum, Freiheit für alle mehr bringt, fangen sie an, am Erkennen und am Wissen selbst zu zweifeln. Das war bei euren alten Griechen so, als der Herr Pyrrho mit dem ganzen Skepsis-Unsinn anfing, und das war im späten zwanzigsten Jahrhundert so, als die mit der westlichen Wirtschaft immer enger verzahnte Sowjetunion von diesem ganzen Unfug zunehmend auch angesteckt wurde, als das erst im Untergrund und dann an den Universitäten wieder um sich griff, dieses Geschwätz. Aber der Sozialismus chinesischer Prägung, der dortige Marxismus-Lenininismus, dann die Mao-Tse-tung-Ideen, dann die Lehre des Genossen Deng und die Xi-Jin-ping-Ideen, das hat einen anderen Weg eingeschlagen. Wir haben diese Probleme alle nicht.«
Jetzt lacht Andrej, allerdings weder höhnisch noch ungläubig, sondern wie jemand, der vor dem Selbstbewusstsein eines klugen anderen fürs Erste kapituliert. Er sagt: »Ist gut, schon verstanden. Wir werden sehen, wie das ausgeht – Probleme, wenn auch nicht diese, habt ihr auch. Die Luft und das Wasser in der Nähe von einigen industriellen Gegenden bei euch sollen ja nicht halb so schön sein wie hier im Garten.«
Aiguo beugt den Kopf, dann blickt er wieder auf und sagt: »Das ist wahr, Probleme haben wir. Die Partei erkennt das an, und jetzt steigen wir in großem Maßstab ein bei erneuerbaren Energien und alldem, Solarkraft, der Stand der Technik. Aber was schon angerichtet wurde, lässt sich nicht leicht in Ordnung bringen, und einen Preis zahlt man immer. Was glaubst du, warum ich sofort die Gelegenheit ergriffen habe, ins All zu reisen?«
Weil sie nach links über eine kleine Holzbrücke davongehen, die zu den vielen Anzeichen asiatischen Gartenbaustils gehört, mit denen die chinesische Präsenz an Bord sich bemerkbar macht, sind sie für die zwei Lauscherinnen bald nicht mehr zu verstehen.
Liz grinst so breit wie sonst nur Filipa und sagt: »That was some deep shit«, und Filipa stimmt zu: »Tiefsinniger kann das Tutorial über die Diff auch nicht sein, das Cola dir versprochen hat. Naturgesetze, Alter! Und … Aber, du«, sagt sie, und richtet sich vorsichtig auf, um die Männer, die gerade noch in Rufweite sind, nicht doch noch auf sich und Liz aufmerksam zu machen, dabei hilft sie auch Liz hoch, die sich an ihren angebotenen Armen in die Höhe zieht, »ich muss jetzt dringend zum Training und noch ein paar Äxte werfen, mir sind die Haxen eingeschlafen von der Hockerei. Und wenn ich dran denke, dass wir heute wieder ’ne längere Kinonacht vor uns haben …«
Liz weiß genau, was Filipa meint: »Yeah, das wird kein kurzer Film. Ich geh auch noch mal for a jog in den freien Reifen vorn.«
Die Kinonächte werden in letzter Zeit alle länger, was auch am Abbau des »western bias« im Programm liegt, den Liz irgendwann einmal bei einer Gruppenbesprechung an Cordulas Tisch im Restaurant gefordert hat: »Ich will mehr chinesische Filme sehen, mehr japanische«, ein Seitenblick auf Kanbara, der jetzt selten allein, meistens mit Andrej unterwegs ist und deshalb auch mehr und mehr in die alte Gruppe der von Cordula Späth Ausgesuchten integriert wird, »und jedenfalls nicht immer nur Hollywood.«
»Gute Idee«, fand Cordula Späth, »aber die besten chinesischen Filme sind ordentlich lang, macht euch drauf gefasst!«
Die Losung, das Filmprogramm an Bord zu sinisieren und zu japanisieren, wird von wechselnden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kapitäns sowie, als Kurator des japanischen Teils, von Kanbara kompetent umgesetzt. Cordula Späths Ankündigung bestätigt sich gründlich, wovon auch der Film keine Ausnahme macht, der am Abend nach Aiguos und Andrejs Gartengespräch über Wahrheit und Wissenschaft gezeigt wird: Fast zwei Stunden fließt der längste aller chinesischen Flüsse durch Chang jing tu von Yang Chao (oder, je nachdem, welche Stellung von Vor- und Nachnamen die verschiedenen Sprachgebräuche auf der PODKAYNE FRIES bevorzugen: Chao Yang), die Geschichte eines Mannes auf der Suche nach Herkunft und Sinn von Gedichten und einer Frau, der er auf seiner langen Schiffsreise den Jangtse entlang immer wieder in verschiedenen Lebenszusammenhängen, Weltkonzeptionen, Träumen begegnet.
Niemand im Saal findet, das Werk ermüde die Aufmerksamkeit, im Gegenteil. Wie sich hinterher an Cordula Späths Tisch im Restaurant herausstellt, sagt selbst Meinhard Budde, der allem Chinesischen gegenüber notorisch reservierte Soldat, dass man dem grüblerisch verliebten Qin Hao und seiner störrisch zarten Xin Zhi, den beiden Stars des Films, »stundenlang dabei zuschauen« könnte, wie sie einander auf und an einem Fluss dauernd verfehlen. Meinhard kippt eins der an Bord aus Rationierungsgründen seltenen Gläser Whisky und sagt dann: »So was hätte ich mir auf der Erde nie angeguckt. Kunstkino. Aber hier ist das genau richtig, hat mir viel besser gefallen als die ganzen Actionexplosionen immer, die ich mir sonst angeguckt hab. Diese Langsamkeit und dann dieses … Zwischenreich von Traum und riesiger Landschaft oder der Tempel, mit den Stimmen drin, und dass der so gebaut ist, dass es immer klingt, als käme alles von oben – ich musste an uns denken hier in der Rakete, wie groß draußen alles ist, und die lange Reise, na, also, ich würde sagen, lacht mich nicht aus, aber der Film ist genau so, wie ich mich hier fühle.«
Filipa, die direkt neben ihrem Freund sitzt, lehnt sich an seine Schulter und neckt ihn: »Wirst du jetzt Filmkritiker, Schatz?«
»Pff«, macht er und lacht, während er abwinkt, sie setzt sich wieder gerade hin und sagt in ernsthafterem Ton: »Nee, ist doch super, dass du damit was anfangen kannst, ich fand ihn auch gut. Die chinesischen Filme sind für mich was ganz Neues, auch die japanischen übrigens.« Sie nickt Kanbara freundlich zu, der zur neuen Ausrichtung der Kinoabende bis jetzt sieben Filme beigetragen hat, darunter die knapp zweistündige, erotisch-existentialistische Kobo-Abe-Verfilmung Suna no onna von Hiroshi Teshigahara, die fast ebenso lange, unbegreiflich-exzentrische Quasi-Musical-Groteske Katakuri-ke no kôfuku von Takashi Miike und die etwas kürzere Radiodramaproduktionskomödie Rajio no jikan von Kôki Mitani. »Die sind für mich was völlig Neues, so was kam nie im Kino bei uns in Deutschland oder wenn, dann in so Edelkinos, wo ich es nicht mitgekriegt hätte. Für mich ist das eine andere Welt, also ich besuche da wirklich andere Planeten, nur dass die alle auch die Erde sind, ganz seltsame Trips. Klar, ich hätte sie besuchen können, bevor wir gestartet sind. Vielleicht hätte ich das sollen. Und wenn es Science-Fiction-Filme sind, so wie dieses Ding, das du letzten Monat gezeigt hast, Kanbara … das mit den Flüsterstimmen …«
Sie sieht den Japaner fragend an, der leise antwortet: Hiso Hiso Boshi … The Whispering Star, der … flüsternde Stern.« Den deutschen Titel, unter dem der Film in Deutschland nicht im Kino lief, nennt Kanbara, weil die Vorführung im Kino der PODKAYNE FRIES eine mit deutschen Untertiteln war und mit einem Vortrag von ihm über den Regisseur Sion Sono und dessen große Bedeutung in Kanbaras Generation, in seinem eigenen Leben – der junge Japaner ist im Deutschen nicht so sicher, wie er gern wäre, und redet deshalb nicht viel, aber wenn er etwas sagt, richten sich schnell alle Augen auf ihn, weil es meistens etwas ist, das man nicht überhören möchte – so auch diesmal: »Ich glaube, der Weltraum … es ist der richtige Ort, viele Dinge der Erde klarer zu sehen.«
Christian Winseck sagt mit einem Blick zu Cordula Späth, den Liz auffällig kalt, fast feindselig findet: »Ich hoffe nur, dass die vielen Bewaffneten, die demnächst zu uns stoßen und die Expedition vervollständigen sollen, das ähnlich philosophisch sehen können. Dass sie lernen, wie man irdische Gewohnheiten, zum Beispiel das Kriegführen und Erobern, ein bisschen klarer sieht, wie man die Nachteile anders ernst nimmt, die so was hat, hier, wo es viel Glück braucht, wenn man überhaupt in diesen zerbrechlichen Habitaten überleben will.«
»Du meinst«, sagt Meinhard Budde, der sich als Soldat angesprochen fühlt, »es wäre doch ziemlich scheiße, wenn wir den ganzen Aufwand hier treiben, um die Dysoniki und später die Alexandra Burkhard einzuholen, falls wir das nur tun, um sie zu bekriegen und ihnen alles wegzunehmen, was sie gebaut, rausgefunden und sonst geleistet haben?«
Er klingt nicht beleidigt. Cordula Späth sagt nichts, sondern sieht von Christian zu Meinhard mit einem Lächeln, das Nachsicht und Sympathie kommuniziert. Bevor der Deutschamerikaner oder der Deutsche bei ihr nachhaken können, wie sie denn zu diesem Problem steht, ist es Aiguo Sun, der mit ruhiger Autorität die offizielle Position der Expeditionsleitung vertritt: »Die Sorge, dass Militärs nicht darauf vorbereitet sind, neue Dinge richtig einzuschätzen, die nicht militärisch betrachtet werden können, ist berechtigt. Die Partei hat mir aufgetragen, den Primat der Forschung durchzusetzen, alle Offiziere der Volksbegreifungsarmee an Bord der VALENTINE MICHAEL SMITH und ihre Soldaten, aber auch das gesamte Sicherungs- und sonstige militärische Personal aus der Volksrepublik China auf der PODKAYNE FRIES ist weisungsgebunden, und nicht nur an mich, auch an Cordula Späth und an die jeweils ranghöchsten chinesischen und deutschen Wissenschaftler und Techniker auf beiden Schiffen. Das heißt aber vor allem, dass wir, also alle, die keine Soldaten sind, eine schwere und verantwortungsvolle Aufgabe übernommen haben: Die Militärs müssen unsere Lehren und Anordnungen befolgen, aber das bedeutet, dass wir diese Lehren und Anordnungen eindeutig und verständlich erteilen müssen. Kanbara sagt richtig, man sieht die Dinge hier klarer, aber das bedeutet, dass wir sie auch untereinander klären müssen, mit klaren Worten. Ich habe erst heute Morgen mit unserem Freund Andrej Sirilko hier«, er nickt dem Genannten freundlich zu, »eine sehr anregende philosophisch-wissenschaftstheoretische Diskussion darüber geführt, was man unter Naturgesetzen verstehen solle, eine Frage, die auf der Erde unter Umständen auch ein bisschen weniger klar gesehen wird, wo gesellschaftliche Gegebenheiten oft von der absoluten Unumgehbarkeit von Naturschranken ablenken können, denen wir uns hier im Raum unmittelbar gegenübersehen, auf Leben und Tod. Ich bin der Überzeugung, dass solche Gespräche, zu zweit wie zu mehreren, im kleinen Kreis wie in der Öffentlichkeit des Schiffes, mehr noch, beider Schiffe, die in wenigen Wochen nur noch ein einziges Schiff sein werden, äußerst wichtig sind. Ich werde in Zusammenarbeit mit Cordula ein paar Einführungen in wichtige Sachverhalte ausarbeiten, in die politischen Verhältnisse bei den Dysoniki zum Beispiel, alles, was wir darüber in Erfahrung bringen konnten, und über Alexandra Burkhards Eroberung der Macht an Bord der JEFREMOW und den möglichen weiteren Verlauf ihrer Mission. Diese Einführungen werden in Gestalt von Präsentationen auf der Brücke zu festen Zeiten abgehalten und in andere Sektionen des Schiffes übertragen werden. Alle, die hier mit uns unterwegs sind, sollten von ihrem Inhalt Kenntnis haben.«
Liz und Filipa wechseln einen verstohlenen Blick, beide denken daran, dass zu diesem Inhalt wohl auch das eine oder andere über die sogenannten Diff gehören wird. Jetzt spricht Cordula: »Das heißt übrigens nicht, dass diese Einführungen und sonstigen Verständnisangebote nur von Aiguo oder mir oder vielleicht noch Andrej kommen können. Du zum Beispiel, Christian, könntest uns mal was über deine Fortschritte mit den Botschaften von Alex Burkhard erzählen.«
»Genau«, wirft Filipa ein, »das wollte ich eh schon mal wissen, wie weit du da jetzt eigentlich mit bist, Christian. Wie sieht’s aus?«
Christian ist gänzlich unvorbereitet: »Ich habe … bin noch … also, wenn es darum geht, was Alexandra Burkhard … damit sagen wollte, dann …«
Weil alle nur neugierig aussehen, fasst er sich: »Die Übersetzung, wenn man so will, ist das eine. Es kommt später, man muss ja immer erst mal klären, was für eine Sorte Text vorliegt. Das habe ich jetzt, glaube ich, geschafft, indem ich verschiedene Eichmaße ausprobiert habe, sozusagen, verschiedene Verfahren der Identifikation von Ordnungen im Text selbst. Es ist …« Er macht eine Pause und kann dann nicht anders, als in eine sprachliche Eigenheit zu fallen, die sonst eher typisch für Liz ist, nämlich den Wechsel aus dem Deutschen, das er seit seiner Ankunft in der chinesischen Wüste eigentlich ununterbrochen gebraucht hat, ins Englische: »It’s all highly technical, so I don’t know if you’re familiar with any of these ideas, but it’s basically forensic data mining linguistics, was ich gemacht habe, it’s …« Er reißt sich zusammen, versucht es auf Deutsch: »Wörterfrequenzen. Wie oft kommen Wörter in absoluten Zahlen vor, wie oft kommt ein Wort auf hundert oder tausend Wörter, wie viele nouns, verbs, adverbs, adjectives, qualifiers, prepositions, verbs, und nicht einfach use, sondern auch median use per passage, dann aber vor allem die Satzstruktur«, er mobilisiert sein bestes Fachdeutsch: »also, ob es einfach deklarative Sätze sind, simple Propositionen, oder sorgfältig gefügte Konstruktionen, parataktische, hypotaktische Architekturen, immer um einige wenige, aber alles andere entscheidende Verben herum organisiert … und das hat mich dann auf die Spur gebracht, dass ich ganz falschgelegen bin am Anfang, verführt durch diese Idee von dir, Cordula, man müsste das wie einen Brief lesen, eine Botschaft. Weil mir eben gerade bei der Verbensache als Dreh- und Angelpunkt dieser Texte, oder dieses Textes, aufgefallen ist, was die Frau Burkhard da gemacht hat, dass das nämlich unmöglich einfach eine Mitteilung, ein Brief oder so etwas sein kann, sondern, ja, und das war eine ziemliche Überraschung dann doch …«
Er sucht nach Worten. Cordula Späth hebt, bevor er sie gefunden hat, ihr Cocktailglas, schlägt nicht zu klirrend hart, aber hörbar mit dem Ring am Mittelfinger der Rechten dreimal kurz hintereinander gegen den Rand, dass es klingt, wie wenn jemand bei einem Hochzeitsessen mit dem Löffel am Glas das Signal gibt, das ankündigt, wenn eine Rede gehalten werden soll. Dann hebt sie das Glas, als alle Blicke sich auf sie richten, sogar noch fünf Zentimeter höher, und sagt nach kurzem, fast verschlucktem lustigem Sichräuspern: »Phantastische Gelegenheit, die Volkshochschule auf Aiguos Brücke zu eröffnen! Ich würde sagen, wir sind jetzt alle so gespannt, dass sich daran ablesen lässt, wie aufmerksam das ganze Schiff zuhören würde, wenn Christian Zeit hätte, eine geordnete Präsentation vorzubereiten. Und ich will, ehrlich gesagt, nicht mehr wirklich die Vereinigung der Schiffe abwarten. Wenn die andern dazukommen, die Uniformierten und Bewaffneten, ich weiß, das ist nicht mehr lange, paar Wochen, man kann schon die Tage zählen«, Filipa guckt wieder zu Liz, die das wohl, in Erwartung von Max, vermutlich tatsächlich tut, »aber wenn die mal da sind, geht es, fürchte ich, zunächst um Sachen, die man in Befehlsform darstellen, sozusagen ganz klassisch frontal unterrichten muss: Wer sind die Dysoniki, was erwartet uns in der nächsten Etappe der Reise, einiges über die JEFREMOW und erste Ausblicke auf die übernächste Etappe, auch schon auf Neptun. Aber das, was Christian arbeitet, ist denen vermutlich zu abstrakt. Und, tja, Geisteswissenschaften …«
»Es ist Science, es ist überprüfbar«, schaltet sich Christian wie erwartet protestierend ein, »es ist falsifizierbar …« Cordula lacht freundlich: »Hey, peace, Christian, mit mir brauchst du dich nicht zu streiten, ich hab’s nicht angezweifelt. Science, sure. Aber es ist Science für Scientists und Intellektuelle wie uns alle hier – ja, Meinhard, guck nicht so, du bist überführt, deine Meinung zu dem Film heute war schon viel zu intellektuell –, also, was ich sagen will«, sie wendet sich wieder Christian zu, »du kriegst wahrscheinlich intelligentere Reaktionen, Fragen und so was, wenn du es erst mal uns erzählst. Du hast ja gesagt, an der eigentlichen Bedeutungsanalyse knusperst du noch rum – dann ist es doch von Nutzen für dich, wenn du uns alle hier an Bord rekrutieren kannst durch diese Präsentation. Außerdem hab ich zu deinen Vortragsfähigkeiten das größte Vertrauen. Falls du dich erinnerst, ich habe dich erlebt, wie du dein Buch vorgestellt hast, in Konstanz damals …«
Christian macht ein mürrisches Geräusch, halb scherzhaft, und fällt ihr ins Wort. »Ja, mit Perücke warst du da, thank you very much …« Sie stellt das Glas ab, neigt ihren Kopf vor ihm, um sich zu entschuldigen, und sagt: »War albern, da hast du recht.«
Dann sieht sie ihn direkt an und fragt rundheraus: »Willst du’s machen? Sagen wir, in einer Woche?« Er verzieht das Gesicht, als habe ihn jemand in die Ferse gezwickt. Aber dann wird ihm klar, dass das kokett ist, denn er weiß, wie man Vorträge hält, und er weiß, dass er seine Forschung für neue Ideen öffnen muss, weil er sich sonst in Sackgassen denkt.
So sagt er: »Okay. Ja. Gern sogar.«
Liz klopft anerkennend auf den Tisch. Andrej, Kanbara, Aiguo schließen sich an, dann auch Filipa, der die Sitte unbekannt war, und endlich Meinhard, der sie von der Bundeswehrschule her zwar kennt, aber etwas länger braucht, um wieder einmal zu begreifen, dass er wirklich zu diesen Leuten gehört, dass sie ihn annehmen und auf seine Meinung Wert legen. Jetzt ist es Christian, der den Kopf senkt: Zu viel der Ehre, soll das sagen, aber in Wirklichkeit hat er schon damit begonnen, sich zu überlegen, wie er seine Zwischenergebnisse und die Verfahren, die er genutzt hat, um zu ihnen zu gelangen, möglichst leicht nachvollziehbar darstellen kann.
Die Tage bis zum Vortrag geht Christian am Terminal und in den paar Büchern, die er mitnehmen konnte, alles immer wieder durch, findet sogar Neues, glättet und ordnet seine Notizen und sieht, was er schon kennt, noch einmal mit anderen Augen. Zur gleichen Zeit erforscht, was er so wenig weiß wie irgendjemand sonst an Bord, Liz ein anderes, ein nicht weniger rätselhaftes Problem, nämlich ein politisches: Sie malt Diagramme, sie setzt Fragezeichen neben Cordulas Namen, sie runzelt die Stirn. Und auch Andrej Sirilko ist nicht untätig: Der Physiker sitzt jetzt abends oder morgens oft als Letzter oder Erster an der Bar im Restaurant, mit Zetteln, auf die er Dinge schreibt wie:
|ε| < 1/n for all n = 1, 2, 3 …
|ω| > n for all n = 1, 2, 3 …
1/ω ← nonzero infinitesimal
Diff? Large? Small? Both? Neither?
So vergehen die Tage. So knospen, blühen und sterben Gedanken.
Als Christian, der Vortragende, eine großzügig bemessene halbe Stunde vor Präsentationsbeginn durch die Trommelzugangspassage in den saalartig langen, bogenförmig gekrümmten Brückenraum eintaucht, begrüßt ihn dort, wie immer am Stehpult, mit freundlichem Nicken der Kapitän, der meistens hier ist, nie länger als sechs Stunden schläft und nur sehr selten akzeptiert, dass ihn andere, etwa Andrej Sirilko oder seine offizielle erste Offizierin Gabriele Reinhard, länger als einen Tag ablösen. Ungefähr zwanzig Technikerinnen und Techniker sitzen an ihren Konsolen.
Für Gäste, heute wohl die alte, von Cordula Späth ausgewählte Kerngruppe, ist eine Art Loungenische in dezent blauem Quasisamt eingerichtet, angeordnet um einen Konferenztisch, an dessen Kopfende ein bequemer Bürostuhl steht, auf dem Christian während der Präsentation sitzen soll. Jetzt sitzt da Cordula, tippt sich mit zwei Fingern der Rechten an den Rand eines imaginären Cowboyhuts, um Christian willkommen zu heißen, und sagt dann: »Na, Professor? Nervös?«
Er hat einen Folder mit Papieren unterm Arm und einen Stick in der Hand, die legt er erst einmal auf dem Gästesofa ab, setzt sich dazu und sagt dann: »Ach, es geht. Der Port für den Stick ist …?«
»Hier«, sagt Cordula und deutet auf die Berührbildschirmfelder im Glastisch, dann sagt sie: »Ich möchte mich noch mal ausdrücklich entschuldigen für den Überfall, es war natürlich ein bisschen deflection, weil du mich mit dieser heiklen Militärsache so in die Enge getrieben hattest. Wenn du sagen willst: Cola, du bist eine fiese Macchiavellistin, dann sag das.«
»So was würde ich nie sagen«, erwidert Christian ruhig, »schon weil ich diesen Spitznamen irgendwie … inappropriate finde. Ich bin eh nie ein Freund von Spitznamen gewesen, schon wenn mein Bruder immer wollte, dass man mich ›Chris‹ nennt, da habe ich dann nie hingehört, aus Prinzip.«
Cordula freut sich: »Du wirst dich mit Alex Burkhard verstehen, die zwar wahrscheinlich immer noch nix dagegen hat, Alex statt Alexandra zu heißen, aber dafür irgendwann ziemlich deutlich klargestellt hat, dass sie nicht Luzi heißen möchte, obwohl der Mensch, der ihr diesen Namen angehängt hat, immerhin der war, den sie auf der Welt am allermeisten liebte. Dein Vater.«
Christian schüttelt langsam den Kopf: »Luzi. Er hat mir mal erklärt, warum. Hab’s vergessen, leider.« Cordula macht ein kaum hörbares Geräusch, etwas zwischen Seufzen und sehr leisem Lachen, dann sagt sie: »Sie hat’s mir auch erzählt, am Rande einer … sehr schönen Party.« Wieder einmal bemerkt Christian den eigentümlichen Tonfall, den ihre Stimme annimmt, wenn sie ihm etwas von seiner Patentante berichtet, eine eigenartige, melancholische Farbe, nach der er sie eines Tages zu fragen sich längst vorgenommen hat. Stattdessen fragt er: »Und was hat sie gesagt?«
Cordula lächelt, nickt langsam und sagt: »Das war schon eine ganz besondere Liebesgeschichte. Einerseits sehr Rock ’n’ Roll – der angehende Bohemien aus gutem Haus und die christliche Streberin aus der Kleinbürgerfamilie –, bisschen wie so ein Musical, aber eben auch mit viel angespanntem Pathos, eine Spur Romeo und Julia. Sie hatte vorher nur eine ganz harmlose Verknallgeschichte mit einem anderen Jungen, und Jochen war nach dem Maßstab, der an so ’ner Schule damals galt, eher erfahren, hatte schon drei Freundinnen gehabt, was heißt Freundinnen, man sagte da ja so was wie: Die geht mit dem. Alles sehr früh, vierzehn, fünfzehn, dein Vater war vielleicht ein paar Wochen älter als sie, nicht mehr, wenn ich mich da nicht falsch erinnere. Oder war er jünger? Hab’s vergessen. Jedenfalls … sie waren nicht einfach das Actionpaar, als das sie dann später so vielen Leuten, auch mir, imponiert haben, als die jungen Szenemenschen im Underground und bei den Politischen und immer überall, wo was los war, sondern sie waren auch sehr vertraut miteinander.«
Christian weiß, dass er eigentlich nicht berechtigt ist, diese Erzählung anzuzweifeln, aber er hat doch einen Einwand: »Na ja, aber das mit meiner Mutter, also dass er dann noch eine andere Christin …«
Sie wedelt mit der Hand wie mit einem Fächer: »Nee, warte, lass doch, weiß ich doch alles, er war eben ein Heinz. Kein böser Depp, aber schon ein Depp – davon will ich ja gerade erzählen, dass das selbst in dieser Vertrautheit immer mal durchschlagen musste, und zwar … also, eine Zeitlang war es ja so, dass ihre Eltern sie kaum noch aus dem Haus lassen wollten, vor allem ihr Vater, der ja der Strenge war bei den Burkhards, der wusste zwar nie, dass sie da schon in Kneipen geht – damals hieß das in Südwestdeutschland noch Kneipen, nicht Clubs – und auf Konzerte und so, in größere Städte, aber sie war ihm halt abends dann immer zu lange weg, und da hat er – da war es noch nicht so weit, dass sie ihn gar nicht mehr sehen durfte, dass sie sich trennen sollte, das kam erst mit dem Skandal, mit dem Kind mit der anderen, mit dir also –, nein, aber sie sollte nicht mehr mit ihm ausgehen, und ihr Vater hat sogar gesagt: Ihr könnt euch hier treffen, in unserer Wohnung, und dann werden wir mal sehen, ob er noch dein Freund bleiben will, da testen wir mal seine Ernsthaftigkeit, und implizit war da natürlich, Sex gibt’s in dieser Wohnung keinen, ich oder deine Mutter sind immer nebenan, also benehmt euch, und da er ja eh nur das eine von dir will, wird er dann bald abhauen, dann habe ich dich vor einem Jungen gerettet, der dich gar nicht wert ist.«
»Nur ist er dann nicht abgehauen«, sagt Christian.
Cordula lacht: »Oh, im Gegenteil. Viel von Liebe kann er nicht verstanden haben, der christliche Papa. Sonst hätte er gewusst, wie sexy das sein kann, nicht dürfen, und wie sexy das erst ist, über alles andere reden können, in dem Zimmer, das Alexandra seit Kindertagen bewohnt hat, auf ihrem Bett, über die Vergangenheit, die Zukunft, die Träume und Pläne, immer schön angezogen dabei. Er war fast jeden Abend da, monatelang, immer schön guten Tag sagen beim Papa oder der Mama …«
»Ich seh’s vor mir«, sagt Christian, der jetzt auch lächeln muss.
Cordula erwidert: »Wenn du als Sprachwissenschaftler so gut bist wie als Hellseher, dann knackst du die Neptunbotschaft mit Sicherheit. Mit den beiden war’s dann so … dass sie wollte, dass er von ihren Kinderträumen weiß, von dem Mädchen, das sie vorher war, hat sie mir nicht nur erzählt, sondern bei so einer Gelegenheit, als sie ihm nämlich was gezeigt hat, das sie vor der Begegnung mit ihm gemacht hat, ist der Spitzname, ja, wie soll man sagen? Passiert? Sie hat nämlich immer gern gemalt und gezeichnet, und zwar war das dann alles, ihre ganzen Bilder … sie hat das, so ging die Geschichte, unterm Bett in einer großen Kiste aufbewahrt, ein riesiges Frühwerkarchiv, vom Kindergarten bis in die Gymnasialzeit, vom Kunstunterricht bis zu Freizeithervorbringungen, und da war nun dieses eine Bild dabei, das hat sie … sie war sieben oder acht, höchstens, so hat sie mir das erzählt, und dieses Bild, das muss riesig gewesen sein, A1, ein Karton, und in Wachskreide, bunt, das war davor ihr Hauptwandschmuck gewesen, also als Kind, meine ich, später ersetzt durch die üblichen Pferde und Harlekins wohl, und zu der Zeit, als sie das Bild dann da unten hervorgeholt und ihm gezeigt hat, war es natürlich schon verdrängt von Postern, damals wohl noch Bowie, The Cure, Black Flag und Bauhaus und so was, später dann Sonic Youth und Fugazi, diese Schiene … und sie holt also das Bild raus und sagt: Das ist mein liebstes. Eine Totale, würde man beim Film sagen, Breitwand. Da waren ein paar krumme Häuser drauf, eine Wiese, Menschen und Tiere, Türme sogar, Berge, aber das Wichtige war oben, nämlich das Wesen im selbsterfundenen Raumanzug, schwebend, hoch, sehr, sehr hoch über der Erde, im All, umgeben von Raumkapseln, Satelliten, Kometen, Sternen, Sonne, Mond. Und er … ich meine …« Sie schließt die Augen, zieht die Stirne kraus, als hätte sie einen kurzen Migräneanfall, dann öffnet sie die Augen weit und sagt: »Dieser Idiot! Mit seinem schwachsinnigen Pop- und Rockmusik-Expertenhirn! Dieser … Hipster, dieser … was sagt er? Ah, Lucy in the Sky with Diamonds! Und sie sagt: Das sind doch keine diamonds, das sind Satelliten und Raketen. Sie will ihm sagen, hör mal, nimm das ernst, ich wollte Astronautin werden, wo andere Mädchen alle irgendwas mit Tieren oder … meine Güte. Echt. Sie hat mir erzählt, wie hilflos sie sich da gefühlt hat, dass sie ihm auch noch den Hinweis vorgesagt hat: Das da mit dem Helm, das bin ich. Und da guckt er sie an, weil er gemerkt hat, sie ist da empfindlich, bei dem Thema, bei dem Bild, und macht so einen neckischen Witz, der die Situation entschärfen soll, und sagt: Ach, die Lucy bist du? Du bist die Lucy? Ja, dann ist ja klar, dass die Beatles darüber gleich einen Song machen müssen, ich mein, wenn ich Songs schreiben könnte, ich würde ja auch sofort einen über dich schreiben.«
»Oh, boy. What a … sheesh, what a loser«, sagt Christian, und Cordula stimmt zu: »Das Schlimmste ist, er hat es charmant gemeint, und sie war zu stolz, ihm klipp und klar zu sagen, wie sehr es sie gekränkt hat, und spielte stattdessen mit, so à la, ja, jetzt kennst du mich, also, ich bin die Lucy, angenehm. Und so blieb das dann hängen, und … tja, das ist die ganze dumme Geschichte.«
»Was für ’ne dumme Geschichte? Was geht, ihr zwei?« Das ist Filipa, die eben durch den Ringkorridor in den Saal kommt und sofort festen Tritt fasst. Das Hin und Her zwischen Schwerkraft und Schwerelosigkeit bereitet niemandem an Bord weniger Schwierigkeiten als ihr. Anstatt eine Antwort von Cordula oder Christian abzuwarten, macht sie Platz im Aus- und Eingang für Meinhard und staunt über die Nahaufnahme der MICHAEL VALENTINE SMITH auf dem riesigen, gekrümmten Schirm hinter der Sofareihe, flankiert vom rechten und linken Geviert der sonstigen Außenkamera-Aufnahmen.
Als Filipa das letzte Mal hier auf der Brücke war, konnte man die SMITH nur ahnen, zu erkennen gewesen war da nichts als ein blauweißer Punkt, grauweiß das Schiff, blau der Antrieb. Jetzt, da es sich wirklich nur noch um wenige Wochen handelt, die man warten muss, ist die Auflösung so stark, dass Filipa meint, sogar die Sendeantenne erkennen zu können, die Max und ihrer Freundin Liz über Monate ihre häufigen Turtelgespräche über riesige Distanzen erlaubt hat.
Cordula begrüßt die beiden Deutschen mit einer lässigen Geste der Hand und steht auf, um sich aufs Quasisofa zu setzen, wo jene gerade Platz nehmen und Christian schon nicht mehr sitzt, weil der jetzt im Stehen, zwischen Glastisch und Bürostuhl, anfängt, sein Material durchzusehen, zu ordnen und, nach kurzem Nicken Richtung Filipa und Meinhard, sich flüsternd, mit dem Rücken zur großen Bildschirmwand, selbst daran zu erinnern, was er zu sagen hat.
Bald gesellen sich Andrej und Kanbara dazu.
Der Japaner ist erkennbar verunsichert, weil die gesamte übrige Besatzung dem Vortrag an Konsolen, wie hier im Saal, oder auf den Sichtwänden folgen wird, selbst denen, die sonst Kunst zeigen, während er das seiner Ansicht nach ganz unverdiente Privileg genießt, am selben Ort Christian Winsecks Gedanken zu folgen, an dem er sie überhaupt erst entwickeln wird. Kanbara hat schon vergessen, dass er auch dabei war und eine nicht nebensächliche Anregung dazu gegeben hat, dass diese Gedankenarbeit sich überhaupt zur öffentlichen wandeln kann. Genau zwei Minuten vor dem angekündigten Beginn der Ausführungen des Sprachwissenschaftlers verlässt Aiguo Sun seinen Posten am Pult und salutiert etwas nachlässig Shen Yau, dem Techniker, der für die Dauer von Christians Präsentation die Aufgaben des Kapitäns übernehmen wird (seine deutsche Stellvertreterin ist nach einer langen Nachtschicht in ihrer Kabine und schläft). Als Cordula noch mal beiseiterückt, um dem Chinesen Platz zu machen, wird Christian für einen Moment etwas beklommen, weil ihm der Kapitän, der ihn ja schließlich auch hören könnte, wenn er seine Pultposition nicht räumen würde, einer solchen Respektsbezeugung für wert hält. Er lässt sich von dieser Unsicherheit kurz überspülen wie von einer kalten Welle, dann fließt sie ab, und er steht da wie jemand, der sehr oft Vorträge wie den geplanten gehalten hat. Er fängt an: »Guten Tag, schön, dass der Kapitän und Cordula Späth mir diese Gelegenheit geben, ein paar Worte über einen … sehr eigenartigen Text zu sagen. Fast alle an Bord haben von diesem Text gehört. Wir nehmen an, Alexandra Burkhard, unter deren Befehl eine sowjetisch-ostdeutsche Weltraummission, die ursprünglich das Sonnensystem verlassen sollte, vor fast dreißig Jahren am Neptun haltgemacht hat und dort wohl auf eine Umlaufbahn um den Riesenplaneten eingeschwenkt ist, hat diesen Text zur Erde gesandt. Was drinsteht, weiß auch von denen hier, die ihn schon einmal gesehen haben, wenigstens in Auszügen, kaum jemand – und eins will ich gleich klarstellen: Obwohl ich mich mit diesem Text jetzt seit Jahren beschäftige, ihn etwa zwanzigmal komplett gelesen und davon etwa fünfzehnmal regelrecht bis ins Kleinste studiert habe, weiß auch ich im Grunde immer noch nicht, was drinsteht.«
Christian wirft mit einer Handbewegung zwei nebeneinandergelegte Seiten aus dem Burkhard-Text auf die in diesen Tisch integrierten Schirme, über die sich die Anwesenden sofort aufmerksam beugen, und auf Hunderte ähnlicher Schnittstellen im ganzen Schiff.
Was man da lesen kann, liest sich zwei Seiten lang so wie der erste Absatz:
angeschaut unter dem besondern aspekt dass eine handlung ein ereignis oder ein gedanke jenn isoliert vorkommen sondern nur bezogen auf andere handlungen ereignisse gedanken diV das sortieren der welt durch die welt lehrte die shrikhandesie kann man in der stetwelt als »*« erleben beschreiben bearbeiten konV in spiralförmiger bewegung als entschlossen ausgriff von den ersten grundlegenden axiomen her entdeckte amata hebthing hochthing dass das keineswegs schwer umzusetzende zerebrale regeln ° pour soumettre le travail au contrôle technique sondern verbindliche dabei elastische parameter auch des ästhetischen ja der sozialen choreographie in betrieben wie aubert halt »Macht die Fehler der Leitung nicht zur Ausrede für eigenes Versagen« oder »Nur weil euer Chef mit euch Sex hat, heißt das nicht, dass ihr ihn nicht auch für euch arbeiten lassen könnt« diV im tagebuch kam für dies alles ein neues wort dazu »spielchen« das gegenteil auch aber neueste kleid von VQSV konV
Christian gibt seinem Publikum ein paar Minuten, sich die volle Schwierigkeit selbst der einfachsten sinnerfassenden Lektüre klarzumachen. Dann setzt er neu an: »Dieser Text hat keinen Titel. Er umfasst etwa fünfhunderttausend Zeichen, Leerzeichen und, nun ja, Satzzeichen mitgerechnet, falls man hier von Satzzeichen reden kann. Der Großteil des Wortbestandes ist – oder vielleicht sollte ich das vorsichtiger sagen: scheint – deutsch. Viel Englisch, etwas Französisch, Italienisch, aber das alles eher so, wie ein Fremdwort oder auch ein berufsbezogener Fachausdruck, manchmal als ganze Wendung, in einen deutschen Satz aufgenommen werden kann. Wir haben hier ja eine mehrsprachige Gemeinschaft an Bord, diese Art von Sprachenmischung, auch wenn jemand etwa eigentlich deutsch redet und dann aber ein spezifisches Wort nicht weiß, es fällt der Person gerade nicht ein, oder sie kennt es gar nicht, dann sagt man eben das chinesische oder im Fall von Liz das englische oder bei Andrej hier auch mal, sehr selten, das russische Wort, und dann geht es normal weiter – dass es hier, in dem Text, über den ich reden will, so ein ›normal weitergehen‹ gibt, darf ich behaupten, weil ich computerlinguistische Häufigkeitsanalysen vorgenommen habe, die rein zahlenmäßig belegen, dass es so etwas wie ein statistisches Mittel, einen oberen und mittleren Teil der Gaußkurve, ein Durchschnittsvokabular darin gibt, und das stammt der Lexik nach einfach aus dem Deutschen, und zwar, auch keine Kleinigkeit, die man etwa vernachlässigen sollte, aus dem Deutschen der Gegenwart.«
Er hört sich das sagen und merkt, dass bei diesem Thema wirklich nichts selbstverständlich ist. »Ich habe diese Wörterzählerei als Erstes abgehakt, diese Arbeitsweise, mit der zum Beispiel die forensische Linguistik heute versucht, die Urheberschaft von kriminalistisch relevanten Äußerungen, etwa Erpresserbriefen, dingfest zu machen, oder die Philologie sowohl bei Klassikern wie bei zeitgenössischer Literatur bestimmte Muster ermittelt, so dass man dann weiß, James Joyce hat auf hunderttausend Wörter eintausendeinhundertfünfmal ein Ausrufezeichen gesetzt, Hemingway bei derselben Wortmenge aber nur neunundvierzig Ausrufezeichen, oder … was sind die Lieblingswörter von Agatha Christie – das sind übrigens ›inquest‹, ›alibi‹ und ›frightful‹, und bevor du nachfragst, Cordula, weil du siehst so aus, ja, diese drei Beispiele sind echt, ich habe sie mir gemerkt, weil sie schon in meinem Buch stehen und ich die Stelle oft vortragen musste. Ich möchte übrigens drum bitten, die Fragen tatsächlich erst mal alle hintanzustellen, ich muss mich ziemlich konzentrieren, um in der angesetzten Stunde halbwegs durch das Material zu kommen. Also, ich habe schon angedeutet, die Abzählgeschichte, das ist der unkomplizierte Teil, und man kann dann schon Blöcke bilden, Tabellen aufstellen, wenn man so was für Wissenschaft halten will, ein bisschen habe ich das auch gemacht, aber das meiste, was dabei herauskam, führt nicht sehr weit – es wird sozusagen, wenn ich da irgendwann mal ein Paper draus mache, das dann alle lesen können, höchstens für Fußnoten taugen, während der interessanteste Befund in Sachen Wörterfrequenzen nicht der war, wie oft bestimmte Wörter vorkommen, sondern dass zwei fehlen, zwei der wichtigsten Hilfsverben im Deutschen überhaupt nämlich: Es gibt in diesem ganzen Text weder ›haben‹ noch ›sein‹ in irgendeiner Form, kein ›hat‹, kein ›sind‹, nichts davon. Und da wird es nun interessant. Was ist mit diesen Verben? Das interessiert jemanden, der aus der Schule der Linguistik kommt, in deren Denkrahmen ich meine ersten Versuche gemacht habe, das Sprechen und Schreiben zu verstehen – es ist die Lehre von den Syntaxstrukturen, die der Franzose Lucien Tesnière entwickelt hat und von der ich mich aus, ich will fast sagen philosophischen Gründen dann doch auch wieder sehr weit entfernt habe, aber was ich immer noch für richtig halte, ist seine Idee der Dependenz – dass Satzteile voneinander in einer bestimmten Weise abhängig sind, das heißt, der Satz: ›Christian redet‹ hat nicht nur zwei Elemente, sondern drei, nämlich das Subjekt, das Prädikat und dann aber noch die Beziehung, in der diese beiden Wörter zueinander stehen und die Tesnière ursprünglich Konnexion genannt hat, Verbundenheit, und dann ist diese Konnexion aber eine Konkomitanz, etwas, das man als gemeinsames Vorkommen in einer Bedeutungsordnung sehen muss, und für Tesnière außerdem eine Dependenz, eine Abhängigkeit derart, dass bei ihm das Verb, sozusagen der Motor des Satzes, verschiedene Ergänzungen haben kann, wie er das nennt, das heißt, es kann ein Subjekt geben, hier Christian, und wir können uns auch ein Objekt dazu denken, etwa, wenn wir den Satz zu ›Christian redet Unsinn‹ ergänzen. Nicht jede Ergänzung ist gleichwertig, weder logisch noch syntaktisch, aber Tesnière hat uns den schönen Vergleich hinterlassen, dass das Verb sozusagen ein Vorgang ist wie ein kleines Schauspiel, es stellt etwas dar, einen Vorgang oder auch nur einen statischen Zustand – es gibt ja zum Beispiel im absurden Theater auch Schauspiele, die wirklich nur einen Zustand abbilden, in dem dann gewissermaßen nichts passiert –, und die Ergänzungen, das sind die Schauspieler, weswegen Tesnière sie auch ›Aktanten‹ nennt, nach dem französischen Wort für Schauspieler, ›acteur‹. Das Verb hat dann sozusagen unterschiedlich viele Stellen frei für solche Ergänzungen, solche acteurs, und wie viele und welcher Art sie jeweils sind, bestimmt in einem gewissen Sinn seinen syntaktischen Wert oder, wie Tesnière zu sagen pflegte, seine Valenz. In dieser Art habe ich mir dieses Drama hier angeschaut, und weil aber die Valenzverteilung und die Stemmata – das sind so kleine Diagramme, die Tesnière uns, seine Schülerinnen und Schüler, zu zeichnen gelehrt hat, die also die Konkomitanz zu begreifen helfen, die kleine dramatische Welt um das strukturelle Zentrum des Verbs – mir bald zeigten, dass es hier eben nicht so zugeht wie da, wo man mit Tesnières Denkweise versucht, etwa die Beschaffenheit des Deutschen oder des Dänischen oder irgendeines Dialekts zu begreifen, sondern dass sich diese Regeln hier – wenn man mal sagt: Regel ist der Ausdruck dafür, dass wir nicht nur bestimmte Häufungen, Regelmäßigkeiten erkennen können, sondern dass dahinter tatsächlich etwas stecken muss, ein Sprachgebrauch etwa – sogar ändern im Verlauf der fünfhunderttausend Zeichen Text, und zwar, das ist der Punkt … sie ändern sich, wie ich erst irgendwann intuitiv merkte und dann tatsächlich noch mal von meinen Erbsenzählerprogrammen nachrechnen ließ, die ich eigentlich schon erschöpft glaubte, ich meine, ich dachte … also, plötzlich fiel mir ein: Was, wenn das ein literarischer Text … also: Was will uns der Dichter damit sagen? Ich weiß nicht, ob es bekannt ist, aber es gibt, das heißt, es gab vor allem im zwanzigsten Jahrhundert eine Menge Schulen der Interpretation von literarischen Texten, die von dieser Frage nichts mehr wissen wollten, die das für überholt hielten, New Criticism, Strukturalismus … und inmitten dieser Diskussion haben dann manche Schriftstellerinnen sozusagen stark aufgerüstet, nämlich ihre eigenen Regeln und Metaregeln komplizierter gemacht, vor allem überhaupt erst mal zum Thema, zur wichtigen Zentralfrage ihrer Arbeit gemacht, und bei diesem Ding hier«, er klopft auf sein eigenes Bildschirmglas, auf den Text, »dachte ich immer wieder vor allem an eine französische Gruppe von Leuten, die literarische Texte auf eine sehr eigensinnige Art verfasst haben. Diese Gruppe hieß Oulipo, eine Abkürzung für ›ouvroir de littérature potentielle‹, so was wie: Workshop für potentielle Literatur, Werkstatt, Entschuldigung, ein Netzwerk, entstanden aus dem Nukleus eines Treffens von zehn Personen – Dichtern, Mathematikern und anderen Gelehrten, zusammengerufen von Raymond Queneau und François Le Lionnais, die haben sich das erste Mal 1960 getroffen, man unterhielt sich über spielerische und kalkulierte Erzeugungsweisen von Poesie. Schon 1947 hatte Queneau sich in seinen Exercices de style, also Stilübungen, mit diesen Dingen befasst: Eine Geschichte wird da auf neunundneunzig Arten erzählt, wobei Arten dabei zum Beispiel sensorische Perspektivik, so was wie: nach Geruchssinn geordnet, aber auch rhetorische Figuren wie Litotes und so weiter meint. 1961, im ersten Jahr von Oulipo, veröffentlichte er …«
Er blickt kurz in die Runde und erkennt, dass man ihm nicht mehr zuhört. Es liegt aber nicht an dem, was er sagt, und auch nicht daran, wie er es sagt, sondern an etwas anderem.
An Filipas Blick rutscht seiner zuerst ab. Sie schaut neben ihn, hinter ihn. Er versucht zu verstehen wohin, ach, nein, über ihn. Sie öffnet den Mund, will etwas sagen, kann es aber aus irgendeinem Grund nicht, stößt mit der linken Schulter dann Meinhard an, der neben ihr sitzt, bereits gesehen hat, was sie ihm zeigen will. Seine Augen sind geweitet, so dass Christian, der zugleich ein, zwei unterdrückte Überraschungs- und Schreckenslaute von den Konsolen her registriert, sich schon umdrehen will. Da springt Liz auf und ruft: »What! What? What is that? What the FUCK is happening? Cordula?«
Sie schaut die Frau nicht an, deren Namen sie jetzt mehr schreit als ruft. Die ist schon aufgestanden, rutscht mühelos zwischen Tisch und Aiguo Suns Knien hindurch und eilt zum Pult, wo sonst der Kapitänsposten ist, wo, wie Christian, völlig aus der Rede und jedem anderen sinnvollen Verhalten geworfen, verwirrt erkennt, der offenbar unter Schock stehende Shen Yau beiseitetritt wie eine mechanische Puppe und ihr den Platz einräumt, an dem sie sofort die Tastfelder zu bedienen beginnt, als hätte sie nie etwas anderes getan, als wäre das ihr wahrer Job und Aiguo Suns Kapitänsstellung von Anfang an nichts als eine kindische Scharade gewesen.
»FUCK! WHAT’S HAPPENING?«, schreit Liz, und jetzt ist auch Filipa aufgestanden und versucht, der Freundin den linken Arm um die Schulter zu legen. Liz wirkt ganz abwesend, als sie sich entzieht und nun versucht, über Aiguo zu klettern, dann aber von Meinhard, der mit grimmigem Gesichtsausdruck ebenfalls in die Richtung schaut, in die alle starren, festgehalten wird. Ein Gerangel beginnt. Christian verfolgt es nicht weiter, sondern dreht sich endlich um und sieht auf dem Bildschirm die Katastrophe: Der vertraute gestreckte Keil der VALENTINE MICHAEL SMITH zerbricht – nein, denkt Christian, es ist das falsche Wort, und dann englisch: it’s breaking up, but the thing is, it’s not breaking up in any sense I can recognize, und dann verabschieden sich die Wörter ganz aus Christians Kopf, können nichts mehr sagen zur Sicht auf das, was ihm der Schirm in der Mitte und dann aus anderen Winkeln, durch Cordulas Fingertippen und -streichen übers Tastfeld von anderen Kameras abgefragt, auch die anderen Schnittstellenfenster zeigen.
Die Kegelspitze der SMITH scheint nach innen gesogen. Der Rand des Lochs, das da ist, wo sie war, glüht merkwürdig, die schweren metallischen Platten darunter blättern ab wie schlechter Lack. Was tun sie? Brennen? Flöge alles auseinander, wäre das eine Explosion, und bräche es zusammen, knickte ineinander wie eben die Spitze, wäre es eine Implosion. Aber man kann gar nicht erkennen, ob hier ein Auseinander oder ein Ineinader stattfindet. Die Teile, Flächen, Bögen, Röhren sinken und drehen sich widereinander, beieinander, durcheinander, dass es den Augen und dem Verstand wehtut: Metall, das leuchtet und zerreißt und sich verbiegt, während das Antriebssystem im selben Moment zur blaugleißenden Großkugel anschwillt, fast zweimal so groß wie das Schiff schließlich, und dann einfach zerplatzt, blendend, dass sich die Menschen im Raum die Hände vor Augen halten oder die Augen schließen.
Christian blinzelt hilflos und von schrecklicher Angst erfasst. Er hört Liz schreien: »NO!«
Ihm ist, als hätte ihn ein körperlicher Hieb gegen die Stirn getroffen, dann, als sich seine Augen wieder dem Licht anpassen, erkennt er, dass auf dem Zentralschirm kein Schiff mehr ist, sondern nur ein zerrupftes Skelett, von dem Teile wegplatzen, davonfliegen durch die Schwärze. Den Kopf einen Augenblick lang wie geistesabwesend wieder in Richtung seiner irdischen Schicksalsgemeinschaft gewendet, sieht Christian, wie Meinhard, die beiden starken Arme eng und fest um den Oberkörper der Amerikanerin geschlungen, mit »Schh!« und kurzen, für Christian unhörbaren Worten auf sie einwirkt, damit sie, deren weitgeöffnete Augen in Tränen schwimmen, nicht zusammenbricht oder um sich schlägt.
Liz kämpft mit ihm, aber Christian ahnt, dass sie den Deutschen dabei gar nicht meint, vielleicht nicht einmal weiß, wer er ist, dass er neben ihr steht, dass er sie festhält: In diesem Zustand hat Christian noch nie einen Menschen gesehen. Ihm fällt, wie bei fast allem, was gerade um ihn her geschieht, nicht ein, wie man das nennen soll.
Christian wirft einen Seitenblick auf Cordula, die jetzt ein Headset aufhat und halblaut, mit angespannten Gesichtszügen, ohne jede Spur der Ironie, die er als ihre natürliche Haltung kennt, sondern konzentrierter, als er je einen Menschen sprechen und arbeiten gesehen hat, wohl irgendwem irgendwelche Befehle gibt – »Jinji qingkuaaan …«, irgendetwas, das er nicht versteht, wahrscheinlich, denkt er, auf Chinesisch.
Er wendet sich gerade wieder dem großen Mehrfelderschirm zu. Da verändert sich das, was alle sehen, und zeigt statt der Ereignisse im Leerraum ein Gesicht. Überraschtes Aufseufzen, Ächzen im Saal sind die ersten, unwillkürlichen Folgen. Dann beginnt das Gesicht zu sprechen.