Kaum hat der Mann in Uniform seine Mitteilung beendet, erscheinen auf allen Schirmen der PODKAYNE FRIES Menüs zu den Anhängen, die er mitgeschickt hat. Als Cordulas rechte Hand sich dem Tastfeld nähert, ruft Andrej Sirilko: »Halt! Was ist, wenn Viren …«
Liz lässt ihn nicht ausreden – Christian und die andern im Saal erschrecken darüber, wie schnell sich diese Frau wieder in der Gewalt hat, und Meinhard, der Liz immer noch festhält, lockert seinen Griff, als sie sagt: »Bullshit! Wir sterben, wenn wir das Schiff nicht schützen können.«
»Aber wenn Viren …«, wiederholt halbherzig Andrej, der inzwischen aufgestanden ist, von Aiguo Sun aber nicht vorbeigelassen wird, weil der im Sitzen damit beschäftigt ist, auf dem Glas vor sich die Optionen der Menüs zu lesen. Erneut lässt Liz den Russen nicht ausreden: »Fuck that. Sie haben unsere Anlage gehackt. Sie haben die SMITH gesprengt. Wenn die uns verseuchen wollen, sind wir schon verseucht. Now stop squabbling and get to work. Let me go«, zu Meinhard, der sie tatsächlich loslässt, »I gotta get to a console down there. And you better get your act together, too, big man. We need every functioning brain«, weist sie Andrej zurecht, während Christian, der noch immer in seiner absurden Vortragshaltung dasteht, leise sagt: »We’re gonna die. Sweet Jesus, we’re all going to die here.«
»Ihr vielleicht. Ich nicht«, sagt Cordula Späth und nickt Liz zu sowie einem der deutschen Techniker an einer der Konsolen, weil diese beiden gerade versucht haben, sich mit möglichst wenig Worten darüber zu einigen, ob er ihr seinen Platz überlassen soll oder nicht. Cordulas Zeichen ist eindeutig, der Mann räumt die Position. Liz setzt sich und beginnt mit der Arbeit. Was Cordula, der er sich nähert, als Nächstes sagt, hört nur Christian. Er wird es sich lange merken, und erst sehr viel später, nach großen Verlusten, von Reue beladen, wird er klar verstehen, was es bedeutet: »Ich sterbe hier nicht. Ich sterbe nach ganz anderen Geschichten. Nicht in dieser Bernsteinik.«
Hilfloser und dümmer als in den folgenden neun Stunden hat sich Christian Winseck in seinem ganzen Leben noch nicht gefühlt. Er kann nichts beitragen zu den Debatten darüber, ob man die Rotation der vier Reifen einstellen, verlangsamen oder beschleunigen soll (werden Trümmer, die den rotierenden Reifen treffen, sofort vom Schiff weggeschleudert? Erhöht Rotation das Risiko, dass die FRIES getroffen wird? Er weiß es nicht, er kann es sich weder anschaulich vorstellen noch eine Gleichung beitragen, geschweige ausrechnen), nichts zur Flugbahnfrage, nichts zu den Evakuierungen oder zum »Umräumen«, wie Cordula Späth die sofort eingeleiteten Maßnahmen zur »möglichst redundanten Verteilung von Nutzlasten und Personal« (Meinhard Budde) nennt, während ihr Leibwächter wenigstens etwas von Logistik und Befehlsketten versteht, weswegen er auch sofort die Leitung der Maßnahmen übernimmt, die auf die von Cordula, Aiguo, Andrej und den diesen direkt unterstellten Technikerinnen und Technikern geführten knappen, sachlichen und technischen Diskussionen folgen.
Christian ist »unskilled labor«, wofür er nicht einmal den deutschen Ausdruck kennt. Eine Deutsche, mit der er arbeitet, übersetzt: »Hilfsarbeiter, nehme ich an«, und zuckt mit den Schultern. Er denkt: Hilfsarbeiter, das hätte meinem Vater gefallen, dem Millionär. Beim Festziehen der Schrauben der Verdecke für die Kabel, beim Schieben von Saatgutsäcken durch die Korridore der Schwerelosigkeit, die zwar nicht am Boden schleifen, aber doch Masse haben und also Muskelkraft beanspruchen, wenn man sie bewegen will, beim Geradehalten des unteren Teils eines Schweißbrenners, mit dem ein Chinese, dem Christian von Meinhard als Assistent zugeteilt wurde, eine Tür versiegelt, denkt der Sprachwissenschaftler: Ich glaube, ich habe noch nie jemandem genützt.
Im schnellen Mikrogravitationsflug durch Korridore, im gestreckten, durch Abstoßung von oben beschleunigten Fall als Rekrut bei Umrüstungs- und Evakuationsteams von zwei bis fünf Personen beobachtet er andere, von denen er weiß, dass sie ebenfalls wenig Intellektuelles zu den eiligen Rettungs- und Einschlagsvorbereitungsarbeiten beitragen können. Filipa zum Beispiel engagiert sich effizient bei der »medizinischen Aufrüstung«, wie sie’s scherzhaft selbst nennt: »Während Cordula und Aiguo rausfinden, wer genau wo untergebracht wird, sorgen wir dafür, dass überall medizinisches Gerät, Verbandszeug und Medikamente zur Verfügung stehen. Es soll auf keinen Fall alles an einem Ort, nämlich auf der Krankenstation, konzentriert sein, denn die ist nah an einem Punkt, der leicht getroffen werden kann – vorn im Kegelteil, unterhalb der Keilspitze, wenn man sagt, die Antennen sind oben.«
»Breites Verteilen« aller Menschen an Bord ist Cordulas Idee, sie vergleicht das in einer Durchsage mit den Schutzvorkehrungen, die man treffen kann, wenn man davon ausgehen muss, dass ein Erdbeben bevorsteht: »Vorhin, als wir alle gesehen haben, was mit der SMITH war, habe ich jemanden sagen hören, wir werden alle sterben. Das ist eine natürliche Reaktion, aber keine sinnvolle. Soweit wir wissen, werden wir, wenn uns die Folgen der Zerstörung der SMITH erreichen, eben nicht alle sterben. Einige werden sterben, andere nicht. Bei der Arbeit an beiden Schiffen sind Leute gestorben, beim Start, auf der Reise sind Leute gestorben. Wir haben das vorher gewusst, wir haben das immer einkalkuliert, und später werden auf dieser Reise dann auch Leute geboren werden, hier, auf dem einzigen Schiff, das von unserer Expedition übrig bleibt. Wir können nicht umkehren. Wir können nicht ändern, was passiert ist. Beim Erdbeben, wenn man weiß, es kommt, stellt man sich in Türbögen, weil die oft stehen bleiben, wenn das Haus zusammenfällt. Es gibt strukturelle Punkte in Architekturen, die besonderen Schutz bieten. Bei uns sind das vor allem Schleusen, aber viele davon befinden sich in den Außenwänden, was bedeutet: Sie sind strukturell stabiler als andere Teile, aber gleichzeitig einschlagsgefährdeter. Es ist ein Spiel mit Wahrscheinlichkeiten. Wir verteilen die Leute, wie wir unsere Ressourcen verteilen, die Tiere, die künftigen Nahrungsmittel, zum Beispiel Saatgut, die Medikamente. Leute in den Rumpf, Leute ins Heck, Leute nach Backbord und Steuerbord, Leute in Reifen, Leute in Korridoren, Leute auf die Brücke und Leute in die Schleusen. Wir können nichts daran ändern, dass wir uns auf der anderen Seite dieser Scheiße nicht alle wiedersehen werden. Wir können nur dafür sorgen, dass wir von jeder Sorte Leute auch danach genug haben, um die Reise fortzusetzen.«
Fünf Stunden und vierzig Minuten nach dieser Durchsage teilen sich in Erwartung der Einschläge drei Menschen eine der kleinsten Außenschleusen des vorderen Schiffsteils der PODKAYNE FRIES: der chinesische Techniker Shen Yau, der Kapitän Aiguo Sun und der Bundeswehroffizier Meinhard Budde. Alle drei tragen bereits Raumanzüge als zusätzliche Sicherheitsvorkehrung, falls Trümmer oder Bombenfragmente die Außenversiegelung der Schleuse beschädigen. Die Männer unterhalten sich per Funk, obwohl in der Kabine atembare Luft mit erträglichem Druck zur Verfügung steht. Sie tauschen leere Zuversichtsformeln: »So weit alles in Ordnung«, »Kann nicht klagen«, »Ich höre gerade, alle sind auf ihren Posten jetzt« und dergleichen, alles auf Deutsch.
Dann wird Meinhard immer einsilbiger und verstummt schließlich ganz, so dass die beiden anderen anfangen, sich auf Chinesisch zu unterhalten, nicht wortreich, sondern knapp und sachlich. Meinhard ist immer noch auf Empfang. Als er Shen Yau sagen hört: »… Roulette … ru taa suoshuo …«, und der Kapitän darauf etwas antwortet, in dem ebenfalls das Wort »Roulette« vorzukommen scheint, mischt Meinhard sich ein: »Redet ihr über Cordula? Darüber, dass sie gesagt hat, es ist ein Roulettespiel mit der Wahrscheinlichkeit, wer überlebt?« Aiguo bestätigt das: »Ja, wir haben uns darüber unterhalten, inwieweit Wahrscheinlichkeit in diesem Fall bedeutet, eine Wette mit einem Buchmacher einzugehen, bei der man auf Leben oder Tod setzen kann. Und dass es … der Genosse Shen Yau und ich haben eine Art … Debatte mit unserem russischen Freund Sirilko darüber, ob Naturgesetze eher … unverrückbar oder ob das Wahrscheinlichkeiten sind, und ich habe in diese Debatte das Gleichnis vom Wetten eingeführt. Seither geht es um Wettquoten dabei und um Gewinnchancen, ich weiß nicht, ob Ihnen der Ausdruck ›dutch book‹ etwas sagt, den habe ich in diesen kleinen … Streit zwischen uns, also einerseits den … chinesisch denkenden Leuten an Bord, wenn man es so sagen kann, und den mechanisch-westlichen Materialisten wie Sirilko eingeführt. Ein dutch book, das ist …«
»Das hat mit Wetten zu tun, oder?« Meinhard war immer gut in Mathe. »Ein dutch book, das ist doch eine Wettabmachung, bei der jemand, der so ein Ding nutzt, in jedem Fall gewinnt, egal, wie das Spiel ausgeht, diese berühmte Win-win-Situation, und zwar … also, wenn der Buchmacher seine Wettordnung irgendwie so platziert, dass das eigentlich gar nicht zusammenpasst, weil …«
Eine schwere Erschütterung wirft ihn gegen Aiguo.
Seine Sichtscheibe knackst, sein rechtes Schultergelenk knirscht, sein Orientierungssinn schleift durch seinen Kopf wie ein kippender Kreisel. Eben noch schwerelos, hat er jetzt das Gefühl, nach hinten gerissen zu werden, wie beim Fall aus einem Boot zum Tauchen oder aus einem Flugzeug beim Absprung mit dem Fallschirm.
Der Stoß hebt ihm den Magen, flirrt durch ihn als Angst. Er hat derlei geübt; so winkelt er die Beine über die Knie an und zieht die Arme nah an sich, um keine Gliedmaßen zu verlieren, als kompakte Masse weniger leicht zerbrochen zu werden. Da geht ein weiterer Ruck durch alles, was ihn umgibt, den spürt er bis in die Knochen. Es wird stockdunkel.
Jetzt flackert Licht zweimal, dann wischt ein Arm an seinem Helm vorbei. Ein anderer schlägt ihm mit enormer Wucht auf den Hinterkopf. Es wird abermals dunkel, länger diesmal. Die Welt dreht sich sehr schnell, rutscht.
Meinhard schlägt gegen eine Wand, es kracht. Er wird von der Wand fortgerissen, schlägt gegen eine andere. Ein Pfeifen zerreißt rechts sein Gehör, zwei Blitze, blauweiß, flammen vor ihm auf. Er schließt instinktiv die Augen, als könnten die dünnen, zarten Lider sie schützen. Wieder kämpft er Übelkeit nieder. Blinzelnd erwartet Meinhard eine weitere Erschütterung, aber statt dass sie eintritt, geht das Licht wieder an – ein anderes als zuvor allerdings, gedämpfte Notbeleuchtung.
Als nach drei Minuten in äußerster Anspannung und sinnloser, gegenstandsloser Bereitschaft, um sein Leben zu kämpfen, weder Ruck noch Geräusch sich ereignen, lässt Meinhard seine Glieder locker, schiebt seinen Unterkiefer hin und her, weil er sich vorhin im Schrecken, Schütteln und Fallen das Kinn am Innenring seiner Helmverankerung angeschlagen hat, tastet im Mund mit der Zunge nach Schäden an den Zähnen, findet keine und dreht endlich den Kopf erst nach links, dann nach rechts, um sich in dem kleinen Raum neu zu orientieren und nach den beiden anderen Männern zu sehen.
Quer liegt eine Gestalt vor ihm auf nichts in der Luft. Er greift nach ihr, dreht sie um, in ihrem klobigen Raumanzug. Es ist Shen Yau. Sein Helm hat seitlich links, überm Sichtfenster, ein etwa daumennagelgroßes winziges Loch, seine Stirn auch, und im Innern, zwischen Gesicht und Scheibe, bewegen sich kleine, mehr oder weniger runde und zerbeulte Blutkugeln, ein Dutzend etwa, in langsamem Tanz.
Der Mund des Toten ist geöffnet, die Augen sind es auch, sie starren blind, und als sich der Körper, weil Meinhard daran gedreht hat, weiter um die eigene vertikale Achse dreht, sieht der Deutsche ein Stück rechts vom Genick ein drittes Loch. Die Austrittsstelle, denkt er, und lässt die Leiche los. Ein Knistern am rechten Ohr wie von trockenem und hartem Papier irritiert ihn, dann hört er laut und deutlich, aber leicht körnig verzerrt, wie durch feinen metallischen Sand gesprochen, die Stimme von Aiguo Sun: »Meinhard? Ich bin hinter dir. Hier oben oder unten … ein… eingeklemmt.«
Sofort dreht Meinhard den ganzen Leib in die angegebene Richtung, wird aber von Aiguos Helmscheinwerfer geblendet. Der Chinese erkennt am Augenzusammenkneifen des Deutschen, was geschieht. Er schaltet den Strahler aus und gibt Meinhard Zeit, sich an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Sobald der Soldat wieder Umrisse, Formen und Farben erkennen kann, macht er sich daran, Aiguos Lage zu untersuchen. Der Chinese hat recht: Er ist eingeklemmt, und zwar mit dem rechten Arm – die kleinen und großen Kollisionen und Durchschüsse haben ihn gegen die Innentür zum Schiffshauptkörper geworfen, und diese Tür ist zusammen mit ihrem Schraubrahmen durch irgendeine Strukturbelastung der Röhre, in die man sie eingebaut hat, genau an der Stelle eingeknickt, wo Aiguos Arm klemmt. Beide Männer versuchen, mit Ziehen, Zerren und Drücken etwas daran zu ändern. Aber die Klemme bewegt sich nicht.
»Scheiße. Da müssen wir warten, bis von innen welche kommen«, sagt Meinhard und hört im selben Moment, wie Aiguo die Funkmeldung eines Chinesen empfängt und mit diesem längere Zeit, etwa fünf, sechs Minuten, eingehend über etwas wohl sehr Wichtiges redet – vermutlich einen Statusreport samt Besprechung der Verfassung einiger Leute aus der Besatzung. Meinhard glaubt, die Worte »Sirilko«, »Cordula« und »Kanbara« verstehen zu können. So fragt er, als Aiguo eine längere Sprechpause macht: »Filipa. Was ist mit Filipa Scholz, Käpt’n?«
Aiguo sagt: »Sie ist durchgerüttelt worden, wie wir alle. Aber in guter Verfassung. Cordula Späth hat sich ein Bein gebrochen, Andrej Sirilko ein paar Rippen. Liz Parker ist sehr schwer verletzt und gegenwärtig ohne Bewusstsein. Eine Notoperation an der Lunge scheint nötig, die man aber durchführen kann. Akihito Kanbara ist tot, gestorben mit zwei meiner Leute und einer deutschen Ärztin. Sie haben sich in einer der Stützspeichen des vordersten Reifens aufgehalten, der aus seinen Verankerungen gerissen wurde und … ins All geschleudert. Das heißt, ich weiß nicht, ob sie schon tot sind, aber sie sind in jedem Fall … verloren. In den nächsten zwanzig Minuten wird eine Gruppe von Leuten hier eintreffen, drei, vier Leute, mit einem Schneidbrenner, und uns die Tür aufschneiden.«
Meinhard weiß nicht, was er darauf antworten soll – Kanbara tot, Liz in Lebensgefahr, Filipa nicht einmal arg verletzt. So sagt er zunächst nur: »Okay.«
Nach einer Minute der unbehaglichen Stille fragt Aiguo: »Hast du … ihn untersucht? Shen Yau?« Meinhard erwidert mit einem Seitenblick auf die schwebende Leiche: »Er ist tot. Ein Teil, irgendein … Projektil ist durch seinen Helm geschlagen …«
»Ja, ich habe es gesehen. Ich habe sein Gesicht gesehen. Ich meinte … seinen Anzug. Hast du überprüft, ob sein Anzug intakt ist?«
»Wie … wieso sollte …«
»Wir könnten meinen Arm, den eingeklemmten Arm … der Anzug ist zerlegbar … ich könnte aus dem Arm schlüpfen, wenn wir ihn aus seiner Verankerung lösen, und dann den Arm seines Anzugs anziehen.«
»Wieso brauchst du überhaupt … ach so. Die Außentür.« Meinhard lässt sich per Handbewegung vor dem Steuerfenster neben der Tür ein Diagnostikdatenbild für die Schleuse auf den Helmschirm spielen und versteht sofort, was ihm die Infographik sagt: »Die Schleuse verliert Luft. Die Außentür muss … beschädigt sein.«
Er zieht sich zu dieser Tür, betrachtet die Mitte der Außenluke und ihre Ränder und versteht, dass hier, am oberen Rand, das Fragment durchgeschlagen sein muss, das Shen Yau getötet hat. Das Loch, das er da entdeckt, ist nicht das einzige – mit bloßem Auge, und eingeschaltetem Helmlicht, zählt er neun dieser Löcher, was er sofort Aiguo mitteilt: »Neun Löcher. Die man sehen kann. Wahrscheinlich mehr. Okay, wir brauchen die Anzüge.«
»Sie müssen intakt sein. Meiner ist es, sagt mein Computer. Weißt du, wie man das überprüft?«
»Ja«, sagt Meinhard, fragt per Helmanfrage auch für seine eigene Montur diesen Status ab und erlebt eine böse Überraschung: »Fuck. Das … ach, fuck, echt.«
»Dein Anzug …?«, fragt Aiguo besorgt, und Meinhard gibt weiter, was ihm sein Computer sagt: »Ich … da müssen irgendwelche Risse in den beiden Armen und im linken Bein sein, klein und fein, es tritt Luft aus, wie aus der Schleuse. Es zeigt mir da den Rand, die Umrandung rot, an diesen Stellen, und … Kacke. Vielleicht habe ich sogar Splitter von irgendwas im Leib. Wann, hast du gesagt, sind die Leute hier?«
»Viertelstunde bis zwanzig Minuten«, sagt Aiguo und setzt hinzu: »Sie werden rechtzeitig da sein. Der Kabinendruckverlust ist gering. Wir könnten sogar die Helme abnehmen. Ich habe nur nach dem Arm gefragt, weil wir sicherer sind in den Anzügen. Es ist, wie sagt man auf Deutsch? Übervorsichtig. Würdest du mir … ganz im … im Sinne dieser Vorsicht noch einen … einen Gefallen tun?«
Es klingt plötzlich, als habe er etwas Mühe beim Sprechen oder als wäre ihm kurz schwindlig geworden, ein winziger Schwächeanfall.
Meinhard wendet sich dem Schicksalsgenossen wieder zu. Der lächelt freundlich und sagt, jetzt wieder in normaler Lautstärke: »Würdest du mir in den Mund leuchten, wenn ich ihn öffne? Ein Projektil, wie du sagst, ist wohl nicht durch meinen Anzug geschlagen und kann also auch nicht in meinem Körper stecken, aber … ich … nun ja, zur Sicherheit.«
Meinhard kommt der Aufforderung nach und sieht zu seiner Beunruhigung, als er seinen Helmstrahler auf Aiguos Mund richtet, sofort, was der meint: »Da … ist Blut. Auch an der Unterlippe und … am Kinn. Blut. Hast du dir auf die Zunge gebissen vielleicht?«
Aiguo deutet ein Nicken an und sagt: »Ich hoffe, dass das der Grund ist. Ich habe nur … Kupfer im Mund geschmeckt, und mir war klar, das ist Blut.«
Beide sprechen eine andere Möglichkeit als die Zungen- oder Zahnfleischverletzung nicht aus: Es könnte sich um ein äußeres Anzeichen innerer Verletzungen handeln.
»Wird wohl was im Mund sein«, sagt Meinhard. Aiguo schließt den Mund wieder, Meinhard löscht das Helmlicht und schiebt fast geistesabwesend den Leichnam von Shen Yau ein wenig von sich und dem Kapitän weg. Weil das Schweigen danach beide Männer sehr belastet, lenkt der Soldat schließlich auf etwas anderes ab: »Sag mal, der Christian Winseck, hast du nach dem auch gefragt? Ich hab gar nicht mehr dran gedacht, das … der war mitten in seinem Vortrag, und jetzt hab ich dich gar nicht nach ihm gefragt.«
Aiguo erwidert: »Er ist noch abgängig.«
Meinhard denkt leicht gereizt, was heißt das, abgängig, musste er mal raus? Er sagt aber nichts dergleichen, und Aiguo selbst stellt klar: »Ein paar der kleineren Gruppen haben im Augenblick noch keine Verbindung mit der Brücke, wo eine ständig korrigierte Liste der Menschen an Bord geführt wird. Christian ist bei ein paar medizinischen Technikern und einer Energiefrau aus meinem Stab, wahrscheinlich sind nur die Signale gestört. Wenn dem Teil des Schiffes Schwerwiegendes passiert wäre, hieße es nicht abgängig, sondern vermisst, wir haben da … unsere Sprachregelung.« Er hat die, vermutet Meinhard, wohl mit Cordula Späth ausgeknobelt, die überhaupt bemerkenswert gut vorbereitet schien auf das Chaos. Meinhard erlaubt sich kein Urteil darüber. Er hat gelernt, Vorgesetzte erst dann in Frage zu stellen, wenn sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten, und hier draußen, das hat er auch gelernt, gibt es keine Gesetze – außer offenbar solche, die Aiguo gerade in einer Nebenbemerkung angesprochen hat, und davor hat Cordula davon geredet, und dazwischen waren sie das Thema des letzten Gesprächs zwischen Aiguo und Shen Yau, die sich wiederum über Gespräche zwischen Aiguo und Andrej Sirilko unterhielten – alle diese Fäden laufen irgendwie zusammen um einen einzigen Begriff, über den Meinhard plötzlich reden will, nicht zuletzt um die Zeit abzukürzen, bis das Rettungsteam eintrifft: »Du hast gesagt, wahrscheinlich sind nur die Signale gestört – wahrscheinlich: Mir fällt auf, dass du dieses Wort gerne benutzt, und Cordula redet von Roulette, und so geht ihr mit dem Ganzen um, Wahrscheinlichkeiten, Wetten, dutch book – ich weiß nicht genug darüber, um mich dagegenzustellen wie, na, wie sagst du, unser russischer Freund. Aber es kommt mir doch ein bisschen abenteuerlich vor, dass man hier sozusagen in See sticht mit einem total zerbrechlichen Schiff und irgendwelchen Leuten hinterherjagt, die sich auch schon einfach so aufs Geratewohl reingeschmissen haben in diese Schwärze, und das alles mit … nichts als Wahrscheinlichkeiten bewaffnet. Ich meine, die Ossis und die Russen, die da losgeflogen sind auf ihre, ähm, interstellare Mission, die haben ja wahrscheinlich an den Kommunismus wenigstens geglaubt, aber ihr beiden, die Cordula und du, das ist wie … ihr seid so ganz extreme Pragmatiker, oder … ich meine, wenn für dich nicht mal die Naturgesetze feststehen?«
Aiguo nimmt Meinhards Bemerkung ernst: »Fest im Vergleich zu was? Was bewegt sich, was ist fest?«
»Du meinst, alles ist relativ oder so. Das sind Gedankenhöhenflüge … Ich bin ja kein totaler Depp, ich hab das alles auch mal gelernt, Statistik, Stochastik, Bayes-Regel, dann diese Axiome von diesem anderen Kommunisten, Kolmogorow, von wegen, dass eine Wahrscheinlichkeit immer irgendwo zwischen null – also: kann gar nicht sein – und eins – also: ist absolut sicher – liegen muss und dass die Wahrscheinlichkeit, wie war das, dafür, dass irgendein p nicht eintritt, so groß ist wie eins minus die Wahrscheinlichkeit, dass p eintritt, das alles. Aber mit dem Zeug im Gepäck die Erde verlassen und nicht mehr als das dabeizuhaben, woran man glauben kann … ist das bei dir wirklich so?«
Er sieht, durch zwei Sichtscheiben hindurch, dem Chinesen direkt ins Gesicht, der nicht lächelt, aber auch nicht die Stirn runzelt, sondern schlicht sagt: »Fairness.«
»Wie … Fairness?«, fragt Meinhard.
Aiguo erwidert: »Was du eigentlich wissen willst, wenn du mich fragst, ob man nicht innerste Überzeugungen braucht, um was auf der Welt zu riskieren … um eine Wette einzugehen, eine kleine oder große … betrifft nur eine einzige, aber dafür wohl wirklich lebenswichtige, denkwichtige Überzeugung: die Überzeugung, dass die Welt letztlich fair sein muss. Das wollen diejenigen, die ans Tao glauben, so sehr wie diejenigen, die an Allah oder Jahweh oder sonst irgendwelche Götter glauben: eine faire Wettquote. Also gerade kein dutch book, sondern etwas, das sich an die Kolmogorow-Axiome hält, von denen du gesprochen hast, das heißt, die Wahrscheinlichkeit für den einen Ausgang einer Sache und die für den anderen zusammen, das darf nicht … es muss alles unterhalb der Eins sein, es muss vereinbar sein, die Gewinnhöhe und die Verlusthöhe müssen … Na. Moment. Anders: Das Dutch-Book-Verständnis von Wahrscheinlichkeit ist ein Gleichnis – es versucht zu erklären, was diese unfassbaren Sachen, die man nicht sehen kann, eben Wahrscheinlichkeiten, was … das eigentlich ist, eine Wahrscheinlichkeit. Da sagt das Dutch-Book-Argument: Es sind Wettpositionen, es sind Annahmen von Leuten, die auf oder gegen etwas wetten, es sind Grade des Glaubens, des Fürwahrhaltens von etwas. Also, wenn ich glaube, dass eher A als B passiert, wenn ich das aber nicht sehr stark glaube, sondern sozusagen nur knapp, wenn ich denke, ich habe das Gefühl, A und B könnten beide passieren, aber A passiert ein bisschen eher, dann bin ich so bei einundfünfzig Prozent vielleicht, von hundert, also von eins, das heißt, null Komma fünf eins …« Er unterbricht sich selbst, schließt die Augen, scheint auf etwas zu horchen, dann spricht er sehr schnell sehr viel Chinesisch. Pausiert wieder, horcht. Spricht noch mehr Chinesisch. Sieht erleichtert aus, dann weniger, dann sagt er zwei Sachen, die sich für Meinhard wie Fragen anhören. Horcht, hakt nach, horcht, scheint zu schimpfen, zu seufzen. Meinhard mischt sich nicht ein, vor allem, da er glaubt, aus den Augenwinkeln etwas Beunruhigendes gesehen zu haben, das er genauer überprüfen will: Die Tür mit den Löchern, die Tür nach außen, scheint nicht still in ihrem Rahmen zu ruhen, sondern sich eben bewegt zu haben – eine Täuschung des peripheren Sehens, denkt Meinhard zuerst, dann zieht er sich an einer Haltestange nah an diese Luke, legt beide Hände drauf und meint, etwas zu spüren: Bewegt sich das? Er drückt dagegen, lässt los, drückt dagegen: Gibt da etwas nach? Dreht sich diese Tür ein wenig, vielleicht nur winzige Millimeterbeträge? Wenn er den Helm abnähme, denkt der Soldat, könnte er’s vielleicht hören, falls die Tür in ihrer Fassung klappert, knirscht, sich dreht, aber das riskiert er lieber nicht – und dann fällt ihm ein, wie er sich eine unabhängige, objektive Bestätigung seines schlimmen Verdachts verschaffen kann: Er lässt sich noch einmal die Atemluftverlustrate zeigen, um sie mit der von vor ein paar Minuten zu vergleichen, und flucht gepresst »Fickscheiße«, als die Zahlen ihm zeigen, dass seine Vermutung ihn nicht trügt: Die Luft strömt zunehmend schneller ab, es gibt nicht nur die Löchlein, sondern ein echtes Leck.
»Die Tür?«, fragt Aiguo. Meinhard dreht sich nach ihm um: »Im Arsch. Wir müssen rein, ins Schiff, so schnell es geht. Diese Tür wird … ich weiß nicht, aber wenn sie nicht schon klappert … irgendwann reißt sie weg, fliegt raus, und dann …«
»Wir können auch ohne Luft leben, hier in der Schleuse, dank Anzug«, sagt Aiguo, »und an dieses Wegsprengen glaube ich nicht.« Als er nichts hinzufügt, sagt Meinhard ungeduldig: »Was erzählen sie? Deine Leute?«
Er vermutet, dass die Nachrichten, die Aiguo für ihn hat, nicht gut sind. Den Gesichtsausdruck des Kapitäns kann Meinhard nicht deuten, aber als der zu sprechen beginnt, hört er Bedauern: »Sie sind schon da. Sie sind draußen. Aber wir haben … wir haben keinen Grund zur Hoffnung. Wir werden nicht … sie könnten die Tür nur sprengen, sagen sie, und das würde uns beide töten. Einen anderen Weg sehen sie nicht, die Belastung des Metalls … es wird noch gerechnet, und sie sind offen für andere Vorschläge, aber Cordula hat ihnen einen sehr wichtigen Befehl gegeben: Keine Innentüren von Schleusen dürfen geöffnet werden, wenn die Außentüren nicht sicher sind. Das Schiff hat genug Schäden.«
Meinhard flucht: »Ach, Scheißdreck! Red doch selber mit ihr, oder, nee, lass mich mit ihr reden, ich werd ihr schon erklären, warum sie nicht einfach den Kapitän …«
»Sie wird es nicht tun. Ich habe mit ihr geredet. Auf Chinesisch. Sie spricht die Sprache, Meinhard.« Das klingt sehr sanft und beschämt den Soldaten ein wenig, was es wohl auch soll. Er beruhigt sich, wenigstens ein bisschen. Aiguo sagt: »Deshalb … wollte ich wissen, was mit der Tür ist … sie sagen, sie haben die Diagnostik dreimal durchlaufen lassen, und der innere Stahlmantel würde … Es geht nicht. Wir müssen warten. Sie werden Leute schicken, das wird eine Weile dauern, weil im Moment auch alle anderen Schleusen, jedenfalls in diesem Schiffsabschnitt, erst sorgfältig … sorgfältig über … über …« Er spuckt, hustet, krächzt. Ein Anfall, und kein harmloser. »Es … es geht. Es geht schon«, sagt Aiguo, als Meinhard so nah wie möglich an ihn heranschwebt und ihm besorgt ins Gesicht sieht. »Wir müssen eben warten.«
Meinhard betrachtet den bleichen Mann, das Blut auf seinen Lippen, das Blut unterhalb seiner Nasenlöcher. Keine Mundverletzung also. Er sagt: »Nasenbluten. Du hast jetzt auch Nasenbluten. Du musst hier raus. Du musst … frag die Arschlöcher, wo die nächste Möglichkeit im Schiff ist, dass man dich medizinisch versorgt. Ärzte, Geräte … wo sind die nächstliegenden … Sachen?«
Aiguo öffnet den Mund, um Meinhard diese Idee auszureden, aber dann überlegt er und sagt: »Ich … ja, na gut. Ich kann es versuchen.« Er stellt seine Verbindungen erneut her, wechselt ein paar Worte, stellt um, redet wohl mit Cordula Späth – der Tonfall, fällt Meinhard auf, ändert sich, und er rät, dass das eben noch Befehlston war und das jetzt Beratungston ist –, dann beendet Aiguo auch die zweite Unterhaltung und sagt: »Sie sind ganz nah. Unsere Nachbarn, sozusagen. Eine andere Schleuse – sie haben Maschinen, Technik, Medikamente, Instrumente für Operationen, alles –, zwei Leute, beides Chinesen, aus der Krankenstation. Zwanzig Meter. Das heißt … Luftlinie. An der Außenhülle entlang zwanzig Meter weit weg.«
Meinhard ist erleichtert, jetzt fühlt er sich zum Handeln aufgerufen: »Gut. Hör zu, Käpt’n. Du kannst hier nicht stecken bleiben, bis die Wombels da draußen mit ihren Messungen einig sind. Du bist verletzt, ich kann nur hoffen, dass du es bis drüben schaffst. Nein, nicht widersprechen jetzt, hör mir lieber zu: Mein Arm ist intakt. Der Anzugarm, meine ich. Und die Drehteile sind genormt, die sind gleich groß, selbst wenn meine Ärmel und Beine bisschen länger sind als deine – aber wir sind beide nicht fett oder magersüchtig, der Durchmesser der Arme ist gleich, so sparen sie Teile. Ich hab mir das angeguckt, und ich weiß, wie das läuft, bei der Bundeswehr ist das nicht anders – die Komponenten der Ausrüstung sollen sich möglichst als Ersatzteile eignen, falls was anderes ausfällt. Und der Ärmel, wie gesagt – den umrandet meine … die Diagnostik ist nicht rot, der hat keine Löcher. Wir schrauben deinen los, ziehen dich raus, ziehen dir meinen an. Öffnen die Tür, solange das noch geht – sie wird vielleicht nicht weggerissen, wie ich gedacht hab. Aber was, wenn sie sich bei dem Geklapper irgendwann wo einklemmt? Siehste, so. Wir müssen sie aufmachen, und bald, wenn wir das nicht riskieren wollen, dass sie einklemmt. Dann – vorausgesetzt, du kannst dich bewegen – kletterst du raus und rüber. Ich bleib hier drin, mit Shen Yaus Ärmel von mir aus, selbst wenn der Risse hat. Schnitte. Wenn da Fragmente durchgeschossen sind. Weil, ein defekter Ärmel ist ja besser als keiner. Dann warte ich halt hier, ob ihnen was einfällt. Oder sie schicken mir von woanders, aus einer anderen Schleuse oder wer weiß woher, irgendwelche Retter. Das ist dann mein Problem. Die Leute hier brauchen dich entschieden dringender, als sie mich brauchen. Fakt.«
Er macht sich daran, mit den Fingern die Aufhängung und Verschraubung von Aiguos Arm zu untersuchen. Aber der Chinese widerspricht: »Meinhard, das ist nicht vernünftig. Da spricht nur dein Bedürfnis, unbedingt etwas zu unternehmen …«
Meinhard lacht aus vollem, rauem Hals, dann sagt er: »Lass stecken, Chef. Komm mir nicht psychologisch. Bevor du mir noch erzählst, dass ich das hier aus Reue tu, als Wiedergutmachung, weil ich dich und die anderen Chinesen angeschissen habe. Ich traue euch immer noch nicht. Und dem Russen traue ich auch nicht, und der Cordula Späth traue ich erst recht nicht. Ihr seid für mich alles Kommunisten oder sonst irgendwie totale Spinner. Aber ich kann mich auch ganz gut selber analysieren, in meinem Beruf und bei den Kampfeinsätzen, die ich hinter mir habe, da überlebt man nicht lange, wenn man sich was vormacht. Ich kann dir sagen, woher das kommt, mein Misstrauen und meine schlechte Laune oft. Die ganze Aggro gegen euch schiebe ich nur, weil ich hier völlig fehl am Platz bin. Im Weltraum. Ich bin Hundeführer, ich brauche meine Hunde, meinen Wald, meine Kameraden und einen Auftrag, den ich kapiere. Das hier … das ist mir alles zu hoch. Jetzt kannst du fragen, wieso bist du mit? Weil ich nicht glaube, dass meine Welt, meine Hunde, mein Wald … dass ich das noch haben kann, nach dem, was mir in Afghanistan passiert ist. Diese Weltraumscheiße, die bleibt nicht im Weltraum, die kommt auf die Erde – diese Dysoniki, nicht? So, und wenn ich mich von was bedroht fühle, was mache ich dann, als Krieger? Ich trage das Gefecht zum Gegner, Mann. Das war die Idee. Und wenn’s mich jetzt kostet, mein Gott, es hätte mich in Afghanistan kosten können. Das waren ja nicht nur Kameraden, die diese Dinger da umgebracht haben, das waren Freunde von mir. So. Frei biste.«
Die Armbefestigung ist gelöst, Meinhard hilft Aiguo, der sich nicht wehrt, sondern mitmacht, dabei, aus dem Ärmel zu schlüpfen, und sagt dann: »Jetzt meiner. Musst du machen, geht ja nicht anders.« Aiguo verzieht das Gesicht, in Skepsis, nicht wie Missbilligung: »Lass uns noch mal einen Moment überlegen, was wir hier tun. Die andern drinnen im Schiff …«
»Können gern mit ’ner besseren Idee anrücken. Das sind keine Dummchen, die hätten sich schon gerührt.«
»Meinhard …«
Der Soldat wird jetzt laut: »Kein Gelaber, Käpt’n. Wir müssen noch die Außentür aufmachen, es kann ’ne Menge Scheiß schiefgehen, zum Quasseln hab ich den Nerv nicht. Wenn du da draußen rumkraxelst und in Ohnmacht fällst, weil irgendwas bei dir nicht in Ordnung ist in den Innereien, dann war meine ganze schöne Idee für den Arsch. Schraub jetzt.«
Aiguo schraubt, schweigend, löst dann die kleinen Kappen, zieht den Arm ab und stellt fest, dass er passt. Dann sagt er: »Und du? Du kannst nicht mit einem freien Arm … wenn wir die Außentür …« Aber da sieht er, dass Meinhard sich bereits daranmacht, den Ärmel von Shen Yaus Anzug abzuschrauben, und versteht den Gedanken verspätet: Löcher haben beide, der Anzug des Deutschen wie der des Toten, intakt ist keiner. Meinhard setzt darauf, dass der Ärmel beim andern, von dem er nur weiß, dass der Helm und andere Stellen perforiert sind, intakt sein könnte, und ein Anzug, der ein paar Löcher hat – seiner oder der des Toten, gleichviel –, ist ihm lieber als gar keiner. Als der Ärmel frei ist, besteht Aiguo darauf, Meinhard zuerst dabei zu helfen, ihn anzuziehen, bevor er sich dann selbst Meinhards Ärmel festmachen lässt. »Hat keine Löcher. Dieser Ärmel, meine ich, den ich jetzt trage«, sagt Meinhard nach einem Blick auf die Diagnostik mit einer Zuversicht, die Aiguo mehr als dubios vorkommt. Aber er kommentiert das nicht, sondern legt dem Deutschen die Hand auf die Schulter, als der sich bereits wegdrehen will, um am Kontrollfeld neben der Außentür die Einstellungen vorzunehmen, die vorbereiten sollen, dass diese Tür sich öffnen lässt. Meinhard schaut ihn fragend an.
Aiguo sagt: »Lass mich noch mal mit … meinen Leuten reden. Lass mich rausfinden, wie weit sie sind. Und deinen … unsern Plan erklären.« Dagegen hat Meinhard keinen Einwand: »Ich muss das eh erst mal noch rausfinden hier, wie der Mist funktioniert. Ich war ja noch nie draußen, auch wenn Filipa immer nervt, wie toll das ist mit Cordula, diese dummen Spazier…gänge …« Den Rest des Satzes vermurmelt er dunkel, während Aiguo schon angefangen hat, schnell und dringlich Chinesisch zu reden.
Wenn Meinhard sich nicht sehr irrt, klingt er dabei zunehmend so, wie Meinhard sich fühlt: ungeduldig, unzufrieden und wie einer, der gerne alle, die um eine schreckliche Situation herumstehen, aber nichts dazu beitragen, dass sie weniger schrecklich wird, mit aller Kraft in den Hintern treten würde. Das Gesprächsende ist ein Seufzer, dann richtet Aiguo das Wort wieder an den Deutschen: »Sie finden deine Idee Wahnsinn. Aber sie haben keine andere.«
»Na, dann hast du ja was mit deinen Leuten gemeinsam. Tu nicht so, ich weiß, dass du nichts von dem Plan hältst. Stellt sich Cordula auch so an?«
»Sie hat … sie hat mir einen Kurs aufzeichnen lassen, ein Bild überspielt, wie ich mich auf der Außenhülle des Schiffs bewegen soll, um zu der andern Schleuse zu kommen. Die ist intakt, inklusive Pumpe zum Leeren und wieder Füllen mit Sauerstoff. Und auf dem Weg gibt es genügend Greif- und Trittgelegenheiten. Die beiden Menschen dort haben unbeschädigte Raumanzüge, sie werden die Schleuse leerpumpen und wieder füllen, wenn ich drin bin und die Außentür wieder zu ist. Cordula sagt, sie grüßt dich. Es klingt nach Respekt für … das, was du tust.«
»Was wir tun«, berichtigt Meinhard und gibt ohne eine weitere Vorwarnung die Befehlssequenz zur Türöffnung ein. Aigu sagt: »So, wie du das gerade programmiert hast, müssen wir noch dagegendrücken und das Ding … wir müssen am Griff hier einen Ruck nach rechts …«
»Schon dabei«, sagt Meinhard, da hält ihn Aiguo noch einmal am Arm fest: »Die Schleuse ist nicht ordentlich leergepumpt. Hat noch Luft drin. Das ist …«
»Ich hab’s versucht. Die Pumpe will nicht, die ist blockiert. Wahrscheinlich auch ein Treffer, keine Ahnung. Du, ich mit dem rechten Arm am Bügel, und mit dem Linken halten wir uns fest, hier oben, Strebe. Ja, so. Rechne mit einem ziemlichen Strom, Sog, Wind, wenn das Schiff den Lufthappen rausrülpst. Begriffen?«
»Be…griffen«, sagt der Kapitän. »Gib dich nicht auf, gib nicht … Cordula sagt, sie überlegt, sie diskutieren es, vielleicht reicht die Zeit für jemanden, aus einer anderen Schleuse, oder …«
Meinhard hebt die Rechte: »Quäl dich nicht, wir haben Strohhalme gezogen, und ich hab den kurzen. Solange ich lebe, lebe ich. Jetzt hilf mir, dass es wenigstens was bringt, dass ich vorhin nicht gestorben bin. In Ordnung?«
»In … Ordnung.«
»Auf drei. So. Eins. Zwei. Drei!«
Die Tür ruckt nach rechts und wird dann von der Mechanik, die den Stoß der beiden Arme übernimmt und mit elektrischer Energie verstärkt, beiseitegezogen. Der Zug ist kurz und heftig, aber nicht so heftig, wie Aiguo und Meinhard befürchtet haben, die sich mit aller Kraft an der von Meinhard ausgesuchten Querstange festhalten.
Die Stille danach ist eine des Staunens. Beide Männer schauen durch die Luke, in der Meinhard bis dahin nichts als einen Ausweg aus einer Notlage für den andern Mann gesehen hat, und erkennen etwas, das sich um ihre Not, um Menschen überhaupt nicht kümmert, das Größte, das Älteste – Raum und Sterne.
Leises Knacksen, dann Knistern und Rauschen der Funkverbindung zwischen den beiden Männern beendet die Stille, als Aiguo sagt: »Ich … danke dir für … alles. Soll ich … soll ich jemandem irgend…«
Meinhard lacht gutmütig und sagt: »Fang an zu klettern, Kapitän. Spar uns die Peinlichkeiten, bitte. Filipa weiß Bescheid. Es ist alles gesagt. Viel Glück, Mann.«
»Dir … dir auch. Solange du lebst«, wandelt Aiguo einen Satz ab, den Meinhard vorhin gesagt hat, »lebst du. Auf Wiedersehen.« Er weiß genau, was diese deutschen Worte bedeuten, und hofft sehr, dass sie diesmal wahr sind.
Meinhard zuckt mit den Schultern, was aber in dem Raumanzug gar nicht recht zu sehen ist, und sagt dann: »Jetzt los, sonst schmeiß ich dich persönlich zur Luke raus.«
Tatsächlich muss er dem Chinesen etwas helfen, denn der braucht, nachdem er oberhalb des Außenrandes der Türöffnung seinen ersten Haltegriff gefunden hat, eine Art einhändige Räuberleiter und einen Schubser, um den nötigen Schwung aufwärts zu bekommen. Als Meinhard seine Stiefel nach oben verschwinden sieht, zieht er sich selbst ins Innere der luftleeren kleinen Kabine und versucht, das sehr leise Zischen zu ignorieren, von dem er glaubt, dass es sein Leben ist, wie es den Anzug verlässt, langsam, wie sich draußen die Sternenkonstellationen verschieben. Das Schiff scheint wieder eine Art Kurskorrektur vorzunehmen, in Wirklichkeit wohl sogar ziemlich rasch, wenn so weit entfernte Objekte scheinbar die Lage ändern, und Meinhard schließt die Augen.
Ist ihm schon kalt, wird ihm kälter? Er weiß es nicht und will nicht dran denken, da geschieht etwas, das ihn ablenkt. Eine Stimme aus vielen Stimmen spricht, oder ein Text aus vielen Texten lässt sich lesen, er weiß es nicht genau, aber er denkt Sprache, Wörter, von denen er im selben Moment weiß, dass es nicht seine Gedanken sind:
Meinhard Budde, du hast ihn gerettet.
Er sieht Aiguo, wie der in die andere Schleuse gezogen wird, von zwei, jetzt drei Armen, und weiß, das muss eine Halluzination sein, denn der Chinese hat seinen Weg eben erst begonnen, er wird noch eine ganze Weile brauchen, und wieso, fragt sich Meinhard, sehe ich das überhaupt?
Es ist keine Halluzination.
setzt sich der Text fort, und
Es ist die Zukunft. Für uns hat der Unterschied zwischen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit keine so große Bedeutung wie für dich.
Er spürt, wie er seinen Mund öffnet, schließt. Dann doch wieder öffnet, und er hört sich wie aus weiter Ferne sagen: »Für euch? Wer ist … wer seid ihr denn?«
Wir sind bei dir. Wir sind in deinem Kopf oder nicht, auch dieser Unterschied ist für uns weniger wichtig als für Menschen.
»In meinem …« Ein Sichwundern, zugleich ein Wiedererkennen und eine Verblüfftheit mischen sich in Meinhards Empfinden, als er sagt: »Könnt ihr mich retten? So, wie ich … ihn gerettet habe oder … irgendwie? Oder muss ich … sterben, oder ist der … hallo?«
Wir können dir nicht helfen, du bist beinah schon tot und wirst es in etwa einer halben Stunde sein, so geht deine Zeit. Aber wir könnten es dir leichter machen. Wir könnten dir vieles zeigen, oder wir könnten eine Verbindung mit Filipa Scholz herstellen, oder wir lassen dich etwas ganz anderes erleben als das, was du erleben musst.
Er beißt die Zähne zusammen, um nicht zu lachen. Dann sagt er, mit ätzender Ironie: »Saunett von euch. Quatscht mir ins Hirn, damit ich nicht so jämmerlich eingehe. Wieso meint ihr es so gut mit mir?« Er meint es als böse rhetorische Frage, aber der Text nimmt es ernst und gibt zur Antwort:
Du erinnerst uns. Wir sind ähnlich gestorben wie du.
Meinhard fröstelt. Es liegt nicht an der Kälte.