Mehrere Arme ziehen Hanteln zum Körper, mehrere Arme stoßen sie wieder weg. Die Beine sind in Schienen geschnallt, aber alle Muskeln spielen in die geschmeidige wie kraftvolle Bewegung. Baklanow will sich fit halten. Er weiß, dass er sehr bald wieder gebraucht wird. Ein bisschen übertreibt er es manchmal mit der Bereitschaftserhaltung, wenn er, wie jetzt, zu den Hantelübungen auch noch Klappmesser anfängt und wenn er, denkt er jetzt selbst ein bisschen spöttisch über sich, noch eine Übung wüsste, bei der die Ohren Muskeln entwickeln, würde er die auch noch anfangen. Die Wahrheit ist: Nur bei den Übungen fühlt er sich sauber, was auch daran liegt, dass er seit Wochen weder geduscht noch sich gewaschen hat, denn in seiner augenblicklichen Arrestzelle gibt’s kein fließendes Wasser, nur etwas Ultraschall.
Er hört auf mit den »Sportkrämpfen«, wie er das in ehrlichen Stunden bei sich nennt, und zieht sich ans Fenster. Der große, zernarbte graue Brocken, in dessen Schwerkraftmulde sein Gefängnis viel zu ruhige Bahnen zieht, ignoriert ihn, deshalb stößt er sich wieder ab, zum andern Fenster hin. Dabei packt er mit den vielen Händen viele Stangen, Streben, Säulen, auf deren Einbau er, zu seinen sportlichen Zwecken, bestanden hat, und fühlt sich heute dennoch nicht beweglich oder stark, was doch der Sinn dieser kurzen Griffe samt Immerwiederloslassen ist, sondern bloß wie ein Affe, ein Fehler, ein – was? Er erreicht das andere Fenster, das nach außen schaut. Er schaut jetzt auch nach außen, dieser Gefangene, der nichts mehr fürchtet, als dass man ihn vergessen haben könnte, dessen jegliche Bewegung, jede Lektüre, jede Übung in den Wissenschaften, die er hier absolviert, diese Furcht niederkämpfen soll und der das Schweigen der Diff am allerschwersten nimmt – sie haben es dem, der Baklanow einsperren ließ, versprochen, dass sie nicht mit ihm sprechen, sich nicht mit ihm gegen den neuen Lenker, Semjon Diduk, verschwören werden, und wenn Baklanow von den Diff eines weiß, dann, dass sie ihr Wort halten.
Als er hinausschaut, finden seine Augen rasch etwas weit Entferntes: Andromeda. Er erinnert sich an Gespräche mit Eva Sonntag – da drüben, wenn schon nicht erreichbar nah in der Heimatgalaxis, muss es Leben geben wie uns, Leben, das wir verstehen können, mit Gliedmaßen und Atemwegen und Zentralnervensystemen, nicht das unheimliche Geisterleben der Diff.
Das Herz hat einen Sprung, denkt er, nein, tut einen Sprung, falsch, wird geworfen: Was war das? Haben die Diff mich denken gehört, sind sie da, sind sie in mir und bei mir? Die Frage stellt er sich, weil Baklanow nicht sicher sein kann, ob er den Ruck durch den Leib, den er für einen seelischen hält und damit einen, der, wenn schon durch etwas Wirkliches und nicht nur durch die bloße Eigenbewegung seines Gemüts verursacht ist, so doch allenfalls durch das Eintreffen der ersehnten Diff. Aber dann gelingt es ihm doch nicht, eine andere Hoffnung, die er auf keinen Fall haben will, ganz zu unterdrücken: dass da Leute gekommen sind, in einem Raumschiff, einer kleinen Fähre vielleicht, dass der Ruck ihr Andocken bedeutet.
Jetzt spürt Baklanow, während er sich vierhändig eine Hose anzieht, die eben noch zerknittert durch den Raum glitt wie ein Segeldrachen, dass er wütend wird, weil er sie anzieht, sich damit präsentabel macht, auf einen möglichen Besuch also Rücksicht nimmt: Rücksicht, denkt er, bin ich denn verrückt geworden?
Als die Hose sitzt, greift er mit allen Armen, sogar den greiffähigen Füßen, nach seinen Stangen, Streben, Pfosten und drückt sich einmal gegen die ganze kleine Station mit aller Kraft, wie Samson, der den Tempel zum Einsturz bringen will, als wäre es seine Absicht, dass die Kapsel platzt, dass er befreit im Nichts erstickt, erfriert, an Dekompression zugrunde geht, umgeben von den Fetzen seiner Fesseln.
Dann klopft es außen an der Luke.
Baklanow muss lachen: »Komm rein, Verräter!«
Die Siegelscheibe dreht sich, rückt von der Zelle ab, verschwindet in der Wand. Diduk klettert herein wie ein Bußfertiger in die Mönchszelle eines Heiligen: umständlich, leise, respektvoll. Er war lange nicht hier. Sein Gesichtsausdruck, als er sagt: »Guten Morgen, General Baklanow«, verrät dem Häftling, dass er nicht mehr oft kommen wird, weil die Zeit, in der Baklanow hier versauern muss, fast vorbei ist. Diduk weiß, wie man ohne Schwerkraft halbwegs stattlich im Raum liegt. Allzu angenehm möchte der Besuchte dem Besucher seinen Besuch freilich nicht machen, darum provoziert er ihn in liebenswürdig-väterlichem Ton: »Möchtest du Tee oder Kaffee? Den musst du dir dann von draußen bringen lassen. Ich habe nichts anzubieten.«
Diduk sagt: »Du hast mehr anzubieten als alle andern, mit denen ich besprechen könnte, was ich zu besprechen habe. Ich sehe, du turnst. Gut so, du wirst bald gebraucht. Wir werden die Plätze tauschen, in wenigen Wochen, nehme ich an, es braut sich manches gegen mich zusammen – die Rivalitäten zwischen den Alten und den Kindern werden sich erst entspannen, wenn beide Seiten jemanden bestrafen können dafür, dass sie jetzt wirklich zusammenarbeiten müssen. Das Opfer werde ich sein, sie werden dich zurückholen, weil du sie an die besseren Zeiten erinnerst. Dann wirst du die Zügel übernehmen, und du solltest wissen, was da auf dich zukommt.«
»Ich höre«, sagt Baklanow.
Diduk schaut aus dem linken Fenster, sieht den Felsen, sagt aber nichts dazu, es scheint, als habe er nur nachschauen wollen, was für einen Ausblick auf die Dysoniki-Zivilisation sein Gesprächspartner in letzter Zeit gehabt hat. Dann sieht er den alten Freund unverwandt an und spricht von seiner Arbeit, die er an ihn übergeben wird: »Von der Innenpolitik im System hab ich dir alles gesagt. Es gibt die beiden Gruppen.«
Baklanow ignoriert das Kompliment und sagt: »Ich notiere mir im Kopf, dass es, was unser System angeht, jetzt eine Innenpolitik gibt. Das war, als ich hierhergeschafft wurde, noch nicht der Fall, da gab es dreimal Außenpolitik, die von Amor, die von Aten und die von Apollo. Du hast uns geeint. Es geht jetzt nur noch zwischen den Kindern und den Alten hin und her. Das ist eine Leistung.«
Diduk sagt: »Die Außenpolitik hat zwei Seiten – wir müssen den Diff, der einen, der bekannten, na: der vertrauten Seite unserer Außenpolitik, schneller klarmachen, dass sie hinter uns zurückstehen sollten, was den Umgang mit den Menschen auf der FRIES angeht, dass sie nicht ohne unsere Einwilligung mit denen kommunzieren können. Sie haben das jetzt mehrmals getan, das heißt, sie haben es uns immerhin verraten.«
»Mit wem haben sie …«
»Ein sterbender Soldat, eine Computerprogrammiererin und dann noch ein Spinner, der irgendwas mit Sprache macht, die haben sie interessiert, warum, weiß wieder mal niemand – so sind sie, du kennst es, wenn sie ihre Gründe erklären, wird einem schwindlig. Ich habe ihnen in aller Deutlichkeit klargemacht, dass das nicht geht, dass wir die offiziellen Kanäle unter Menschen aushandeln – zwischen mir und den Kindern auf der einen, den FRIES-Leuten auf der andern Seite. Das ist die, na, die zweite Front unserer Außenpolitik.«
Baklanow fragt: »Und wie steht’s damit? Gibt es weitere geheime Abmachungen?«
Diduk schüttelt den Kopf: »Das wäre Wahnsinn. Wir dürfen die Person nicht auffliegen lassen, die Nadar Jepen dabei geholfen hat, sein Verbrechen zu begehen. Wir reden nur noch mit Kapitän Aiguo Sun, seit der von seinen Verletzungen und der Operation genesen ist.«
Baklanow legt den Kopf ein wenig schief, als wollte er sagen: Ein kurioses Detail ist mir aufgefallen, und dann spricht er aus, was das ist: »Du hast mir immer noch nicht verraten, wer eigentlich Nadars und dann … unsere Kontaktperson war … und ist. Es könnte, wie ich dich kenne, ja sogar dieser Kapitän sein oder die launige Frau Späth oder unser Landsmann …«
Diduk winkt ab: »Das darfst du nicht wissen. Dann kannst du nämlich, im Interesse der Stabilität in der schwierigen Konstellation, die ich dir eben schon beschrieben habe, plausibel leugnen, dass du es weißt, wenn du die Verhandlungsführung von mir übernimmst.«
»Was wird eigentlich verhandelt?«
»Ob sie sich retten lassen. Es ist vier Monate her, dass sie im Sturm standen, und sie arbeiten immer noch daran, ihr Schiff wieder flottzukriegen. Die ganze Autorität, die Sun und Späth noch haben, hängt am unausgesprochenen Versprechen, dass sich die Lebenserhaltungssysteme, der Antrieb … dass sich alles unter der Leitung dieser beiden reparieren lässt, dass der Flug fortgesetzt werden kann. Die Schäden sind zu groß, die Selbstversorgung wird sich nicht aufrechterhalten lassen. Wir müssen das Ding abschleppen, in eine Werft bringen, vielleicht auf Ceres, die Vorräte aufstocken, mit genetisch verbessertem Material die Landwirtschaft und Tierzucht ergänzen … allein haben sie keine Chance. Ich sage dir das alles«, fügt Diduk hinzu, wie man eine Fußnote vorliest, »weil mir nicht einfällt, wie ich die Sache beschleunigen kann.«
Baklanow antwortet nicht mit Worten, macht nur ein leises, vage zustimmendes, nachdenkliches Brummgeräusch: »Mmmh.« Das heißt wohl: Vielleicht ist das wahr, vielleicht nicht. Er hört auf, mit seinem strengen Blick dem andern die Stirn zu bieten, und wirft stattdessen einen Seitenblick durchs Fenster nach weit draußen: Der Kosmos ist noch da, noch groß, aber jetzt fern gerückt, nicht mehr Baklanows Problem.
Er hat, das weiß er jetzt, andere, größere, bald. Er freut sich darauf.