Christian Winseck kommt im Dunkeln zu sich. Die Finsternis fühlt sich an, als ob sie sich langsam und schwer um ihn dreht, ein mahlender Block.
Etwas schneidet ihm schräg in die Brust. Er hat große Angst und schreit erschrocken auf, als ein Objekt seine Stirn streift, dann etwas anderes nicht allzu hart gegen seinen Kopf schlägt. Den linken Arm spürt er nicht, dann doch ein bisschen. Es kribbelt darin, der Arm ist eingeschlafen. Vorsichtig hebt er den rechten Arm übern Kopf, um das Leselicht anzuschalten, während ihm einfällt, wo er ist: »Wenn du wirklich alle so gleichmäßig wie möglich im Schiff verteilen willst«, hat er zu Cordula gesagt, »dann müssen doch auch welche in ihren Kabinen sein, oder? Ich will in meine.«
Damit war der scheinrationale Grund für den Wunsch angegeben. Der wirkliche aber, der Christian das hatte bitten lassen, war irrational: Seine kleine Koje mit den paar irdischen Büchern, den Bildern vom Seehund im Fluss in der Geburtsstadt und dem Foto von Alexandra Burkhard und seinem Vater aus dem Winter 1987 an der Wand schien ihm einfach der sicherste Ort an Bord, weil’s sein eigener Ort war. Wenn ich schon ein Grab aussuchen soll, dann will ich dieses, hat er gedacht, und das fällt ihm jetzt wieder ein, als seine Hand ins Leere greift: Da ist die Wand nicht, die Klappe nicht, die Leselampe auch nicht.
Auf sein Bett, erinnert er sich, hat er sich selbst geschnallt, es ist der oberste Gurt, was ihm das Fleisch drückt und verletzt. Dann merkt er, dass die Liegestatt sich mit ihm durch die Luft bewegt, dass sie also aus der Verankerung gerissen worden sein muss. Richtig, das war das Letzte, was er mitbekommen hat, beim dritten großen Stoß, der das ganze Schiff getroffen hat, ein Aufflammen des Lichts. Jetzt wird ihm auch klar, wie knapp das gewesen sein muss, dass er nicht gestorben ist: Das losgerissene Bett hätte mit ihm voran gegen eine der Wände krachen und ihn wie einen Ast zerbrechen können. Wieder streift ihn das im Gesicht, was ihn eben schon gestreift hat, jetzt kriegt er’s mit der langsam wieder besser durchbluteten, eben noch tauben linken Hand zu fassen, betastet es, weiß dann, was das sein muss: ein Pullover seines Vaters, Mitbringsel, Souvenir, eigentlich sollte das Kleidungsstück in einer der drei Schubladen liegen, die ihm als kleiner Kleiderschrank in der Kabine dienen, davon ist also auch mindestens eine aufgegangen oder aufgeschlagen worden. Er lässt den Pullover los und greift mit beiden Armen nicht tollkühn, aber lebhaft um sich, bis eine der zwei Hände, die rechte, etwas zu fassen kriegt, das ihm vertraut genug ist, um endlich eine Orientierung im kleinen Raum zu ermöglichen: Es ist das Foto, das er oft berührt hat, der Vater und seine Freundin, zu der er bis vor dem Schrecken, der ihn jetzt in totale Finsternis gestoßen hat, unterwegs war, glatt, ein Glanzabzug, zwei Streifen Tesafilm dran – so kann Christian sich jetzt an der Wand entlangtasten, vorsichtig, mehrmals abdriftend, woraufhin er mit dem linken Bein, das sich mühelos aus dem Anschnallriemen ziehen ließ, per sanftem Fußtritt seine Lage wieder korrigiert. Schließlich finden die Finger die Leselampe, ein kleiner Lichtkegel flammt auf und streut Photonen in so gut wie jeden Winkel der Kammer.
Christian atmet durch. Er spürt, dass ihm die Tränen kommen, hustet, schämt sich. Dann löst er die restlichen Gurte, fällt vom Bett, schiebt das in einen Winkel neben dem Quasikleiderschrank, dessen mittlere Schublade tatsächlich zertrümmert wurde, wahrscheinlich vom Bett, das Christian zwischen dem Schrank und dem Heizrohr am Boden festkantet, bevor er sich daranmacht, die Ladentrümmer und die im Raum umherschwebenden Kleidungsstücke einzusammeln.
Dabei hört er draußen Rufe, meist chinesisch, teilweise deutsch (»Schau da drüben nach!«), zu seiner Erleichterung sind keine Schmerzensschreie oder Klagen um Verletzte und Tote dabei.
Christian tastet einige Stellen seines Leibes ab, unterm T-Shirt, in den Hosenbeinen, die ihm wegen falschem Druck- oder anderweitigem Unbehaglichkeitsempfinden suspekt sind. Dabei begegnet ihm nichts, was wie eine ernste Verletzung auf ihn wirkt. Erleichtert horcht er noch einmal nach draußen, überlegt dann, ob er die Tür entriegeln soll, beschließt aber, dass da, wo Leute rufen, wo Metall gegen Metall schlägt, wo es klopft und schabt, gearbeitet wird, dass man da Menschen rettet, ihnen hilft, und dass er sich dazu noch nicht gefestigt genug fühlt. Wie ein Vogel, der gegen eine Glasscheibe geflattert ist, sich aber nicht ernsthaft verletzt hat und sich jetzt aus einer Art Verlegenheit das Gefieder putzt, fährt Christian darum erst einmal fort mit dem, was er bereits begonnen hat, nämlich kleinen Aufräumarbeiten in seiner winzigen Wohnung.
Ein Buch, aufgeschlagen, aber nicht mit frei raschelnden Blättern, dreht sich ganz langsam unter dem Bogen, der das festhält, was Christian, obwohl es hier keine Richtungen gibt, als die Decke seiner Kabine betrachtet. Er fischt es aus der Luft und klappt es zu. Es ist Musils Mann ohne Eigenschaften, der dicke, massige, innerlich aber ganz zerfledderte zweite Band. Er hat den ersten Band derselben Ausgabe – ein Taschenbuch von Rowohlt, aus dem letzten Jahrhundert, auch diese beiden Bücher gehörten seinem Vater, er muss sie gekauft haben, als er noch mit Alexandra Burkhard zusammen war – auf der Erde zurückgelassen, vielleicht, weil das Fertige, Gelungene dorthin gehört, das groß Entworfene aber auf diese Reise. Christian steckt das Buch nicht wieder in den Aktenkoffer zurück, der alle seine sonstigen Druckerzeugniserinnerungen an die Erde enthält und der noch sicher in seiner Verankerung am Fußboden ruht, sondern stopft es zwischen zwei Schichten Kleidung in die obere der beiden noch intakten Schubladen; die untere hat bereits alle aus der zerstörten mittleren entflohenen Kleidungsstücke aufnehmen müssen. Er schaut sich um und findet die Ergebnisse seines Versuchs, Ordnung zu stiften, leidlich zufriedenstellend. So zieht er sich zur Tür und tippt die Freigabe ein. Nichts geschieht.
Er stutzt, als hätte er mit allem gerechnet, nur damit nicht. Er versucht es noch mal, er flucht: »What the fuck?«
Er hat sich nicht vertippt. Das Ding weigert sich, auch nur zu rasseln oder zu knirschen. Er schlägt dagegen, zieht, tritt, schlägt wieder. Eine Frauenstimme von draußen: »Hallo? Da drin alles in Ordnung? Wer ist da?«
»Christian! Christian Winseck!«, antwortet er und hofft, dass es nicht ganz so kindisch jämmerlich klingt, wie er sich fühlt. Die Stimme sagt: »Okay. Ich bin es, die Mirjam.« Er kennt die Frau, hat schon mit ihr gearbeitet in der Sicherungs-, Umlagerungs- und Personenverteilungsoperation, kurz vor dem Sturm. Sie heißt Mirjam Wolf, eine Chemikerin, wenn er es richtig weiß, oder Physikerin?
»Nichts mit Experimenten«, hat sie ihm erzählt. Ihre Arbeit findet komplett am Computer statt, irgendwelche Simulationen. Jetzt ruft sie: »Tür ist blockiert, richtig?« Er nickt eifrig, dann wird ihm beschämenderweise klar, dass sie das nicht sehen kann, und er sagt: »Ja. Ja! Die Tür ist, sie … it’s broken oder ähm … es geht nicht.«
»Ja«, sagt sie, ein wenig gehetzt. Er hofft, dass sie dabei nicht, von ihm genervt, mit den Augen rollt. »Das haben wir in diesem Abschnitt überall, Computerfehlfunktion. Wir sind dran.« Sie wechselt ein paar nicht laut gesprochene, daher unverständliche Worte mit anderen Personen, deren Stimmen Christian hinter der Metallwand nur dumpf ausmachen kann. Dann sagt sie: »Winseck? Wir haben’s gleich. Frage: Bist du verletzt? Können wir dich irgendwo einteilen, Rettung, Reparatur, oder brauchst du selber Hilfe?«
»Ich bin in Ordnung, meine Sachen sind auch in Ordnung! Alles in Ordnung! Ich kann helfen!«
»Prima!«, ruft Frau Wolf zurück. »Geh bisschen auf Abstand zur Luke und halt dich irgendwo fest, in drei, vier Minuten müsste der Weg frei sein. Ich schick jemanden, Denise oder Rubin oder einen Chinesen, der dich abholt. Es gibt ’ne Menge zu tun.«
»Alles klar!«, erwidert Christian, dann zieht er sich zu der Wand zurück, neben der eigentlich das Bett verankert sein sollte, um die Tesafilmbefestigung der beiden Fotos zu überprüfen, das Hauptlicht anzuschalten, die Leselampe auszuschalten, und als er mit diesen drei eher nicht dringend nötigen Beschäftigungen fertig ist, fährt er zusammen, als sich die Tür mit einem Krachen selbst aus ihrem Ring entlässt, zur Seite rattert und dann nicht ganz in ihre Position bei geöffneter Luke einrastet, sondern wie unentschlossen auf drei Vierteln des Weges hängen bleibt, während eine andere Mitastronautin, nämlich Filipa Scholz, den Kopf in die so entstandene Öffnung hält und sagt: »Christian? Ah, gut. Kommste mit? Es gibt ein Leck an einem der großen Tanks für den Boostertreibstoff und die Notenergie, sie brauchen jede und jeden!«
In den nächsten vierundzwanzig Stunden kommt er weder zur Ruhe noch zu der Sorte Unruhe, in die man sich steigern kann, wenn man ums eigene Wohlergehen fürchtet. Mit Filipa und fünf andern ist er zuerst damit beschäftigt, das Austreten von Druckgasen aus Leitungen zu beenden und dann im Gefolge von Frau Wolf auch in anderen chemischen Anlagen vor allem das Entstehen von explosionsgefährdenden Gemischen zu verhindern, teils durchs Anbringen von Aluminiumpflastern, teils per Spulung und Verdünnung von Tankinhalten mit inerten Gasen.
Dann wechselt er auf die Brücke, wo man ihm einen Steuerstick anvertraut, der bei der Wiederherstellung der Lagestabilität einiger gegeneinander rotationsfähiger Schiffssysteme bedient werden will. Es gibt zehn solcher Posten. Einen hat eine Weile Filipa inne, bis sie die Nachricht erhält, dass Meinhard Budde tot ist, gestorben bei der Rettung eines anderen Besatzungsmitglieds. Ein Gerücht, das eine der Chinesinnen auf der Brücke lanciert, besagt, der Gerettete sei Kapitän Aiguo Sun. Nach einer sehr kurzen Liegezeit auf einer der Pritschen an der unteren Wand der Brücke wird Christian von Andrej Sirilko persönlich geweckt, der, statt ihn zu begrüßen, nur sagt: »Du arbeitest doch auch mit Computerprogrammen in deiner Linguistik. Kennst du dich mit Hardware aus, Bauteilen?«
»Ein bisschen …«, sagt Christian wahrheitsgemäß und verschlafen. Sirilko erklärt: »Wir haben viele Daten durch Einschläge verloren. Forschungsdaten, Routendaten, Planungsdaten, aber auch Teile der Archive sind weg, die Filme zum Beispiel«, ein schattenhaftes Lächeln, »und jetzt müssen wir zusehen, ob einige Apparate, die vor der Wiederabdichtung freigelegen sind und kosmischer Strahlung ausgesetzt waren, ihre Strahlungsfestigkeit bewahrt haben. Dass es keine Fehler in den Speicherzellen wegen der Strahlung gab, dass sich keine Schaltkreise selber kurzschließen. Das muss alles überprüft werden, Widerstände, Halbleiter, Mikroschaltkreise, Spulen, Relais, Stecker, Sicherungen, Drähte und Kabel …«
»I’m up to it«, sagt Christian dienstbereit.
Keine der Arbeiten, die nötig sind, wird von Einzelnen erledigt. Immer kooperieren Gruppen von mindestens drei oder vier Personen. Die Dienstpläne kommen von Cordula Späth. Aiguo Sun liegt, wie Liz Parker, auf der improvisierten zweiten Intensivstation im Heck, man hat den Transport zur eigentlichen Krankenstation gar nicht erst riskiert, die Wege sind zu weit und voller Hindernisse.
Dreißig Stunden nach der Entriegelung seiner Tür, die in den nächsten zwei Wochen entriegelt bleibt, ohne dass ihn das stören würde, fällt Christian, auf sein von einem hilfreichen Mechaniker wieder am Boden verankertes Bett geschnallt, in den tiefsten traumlosen Schlaf seines Lebens.
Geweckt wird er bereits nach anderthalb Stunden von einer Durchsage der Frau, die fortan pausenlos Statusberichte in allgemeinen Umlauf bringen wird, mündlich und schriftlich:
»Hier spricht Cordula Späth, es gibt einen Zwischenstand.«
Der ist verheerend.
Einunddreißig Leute sind direkt während des Sturms gestorben, siebzehn leicht verletzt, neun schwer verletzt worden, also in intensivmedizinischer Behandlung. Von diesen sterben während der ersten Woche vier, drei Tage später stirbt noch einer, die restlichen können mehr oder weniger wiederhergestellt werden. Eine Astrogatorin hat ihre rechte Hand verloren, einer von Andrej Sirilkos Physikern bleibt wegen einer Wirbelsäulenverletzung dauerhaft gelähmt, von der Hüfte abwärts. Viel Zeit zum Trauern hat die Besatzung der PODKAYNE FRIES nicht, aber auch andere Gefühle, etwa Angst davor, wie es weitergehen soll, kommen nicht auf, weil Cordula und die durch sie nur vermittelten Sachnotstände den Überlebenden so viel Arbeitskraft, Aufmerksamkeit und allgemeine Disziplin abverlangen, dass dafür kein Raum bleibt. »Wir wissen nicht mal, wie klein, wie subtil die Schäden sein können, die durch die Splitter dieser Monodromiewaffen möglich sind«, erklärt Cordula.
Christian leidet, wie alle, unter den fordernden Umständen, aber er wagt es sozusagen vor sich selbst nicht, dieses Leiden bis zu einer bewussten Verzweiflung reifen zu lassen, auch wenn er manchmal an einen Cousin denken muss, den die ganze Familie Winseck »Jack’s traumatized kid« nennt, weil er nach seinen zwei Touren im Golfkrieg des älteren Präsidenten George Bush erst zwei Jahre scheinbar völlig normal seiner glücklicherweise rasch gefundenen zivilen Nachkriegsarbeit als Tierpfleger nachgegangen war, dann aber eines Tages plötzlich sechs ihm anvertraute Hunde mit dem Revolver getötet und sich dann im Büro des Tierheims, bei dem er angestellt war, eingeschlossen hatte, wo man ihn mit viel gutem Zureden immerhin daran hatte hindern können, sich auch noch selbst zu erschießen. Danach kam er in ein Heim für psychisch geschädigte Veteranen, wo er, wie Christian einmal beim Arbeiten an einem Gerüst in einem der Reifen so plötzlich einfällt, dass er fast lachen muss, vermutlich noch heute vor sich hin vegetiert und nie erfahren wird, dass er einen Cousin hat, der unvorstellbar weit von der Erde entfernt jetzt lernt, was das ist, so ein Krieg.
Drei Wochen nach dem Sturm meldet sich Aiguo Sun, dessen von einer seiner eigenen Rippen angekratzte Lunge offenbar nach zwei schweren Operationen in der unmittelbaren Folge der Kollisionen wieder ganz ausheilen wird, unter großem Applaus auf der Brücke zurück. Erst jetzt, da sie ihm für bald zunehmend längere Zeiten die Geschäfte übergeben kann, erlaubt sich Cordula Späth ab und zu ein paar Stunden der Ruhe in ihrer eigenen Kabine. Ansonsten ist sie vor allem damit beschäftigt, den Leuten als Vorbild zu dienen: Niemand tut mehr für die Abdichtung des Korallenreifens, die Reparatur der Triebwerke, die Versorgung der Schwerverletzten.
»Als sie das erste Mal mit mir nach den Korallen gesehen hat«, berichtet Andrej später flüsternd ein paar engsten Freundinnen und Freunden bei einem Abendessen ohne die erschöpfte Chefin, »habe ich sie weinen sehen – ich musste dran denken, wie sie gesagt hat: Ohne die Korallen fliege ich nicht los, ohne die Korallen können wir die Erde nicht ins All tragen, die Menschheit nicht nach draußen führen. Die sind ihr heilig, und das Becken hat Schaden genommen, ein Teil vom Riff hat Brüche … Ein Oktopus ist gestorben. Sie hat sich diese Brille aufgesetzt, mit den Mikroskoplinsen, und ist nah an die Polypen, hat sie vorsichtig untersucht, in der runden Kolonie im Reifensüden, der mit den roten büschel- und baumartigen Dingern im Nordwesten, sie wirkte, als würde sie ihnen am liebsten … so, wie manche Leute mit ihren Pflanzen reden, wenn sie die Blätter hängen lassen, wisst ihr? Ich habe sie dann gefragt, als wir aus dem Becken geklettert sind und ich die Tränen bemerkt habe … ich habe sie gefragt: Das wird ja wieder, oder? Da hat sie … also, sie musste sich zusammennehmen, das hab ich bei ihr noch nie erlebt, aber dann sagte sie: Die Brandung macht alles kaputt auf der Erde. Das Einzige, was ihr was entgegensetzt, sind die Korallenriffe. Nur unser Dreck greift die an, die Natur hat keine Waffe gegen sie. Wenn sie den Sturm aushalten, dann halten wir den auch aus. Deshalb werde ich sie retten. Und wenn es das Letzte ist, was ich mache.«
Oft sitzt die Chefin jetzt mit dem Kapitän in der Sitzecke an dem Glastisch, wo Christian seinen verunglückten Vortrag über die Botschaft der Alexandra Burkhard gehalten hat, und bespricht die Auswertung der Nachforschungen über die bekannten und vielleicht noch versteckten Folgen des Kataklysmus, die Ressourcenlage, die Aussichten für die nähere, mittlere und fernere Zukunft der Mission, wobei sie ihr geschientes Bein aufs Polster legt und wirkt, als genieße sie diese Unterhaltungen wie eine Patientin in einem Sanatorium, die einen Freund gefunden hat, mit dem es sich angenehm und lehrreich über Gott und die Welt plaudern lässt. Tatsächlich geht es in diesen Gesprächen nicht immer um die Not der PODKAYNE FRIES und ihre Bewältigung, wie Christian mitbekommt, da eine der Arbeiten, denen er, weil er sich darin als geschickt erwiesen hat, immer wieder zugeteilt wird, die Computerfehlerbehebung von einer kleinen Konsole auf der Brücke aus ist.
Einmal erzählt Aiguo Sun ihr von den letzten zwanzig Minuten, die er in Gesellschaft des »sehr tapferen« (Aiguo) Meinhard Budde verbracht hat: »Kein Händeringen, kein Haareraufen. Er wollte mit mir sogar philosophische Fragen diskutieren.«
Cordula fragt: »Was für philosophische Fragen denn?«
»Mein Streit mit Andrej über …«
»Ah, die Naturgesetze. Ob die Welt nach ihrem Gebot deterministisch abschnurrt oder ob sie sich entwickeln und dabei Wahrscheinlichkeits… verteilungen …«
Sie ist im Bilde, und Aiguo erläutert: »Ja, ich habe ihm das Dutch-Book-Argument erläutert, auf seinen Wunsch – du kennst es vielleicht: Man nimmt an, Wahrscheinlichkeiten sind verschiedene Grade des Fürwahrhaltens, also, erst mal muss es dabei Grade von Wahrheit geben, sagen wir, der Satz ›Aiguo ist im Wasser‹ ist falsch, solange ich am Beckenrand stehe, wahr, wenn ich schwimme und tauche, und irgendetwas dazwischen, wenn ich gerade ins Becken hineinsteige oder herauskomme. In welchem Grad ich etwas für wahr halte, also für wahrscheinlich, das kann man als eine Wette beschreiben, also wenn ich wette, das wird passieren, halte ich es im Ausmaß der … also der Quote meiner Wette für …«
Cordula fällt ihm ins Wort: »Das hat mir nie eingeleuchtet. Dass Wettbereitschaft und Grad des Fürwahrhaltens, Wettbereitschaft und Erwartungsgrad eines Ereignisses einfach so in eins gesetzt werden können. Ich meine, was ist mit einem Pfarrer, dem seine Religion verbietet zu wetten, hat der dann niemals eine Meinung, eine Erwartung, ob es morgen früh regnen wird oder nicht?«
Aiguo klingt gegen seinen Willen amüsiert, als er darauf antwortet: »Ihr seid eben Europäer – du und Andrej. Dieses … entweder ihr könnt keine Ungewissheit, Unsicherheit ertragen, alles muss deduktiv auszementiert sein wie bei ihm, oder ihr geht umgekehrt vor den kleinsten Schwierigkeiten in die Knie, wie hier vor dem Messproblem.«
»Wieso ist das ein Messproblem, wenn der Pfarrer doch …«
Aiguo lässt sich nicht drauf ein: »Dass eine Erwartungsdisposition im Wetten ausgedrückt wird, ist doch nur ein Weg, diese Erwartung zu messen. Weiter nichts, da muss man doch nicht so einen metaphysischen Aufwand machen. Ihr habt eine, wie sagt man? Eine Heidenangst vor jeder Induktion, vor jeder Messung, jeder Beobachtung, ihr Westler, das heißt, anders – die Beobachtung muss von der Abstraktion streng getrennt werden, das Hingucken vom Folgern, sonst kriegt ihr ein schlechtes Gewissen. Für das eine sind die Ingenieure zuständig, für das andere die Philosophen.«
»Sirilko ist Russe, der ist kein Westler.«
»Von uns aus gesehen ist er Westler. Jedes Verfahren, das irgendwas, was man sich deduktiv denken kann, auf etwas bezieht, das man dann durch hingucken überprüft, wird von euch beargwöhnt: Es muss immer, überall, in Ewigkeit funktionieren, sonst ist es wertlos. Daher dann die schwarzen Schwäne oder die Pfarrer, die nicht wetten, immer soll irgendein beliebiges Beispiel ein ganzes Konzept über den Haufen werfen, weil sonst ja allgemeine Aussagen möglich wären. Das kam auf bei euch, als die Gefahr wuchs, dass man die schönen Erfolge des verallgemeinernden und abstrahierenden, nämlich mathematischen Denkens auf die Gesellschaft, auf die Ungerechtigkeit, die Ausbeutung, Unterdrückung anzuwenden drohte, da war plötzlich Schluss mit der Freude am wissenschaftlichen Denken, da hat der Marx euren Forschungsbetrieb schockiert. Seitdem heißt es, ah, man kann es ja doch alles nicht so genau wissen, das sind alles immer nur Modelle, jeder Vergleich hinkt, und als einzige Alternative duldet ihr das verbohrte Beharren darauf, dass die Logik an sich, also ohne Beobachtung, die Mathematik alleine, jenseits aller Experimente aber wenigstens rein und absolut und unzerstörbar sei, also auf der einen Seite Chaos, auf der anderen Starrsinn. Mao dagegen sagt, man soll die Wahrheit in den Tatsachen suchen, denn …«
»Der Pfarrer ist doch eine Tatsache.«
»Sophismus. Irgendeine zufällige Messgrenze heranzuziehen, um eine Messung madig zu machen, dann kann man auch das Messen von Gewichten unter Schwerkraftbedingungen mit Federn wegwerfen, weil die Federn nach dem Hooke’schen Gesetz ausleiern müssen. Wenn einer nicht wettet, dann kann man seine Wahrscheinlichkeitserwartungen eben so nicht messen, dann guckt man andere Verhaltensweisen als das Wetten an. Wenn er einen Regenschirm mitnimmt, sobald er das Haus verlässt, dieser Pfarrer, dann wird er schon zu irgendeinem Grad glauben, es könnte regnen, da hast du dann eine alternative Messweise gefunden …«
»Gut, geschenkt, weg mit dem Pfarrer, aber der Begriff von der Wahrscheinlichkeit als Wettdisposition ist trotzdem nichts wert, denn der Begriff von Wetten, der da drinsteckt, ist unzulässig geglättet. Die Vernunft sagt, die gemeinsame Wahrscheinlichkeit zweier logisch voneinander unabhängiger Ereignisse sollte nicht über eins, über hundert Prozent liegen, nicht? Aber sagen wir mal, jemand erwartet zu sechzig Prozent, dass ein P eintritt, zum Beispiel eine bestimmte Zahlenkombination, und dann aber zu sechzig Prozent auch, dass eine andere eintritt, die nur manche Zahlen gemeinsam hat, wenn man aber die erste Kombination P nennt, dann ist die zweite ›nicht P‹, und trotzdem kann man so wetten, weil es zum Beispiel Rabatte für Mehrfachwetten gibt – in Deutschland hat’s dieses System, sechs Zahlen aus neunundvierzig, und man kann das mehrmals auf einem Wettschein machen. Nach der Vernunft müsste sich der Wetteinsatz verdoppeln, wenn man zwei dieser Felder mit jeweils einer Sechserkombi ausfüllt, gegenüber nur einem Feld mit nur einer Sechserkombi, dann würde man sagen, zu fünfzig Prozent wettet man, dass die erste Kombi drankommt, und zu fünfzig Prozent wettet man, dass sie nicht drankommt, nämlich die zweite. Aber so sind die Preise nicht, es gibt einen Rabatt, die Leute sollen ja so viele Sechserkombis wie möglich ankreuzen, da ist die Summe dann nicht … ich will sagen, selbst wenn Wetten Grade des Glaubens an Resultate abbilden würden, bilden sie nicht immer den Grad des Glaubens an die Kombination von solchen Resultaten ab, und dann ist doch die Wettmetapher als Bild für diese Wahrscheinlichkeitssache komplett ungeeignet.«
»Unsinn. Das ist nur derselbe dumme Denkfehler wie vorhin, andersherum gedreht. Rabatt ist nur eine eingebaute Grenze im Messapparat ›Wetten‹. Abermals: So wie man Masse auch anders messen kann als mit Federn, auch per Verdrängung von Wasser in entsprechend geeichten Gefäßen, wenn die Masse größer ist, als die Belastbarkeit der Federn aushält, aber in dem Rahmen, in dem das Messverfahren hinhaut, ist es doch wertvoll genug – gilt ja übrigens auch für Naturgesetze, nicht nur für Messverfahren, als Näherung ist doch der Newton für viele Bewegungen nicht übel, man muss nicht immer gleich Einstein …«
Jetzt lacht Cordula: »Ja, ist doch schon recht, wollte dich nur mit absichtlichem Quatsch necken. Anwältin des Teufels, weißt du? Ich weiß doch, wie windig solche Einwände sind, ich wollte nur wissen, wie tief die Dialektik bei dir …«
»Ob ich das, was ich für richtig halte, nur auswendig gelernt habe oder wirklich davon überzeugt bin und ob die Mischung aus Verwirren und Einschüchtern, die bei euch im Westen als Wissenschaftskritik gilt, auf mich Eindruck macht. Macht sie nicht.«
»Macht sie nicht!«, lacht Cordula.
Mit der Zeit renkt sich das Leben auf der PODKAYNE FRIES wieder ein, obwohl einige der alten Zerstreuungen nicht mehr zur Verfügung stehen.
Die Filmabende sind vorbei, jedenfalls »aller Wahrscheinlichkeit nach«, wie Sebastian Mayr, einer von Cordulas Bundeswehrtechnikern, ohne bewusste Anspielung auf das neue Lieblingsdiskussionsthema der Chefin sagt: »Die Datenbank mit den Filmen ist korrupt, auch die mit Musik und der meisten Literatur, aber weil viele Leute an Bord halt doch Bücher dabeihaben und für Musik außerdem zum Beispiel iPods oder privat gespeicherte Playlists in einigen einzelnen, privaten oder zwar dienstlich, aber teilautonom – das heißt, vernetzt, aber entkoppelbar – genutzten Rechnern, können wir immerhin rund zweitausend Stunden Musik und ungefähr eine halbe Million Buchseiten neu einlesen und speichern lassen.«
Die erste Veranstaltung im Kino, das manchmal Disco war, ist eine Lesung zu Ehren der vor drei Monaten Umgekommenen. Der Tag, an dem sie stattfindet, ist derjenige, an dem Aiguo dem ganzen Schiff bekanntgibt, dass »bei der erfolgreichen siebten Komplettkontrolle seit dem Sturm endgültig keine Lecks nach außen, keine Instabilitäten der Trägerstruktur und auch sonst keine unmittelbar reparaturbedürftigen oder reparaturzugänglichen Schäden« festgestellt worden seien, wobei der Haken dieser Bekanntmachung die Formulierung »reparaturzugänglich« ist. Denn man hat einen der sechs Atomreaktoren für den Basisantrieb tatsächlich dauerhaft stillgelegt und ins All abgegeben, weil er eben nicht wiederherstellbar war, und auch sonst machen die Antriebs- und die Manövriertechnik nach wie vor große Probleme. Die volle Missionskapazität ist, wie Andrej Sirilko seinem unmittelbaren astrogatorischen Stab noch am Abend zuvor erklärt hat, »mit Bordmitteln allein nicht wiederherstellbar. Wir sind schlicht sehr viel langsamer geworden. Wir müssten das Schiff im Grund in einer Art Fabrik generalüberholen, wie wir sie damals vor dem Start in der Erdumlaufbahn und dann noch mal unweit des L5-Aufenthalts Richtung Mond gehabt haben, sowohl für die FRIES wie für die SMITH. Wir können weiter, aber wir sind sehr angeschlagen und wissen ärgerlicherweise nicht mal wirklich genau wovon – ich hatte gehofft, erschreckt nicht, aber … als Wissenschaftler und Techniker hatte ich gehofft, dass irgendwie etwas von dieser Monodromiewaffe zurückbleiben würde, dass wir Spuren finden könnten, ehrlich gesagt haben wir sogar Fallen aufgestellt, es gab einen Wassertank außen vor dem dritten Reifen, den ein Stahlteil der SMITH zerrissen hat, der aber als Nebelkammer eingerichtet war teilweise, als Abart eines Teilchendetektors. Wir wollten die Bilder analysieren, das heißt, wir haben Fotoplatten retten können, aber es ist nichts drauf, was sonst nicht auch drauf wäre, und so bleibt mir für die Analyse dieser Waffe nur ein Haufen Spekulationen über Singularitäten. Wir haben natürlich das Videomaterial von der Zerstörung der SMITH, wo wir uns über die Geometrie und die Topologie des Vorgangs so unsere Gedanken machen und Meinungen bilden können. Aber viel können wir nicht tun.«
So tut Sirilko etwas anderes: Er ist es, der an diesem Totengedenkabend im nicht mehr als Kino genutzten Saal, in dem so viele schöne Abende stattgefunden haben, bevor der Krieg die beiden irdischen Schiffe erreichte, seine Stimme sprechen lässt für diejenigen, die man nie wieder sprechen hören wird.
»Ich habe ein paar Bücher mitgebracht«, sagt er im bis auf den letzten Platz vollbesetzten Saal, »die haben Kanbara gehört. Sie sind aus seinem Gepäck. Alle auf Deutsch, er hat sich so … er hat sich sehr bemüht, die Sprache zu lernen, und sein Verfahren war, er hat japanische Literatur in deutschen Übersetzungen ein halbes Jahr vor dem Abflug im Internet zusammengekauft, klassische und moderne Literatur. Er war ja der Sohn einer Literaturprofessorin, einer alleinerziehenden Mutter. Sein Vater ist abgehauen, als Kanbara sechs war, als Künstler nach Paris, dort verschollen … Kanbara kannte alle diese Bücher schon, hat sie gelesen, weil das die Literatur war, über die seine Mutter immer gesprochen hat, und so fiel es ihm leicht, sie auf Deutsch zu lesen … ich habe ein paar dabei, und ich will ein paar Stellen lesen, die ich ausgesucht habe. Sie sind teilweise leicht gekürzt, dem Anlass entsprechend, wir wollen nicht zu tief in die Details dieser Geschichten gehen … aber ich weiß, dass das Bücher sind, die er besonders gerne gemocht hat, und einiges fügt sich … reimt sich … passt zu Gedanken, die wir uns machen, wenn wir an unsere Toten denken, und daran wie es weitergehen soll. Hier …« Er blättert und liest dann mit schöner, warmer, melodischer Stimme:
»Heute wurde gemeldet, dass ein Taifun im Anzug sei. Wahrscheinlich schmerzt meine Hand deshalb heftiger als sonst; ich kann auch meine Beine nur mit Mühe bewegen. Nachmittags rief Suzuki an und bat, heute auf die Behandlung verzichten zu dürfen, da er sich des heranrückenden Taifuns wegen Sorgen mache. Ich ließ ihm ausrichten, ich sei einverstanden, stand vom Bett auf und ging ins Arbeitszimmer. In diesem Augenblick trat Satsuko ein: ›Ich will jetzt das Geschenk haben, das du mir versprochen hast. Ich gehe erst zur Bank und dann anschließend zu dem Juwelier.‹ ›Es ist ein Taifun gemeldet! Muss es denn unbedingt heute sein?‹ ›Ich möchte ihn abholen, bevor du dich anders besinnst! Ich will den Diamanten so schnell wie möglich an meinem Finger haben!‹ ›Was ich einmal versprochen habe, halte ich!‹ ›Morgen ist Samstag, und falls ich zu lange schlafen sollte, könnte die Bank schon geschlossen sein. Heißt es nicht, man soll das Gute immer gleich tun?‹«
Dem sanften Hinweis darauf, wie flüchtig das Gute ist, das man deshalb gleich tun sollte, einer Passage aus dem Tagebuch eines alten Narren von Juni’chiro Tanizaki, folgten andere Stellen aus anderen Büchern desselben Meisters, erst der Geheimen Geschichte des Fürsten von Musashi, dann der Erzählung Der Schlüssel und zum Schluss etwas, das die Notwendigkeit für die Besatzung der FRIES andeutet, sich auszutauschen – ein Abschnitt aus Schwierigkeiten beim Verständnis der Narayama-Lieder von Shichiro Fukazawa, in dem davon die Rede ist, dass in einer Nacht, bevor eine Gruppe von Menschen auf eine gefahrvolle Reise ins Gebirge aufbricht, ein Gastmahl gereicht wird, bei dem man zu Sake Leute empfängt, die schon einmal im Gebirge waren:
»Sie erläutern den Weg und nehmen auch ein Gelübde ab. Selbst die Auskünfte werden nach einem bestimmten Ritus gegeben: Es muss nämlich einer nach dem anderen seine Auskünfte erteilen.«
Danach beendet Andrej seine Lesung und öffnet die Runde zum Gespräch. Menschen stehen auf und erzählen von ihren Verlusten, nicht nur denen im Sturm, auch davon, was sie auf der Erde erlitten haben, davon, was sie für diese Mission aufgegeben haben, davon, wie sie mit alledem fertigwerden.
Elf Leute, sechs Frauen, fünf Männer äußern sich, nicht immer ohne Stocken, aber sie verlieren nicht die Fassung. Ihre Geschichten und Gedanken erinnern alle daran, dass man hier nicht allein ist, dass man einander beisteht. Als Zwölftes und Letztes spricht eine Frau, die erst vor zwei Wochen die Krankenstation verlassen hat, eine der letzten unmittelbaren Sturmverletzten, die in so etwas wie ein Arbeitsleben zurückkehren konnte und noch immer ein Gerät nutzt, das die Medizintechniker um die deutsche Ärztin Maria Otte entworfen und mit chinesischer Hilfe auch gebaut haben, einen »Rollstuhl ohne Räder«, ein rückenstabilisierendes Gerüst mit gelenkigen Multischienen, von Federn und kleinen Kugellagern zusammengehalten, die die Arme und Beine kräftigen, aber auch verlängern, in flexible Hand- und Fußkissen, die auf Wegen durch die Schwerelosigkeit, insbesondere den langen Tunnels, über integrierte Magneten der Benutzerin erlauben, sich abzustoßen oder festzuhalten, wie sie es jeweils für einen optimal gelenk- und überhaupt körperschonenden Weg benötigt. Es dauert ein wenig, bis Liz Parker, von Aiguo unterstützt, in diesem mittlerweile schon um ein, zwei Teile reduzierten Rahmen, den sie in ein paar Tagen ganz hinter sich lassen wird, aus ihrem Sitz in der ersten Reihe aufgestanden ist. Dann, als alle ihre Blicke auf sie richten und noch das leiseste Scharren, Husten, Sichzurechtsetzen verstummt ist, sagt sie mit fester Stimme:
»Es wird nicht mehr wie früher. Mein Mann ist tot. Ich habe die besten Jahre meines Lebens mit ihm verbracht. Ich habe ihn jahrelang jeden Tag gesehen. Ihn zuletzt jeden Tag gesprochen. Ich lebte in der Erwartung, ihn wiederzusehen. Aber ich habe immer gewusst, eines Tage stirbt er oder sterbe ich, so endet das bei uns. Es war früher als erwartet, aber es war nicht unvorstellbar – ich habe auch nicht gedacht, es würde aus Altersschwäche passieren. Wir haben am Ende nicht mehr oft darüber geredet, irgendwann ist alles gesagt, aber so, wie wir gelebt haben, so gefährlich, war es immer möglich … dass er oder ich damit fertigwerden müssen, dass ich oder er irgendwie gewaltsam ums Leben kommen. Diejenigen, die dafür verantwortlich sind … wir haben alle die Erklärungen von Cordula gehört, das lange … Tutorial letzte Woche, über die Dysoniki, die Unterschiede zwischen den Radikalen in der Aten-Zone und den Gemäßigten in der Apollo-Zone, von denen Cordula uns aufgrund ihrer Geheimdienstinformationen, wie immer sie zu denen gekommen ist, sagt, dass die jetzt an der Macht sind, und dann den Forschern in der Amor-Zone, von denen sogar sie sich verspricht, was Aiguo Sun, unser Kapitän, von allen drei Zonen erwartet: Hilfe, Rat, Unterstützung. To make it up to us – Wiedergutmachung, sagen die Deutschen. Mich interessiert das nicht. Cordula will mit den Amorleuten arbeiten, das ist das große politische Thema hier auf dem Schiff, das Thema, bei dem es nur zwei Seiten gibt – die Seite unseres Kapitäns, dem ich vertraue und den ich bewundere, die Seite, der auch Andrej Sirilko und die meisten technisch Beschäftigten angehören, und dann die Seite der Skepsis, die Seite von Filipa, Leute, die nicht vergessen wollen, was diese … was sie uns angetan haben. Ich habe zu wenig Informationen, ich bin nicht … ich gebe zu, ich drifte schnell ab, wenn es so politisch wird. Ich weiß nicht, woher Aiguo, dem ich unendlich dankbar bin für alles, was er für uns tut, seine Sicherheit nimmt, dass mit diesem Nadar Jepen jetzt unser Hauptfeind tot ist, zumal es ja nicht nur die drei Gruppen gibt, sondern offenbar auch verschiedene Generationen … und zwischen diesen Generationen gibt es wiederum auch … Politik. Ich will davon nichts wissen. Ich will bei dem bleiben, was uns beim Aufbruch begeistert hat, dass wir den politischen crap der Erde … that we can leave all this behind, damit … so we can go somewhere where there’s no politics, no quarrel between Chinese and Westerners, socialists and what I used to call the free world … Ich weiß über diesen Nadar Jepen nur eins: Der wollte genau diese Begeisterung zerstören, der wollte verhindern, dass wir weiterfliegen, bis wir Alexandra Burkhard und die EOLOMEA gefunden haben. I want him to fail. I want us to succeed. That is all I care about anymore. That’s why I will join Filipa when she … wir machen körperliches Training, nicht für den Krieg, sondern damit es weitergeht. Ich will, dass es weitergeht. I want us to win.«
Das knappe, angedeutete Nicken Richtung Podium, wo Andrej noch immer beim kleinen Bücherstapel auf dem Pult steht, lässt keinen Zweifel daran, dass Liz alles gesagt hat, was sie sagen wollte, und als erst drei, vier, dann zehn, dann zwanzig und bald alle im Saal und manche anderswo darauf mit Applaus antworten und sich selbst Aiguo, den sie dafür kritisiert hat, dass er diplomatisch mit den Dysoniki verhandelt und arbeitet, nicht nur diesem Beifall anschließt, sondern als Erster auch aufsteht, was ihm bald der ganze Saal nachmacht, denkt Christian Winseck: Wir sind noch da. Und wir machen weiter.
Vier Tage später hört Christian das erste Mal seit dem Sturm wieder Musik – laute Rockmusik sogar, tiefgestimmte Gitarren, einen massiven Bass, schnelle Beats, komplizierte Melodienführung und ein Geschrei, das ihm italienisch vorkommt. Der Lärm dringt aus dem Trainingsreifenabschnitt, in den ihn Filipa eingeladen hat, die mit Liz und ein paar anderen ihrer neuen »Fitnessbrigade«, wie sie das nennt, einige Übungsroutinen, die Meinhard ihr gezeigt hat, fortsetzen will – »Unter anderem Messerwerfen und Axtwerfen. Ja, guck nicht so«, hat sie gesagt, als Christians Blick ihr nach Zweifel aussah, »ich weiß, dass Liz gesagt hat und dass ich ihr danach beim Essen zugestimmt habe, im kleinen Kreis, dass wir jedenfalls nichts Kriegerisches wollen, schon weil das lächerlich wäre, wie Meinhard immer gesagt hat – wenn die wirklich Waffen haben, die wir noch nicht mal verstehen können, dann, das war sein Mantra, ist die militärische Überlegenheit so groß, dass wir scheitern wie die polnischen Reiter gegen die Nazipanzer im Zweiten Weltkrieg. Aber wenn uns dieser Sturm, diese Katastrophe irgendwas beigebracht hat, dann das: Wir sind nicht mehr auf sicherem Grund und Boden, seit Jahren nicht, wir sind Weltraumäffchen. Wir haben uns durchgehangelt, wir haben Klettern gelernt beim Reparieren, beim Überbrücken, wir werden das weiter brauchen beim Überleben, und das heißt: Das Wichtigste hier draußen ist nicht, wie gut wir rechnen und wie toll wir programmieren können, sondern einfach körperliche Koordination, Turnen, Hand-Fuß-Auge-Abstimmung. Und dafür gibt es nichts Besseres, als Messer und Äxte zu schmeißen. Drei Meter vom Ziel, vier Meter, fünf Meter, nimm das Messer beim Klemmgriff, leg den Daumen der Wurfhand flach auf die Klinge, umschließ sie mit diesen Fingern so, dass der stumpfe Rücken der Klinge auf der Innenhand liegt, und du wirst noch vor dem Wurf ein Gefühl kennenlernen von … du und dein Gerät und das Hirn, das es auf die Reihe kriegen muss, das ist das Modell für alles, was wir hier draußen machen müssen, um zu überleben.«
Weil das für Christian völlig vernünftig klingt, tritt er ein in den Lärm und sieht, wie dort zwar zum Glück mit nichts geworfen wird – das kommt später, bei versiegelten Türen, mit vielen anderen Sicherheitsvorkehrungen –, aber doch Übungen stattfinden, angeleitet von Filipa, bei denen die sieben Schülerinnen und Schüler, die für diese erste Lektion erschienen sind, im Rhythmus der lauten Musik Bewegungen ausführen – Hiebe, Stiche, Parieren –, die für Christian sehr martialisch aussehen.
Filipa sieht ihn in den Saal klettern und ruft: »Geile Musik, oder? Progenie Terrestre Pura, aus Italien. Hatte Meinhard auf’m Rechner!«
Er antwortet laut genug, dass sie ihn versteht: »Na, bisschen brutal, oder?«
»I like it«, lässt Liz sich hören, deren Arme keine Schienen mehr tragen, nur die Oberschenkel haben noch welche, und auf dem Rücken verbleibt vorerst das Leichtmetallkreuz zum Anschluss der restlichen Teile. »I like it just fine!« Sie wiederholt Filipas Boxbewegungen, so dass Christian denkt: Thank God she’s not interested in any war. Dann stellt er sich dazu und fängt an zu lernen.
Eine Woche später, am selben Ort, bei ähnlichen Übungen, sind es schon zwölf statt sieben Leute, die sich von Filipa in Meinhards Künsten unterweisen lassen, eine weitere Woche danach bereits zwanzig. Die Gruppe wächst; Filipa ist stolz darauf, das Wachstum verdankt sich reiner Mundpropaganda. Als Christian eines Nachmittags der Messerlehrerin, ihrer Freundin Liz, die nun ganz vom räderlosen Rollstuhl befreit ist, und beider seltener Besucherin Cordula im geretteten Garten bei der Pflege eines kleinen Kräuterbeets mit Melisse und Petersilie im mäßig feuchten Boden zur Hand geht, traut sich Filipa sogar, die Chefin direkt zu fragen, warum sie sich nicht auch zu »meiner kleinen Turnklasse« gesellen will: »Wir haben einen Haufen Spaß, man kann da wahnsinnig gut Dampf ablassen, und du stehst doch ziemlich unter Druck, nicht, von wegen … diese ganzen Meinungsverschiedenheiten mit dem Käpt’n wegen der Dysoniki, oder?«
»Er hat die Zustimmung der meisten«, sagt Cordula, »da muss ich nicht mit euch Krieg spielen. Die meisten sagen, die Verhandlungen mit Diduk waren richtig, und mehr sagen, die Verhandlungen mit Baklanow, dem neuen starken Mann bei den Dysoniki, sind noch richtiger. Die Hinweise haben uns bei vielen Reparaturen geholfen, und wir sind fast wieder so raumtüchtig wie vorher. Ob wir jetzt unbedingt auch noch diese Andockerei mitmachen müssen, ob wir uns abschleppen lassen sollten bis zu dieser Werft da, ist noch nicht beschlussreif. Ich bin definitiv nicht dafür und werde noch mal versuchen, eine Mehrheit für meine Position zu gewinnen, bevor wir das auch noch entscheiden, aber wir haben nun mal eine Demokratie in diesen Fragen – nicht in allen, liebe Güte, das wäre fürchterlich, aber wenn es um unsere Existenz geht, das muss man ausdiskutieren, das darf man nicht befehlen. Aiguo hat derzeit die Mehrheit.«
»Er hat die Zustimmung«, sagt Filipa und rümpft die Nase, »wenn die Abstimmungsergebnisse stimmen.« Cordula will darauf schon etwas erwidern, da mischt sich Liz ein, merkwürdig ruhig im Ton, aber inhaltlich scharf: »Well, Cordula … what if you don’t convince them? What if we decide to collaborate with the people who murdered our friends?«
Cordula sagt: »If we … wenn es wirklich ein Beschluss eines ›we‹ ist, wenn wir das mit einer signifikanten Mehrheit beschließen, dann tu ich, was ich seit Wochen tu, und ohne, dass ich es bisher hätte bereuen müssen: Dann folge ich Aiguo. Ich kann ja in der Kabine heulen.«
Filipa lacht boshaft: »Oooch, Mitleidsrunde!«
Die Komponistin erwidert: »Es herrscht ein bös Gestirn. Ich muss geduldig sein, bis der Aspekt am Himmel günst’ger ist. – Ihr guten Herrn, ich weine nicht so schnell, wie mein Geschlecht wohl pflegt; der Mangel dieses eiteln Taues macht wohl Eu’r Mitleid welken; doch hier wohnt der ehrenvolle Schmerz, der heft’ger brennt, als dass ihn Tränen löschten: Ich ersuch’ Euch, mit einem Sinn, so mild, als Eure Liebe Euch stimmen mag, messt mich – und so geschehe des Königs Wille!«
Filipa staunt: »Was ist das denn jetzt, der alte Goethe?«
»Shakespeare«, sagt Cordula. »Das Wintermärchen.«
Filipa ist fassungslos: »Du kannst so Zeug auswendig?«
Cordula zuckt mit den Schultern: »Wenn du mit ›so Zeug‹ Klassiker meinst, dann ja, wieso?«
Christian macht einen Scherz, den er ein kleines bisschen ernst meint: »Na, dann könntest du doch … Theater spielen, in unserem ehemaligen Kino, oder? Ein-Personen-Theater …«
»One would have to be one hell of an actor to pull something like that off …«, sagt Liz nachdenklich, und irgendwas in der Betonung des Wortes »actor« erinnert Christian an seine alten, eigentlich längst überwundenen Verdachtsregungen gegen Cordula und an die Frage, ob man einer Person mehr als den sprichwörtlichen Steinwurf weit trauen darf, die ihre Leute einsammelt, indem sie sich unter falschem Namen in Vorlesungen einschleicht, sie mit Perücke und Sonnenbrille am Flughafen anspricht und überhaupt ein Spiel mit Masken, Täuschungen und doppelten Böden spielt, das zwar in der chinesischen Wüste scheinbar beendet wurde, aber ist »scheinbar« hier nicht ein sehr gefährliches Wort? Cordulas Gesichtsausdruck verändert sich so plötzlich und radikal, dass die drei andern gar nicht wissen, wie ihnen geschieht. Sie sieht traurig aus, und ist da nicht wirklich schon ein feuchter Film in ihren Augen, als sie mit zitternder Stimme sagt: »I … I suddenly feel like an … an artist selling a painting he doesn’t want to part with …«, und kaum hat sie das ausgesprochen, sagt sie, als wäre sie ein völlig anderer Mensch, mit gänzlich anderer Mimik, ja, auf subtile, schwer begreifliche Weise mit einem anderen, neuen, fremden Gesicht: »I’ll frame it and keep it in a good light.« Und kaum haben die drei, ihr kleines Publikum, die Ahnung zugelassen, dass sie hier eine Szene aus einem Stück spielt, einen winzigen Dialog zweier Menschen, die sich in gänzlich verschiedenen Gemütszuständen befinden, verwandelt sie sich erneut, ist wieder die andere, die aufgelöste, niedergeschlagene, herzzerreißend traurige Person und sagt: »Do that … and take … care of Jenny, too.«
Als würde jemand mit der Hand etwas von einem Touchscreen wischen, ändert sich ihr Gesicht ein letztes Mal, und Cordula Späth ist einfach wieder die, die sie alle kennen, die Chefin eben.
»Wow«, sagt Filipa, und Liz deutet eine Verbeugung vor Cordula an, bevor sie fragt: »What … was war das?«
»Das waren Billy und Hannah, ein sehr trauriger Billy und eine sanfte Hannah, aus dem Stück California Suite von Neil Simon. Den ihr jungen Leute wohl alle nicht mehr kennt. Ein Unterhaltungsstückeschreiber, oft verfilmt, The Sunshine Boys, Barefoot in the Park, solche Sachen.«
Christian kratzt sich am Hals, denkt nach, dann sagt er: »Vielleicht solltest du das wirklich machen. Diese Ein-Personen-Theater-Shows.«
Sie lächelt und sagt: »Vielleicht sollte ich.«
Sie tut es tatsächlich und erntet Begeisterung.
Die Leute haben die Abende vermisst, an denen Menschen nicht nur etwas vorlesen, sondern den vollen Ausdruck des Erlebens in die Worte legen, Gesichter machen, große Gesten; Abende, an denen sich jemand vorne, vor den Sitzreihen, bewegt, um die Gemüter des Publikums zu bewegen. Besonders gefeiert werden die Phädra von Racine, Brechts Heilige Johanna der Schlachthöfe, bei der Cordula genau die richtige dramatische Höhe findet, hoch über billigem Pathos und platter Propaganda, ein ungeheuerlicher Macbeth (»ich hab echt gedacht, jetzt wachsen ihr live Bartstoppeln, wie sie diesen Irren gespielt hat«, sagt Filipa danach), ein womöglich noch besserer Hamlet (»Sure, it works splendidly, ein dreißigjähriger Prinz, so sieht sie aus, it’s true« sagt Liz) und ein Stück namens Einstein eines Autors aus der DDR, den an Bord zuvor niemand außer Cordula kannte, Karl Mickel, das von dem berühmten Physiker handelt und vom Faschismus in Deutschland, mit Sätzen, die besonders auf Christian großen Eindruck machen, etwa wenn Cordula als Einstein sagt: »Eine herrliche Nacht, die empörte / Einbildungskraft zu verwildern! / Jeder sein eignes Gespenst, grün im Gesicht. / Deutschland steht kopf und redet mit dem Hintern. / Kannst du mich auf den Mond schießen?« Worauf sie sich selbst in der Rolle eines anderen, alten Physikers antwortet: »Du bist verbrannt. Du musst verschwinden. Schnell!« Und Einstein antwortet: »Du warnst mich? Ich hab noch Freunde?«
Nach dieser Vorstellung, es ist die achte in zwölf Wochen seit der Idee am kleinen Kräuterfeld, sitzt ein Rest der alten Runde von Vertrauten und Freunden an einem von allen anderen Tischen außer Hörweite abgerückten Punkt im Restaurant. Es ist nicht die alte Cordula-Runde, die kann’s schon deshalb nicht sein, weil zwei derjenigen, die dazugehörten, nicht mehr leben, und auch Cordula selbst ist nicht dabei, so wenig wie der Kapitän, denn diese beiden haben direkt nach der Aufführung eine Besprechung angesetzt, in Aiguos Büro, über die morgen Mittag anstehende wichtigste bordweite politische Abstimmung seit dem Start, eine politische Tatsache, über die auch die am Restauranttisch bei Pasta, etwas Fisch, viel Gemüse und Wein versammelten vier reden wollen, Liz, Christian, Filipa und Andrej.
Filipa vertritt ihren Standpunkt feurig: »Sie werden es zulassen. Der Schock ist weg, wir dümpeln ein halbes Jahr durch das Nichts, keinem und keiner ist mehr was passiert. Unterm unmittelbaren Eindruck wären viele vielleicht bereit gewesen, was zu riskieren gegen die Dysoniki, irgendeinen verrückten … eine Gegenwehr, Krieg, Rache. Aber jetzt … erst war der Schock da, wie gesagt, dann Angst: Kriegen wir das hin, oder bricht die FRIES auseinander, sterben wir alle ganz schnell? Ich erinnere mich, du hast gesagt, damals, auf der Brücke«, sie schaut Christian an, »wir werden alle sterben, und das haben die meisten gefühlt. Aber dann haben wir alles so weit geklebt gekriegt, die Lebenserhaltungssysteme, und bald auch mit Dysoniki-Hilfe, mit technischen Tipps von diesem Diduk und dann von Baklanow mit den Hindugötter-Armen und dieser unfassbar tiefen Stimme … und jetzt sehen ihn die Leute einfach als einen … mächtigen Verbündeten oder so. Und werden also das ganze Ding zulassen, dass die hier andocken, dass die hier ins Schiff steigen … was immer Cordula da gerade mit Aiguo für letzte Sicherheitsgarantien aushandelt, ob es Bereiche der FRIES gibt, wo diese Typen nicht hindürfen, diese Mutanten da, diese Kinder von denen, mal ganz abgesehen davon, dass sie den Feenstaub haben, der redet, angeblich, diese unsichtbaren … die sollen ja überall hier …«
»Das habe ich, ehrlich gesagt, immer noch nicht ganz verstanden, die Diff …«, wirft Christian ein, etwas verzagt, er mag den quengelnden Klang seiner Stimme dabei selbst nicht.
Andrej lässt ein dezentes Räuspern hören, drei Augenpaare richten den Blick auf ihn, dann sagt er: »Cordulas Tutorial war, glaube ich, besser, als eins von mir oder Aiguo hätte sein können, denn obwohl es hier mehr um Physik geht als um Biologie, hat sie es nicht … sie hat es anders erklärt, als Andrej und ich es erklärt hätten, aber dadurch, glaube ich, anschaulicher …«
»Das war anschaulich, echt jetzt?«, staunt Filipa. »Dieses Zeug mit … sie sind nicht groß, sie sind nicht klein, weil diese Begriffe in den Dimensionen, um die es bei den Diff geht, keine Rolle spielen oder eine ›logisch andere‹ als bei uns? Dass das Dinger sind, bei denen man auch nicht sagen kann, sie sind da, oder sie sind nicht da, weil in ihrer stetigen … wie war das?«
Christian erinnert sich: »In ihrer stetigen Veränderungswelt gilt der Satz vom ausgeschlossenen Dritten nicht. Es ist also nicht so, dass ein Satz über die Diff entweder wahr sein muss oder falsch, so zum Beispiel: Sie sind gerade in diesem Raum hier, das ist wahr, und es ist falsch, und es ist beides, und es ist keins von beidem …«
»Ja«, sagt Sirilko mit einem Geräusch, das einem Seufzer sehr nahe kommt, dann fährt er fort: »Aber sie hat ein paar gute Bilder gefunden, wisst ihr, wenn sie sagt: so wie kleine Feen mit Riesenkräften oder so wie Gespenster oder so wie Schatten, wenn also unsere Welt die der richtigen, wirklichen Materie ist, fermionischer Materie, oder …«
»Aber das ist crazy Physik«, sagt Christian, und Andrej gibt sich geschlagen: »Ich glaube, Cordula, Aiguo oder ich können es vor allem deshalb nur schwer erklären, weil wir es nicht wirklich verstehen. Wir haben alle die Demonstration erlebt – dass diese Stimme mit jedem gesprochen hat und mit jeder an Bord, drei Sätze lang, dass sie irgendwas gesagt hat, was für jeden von uns relevant war …«
»Mir hat sie erklärt, wie ich meinen Kleiderschrank reparieren kann«, sagt Christian.
»Was im Garten«, sagt Filipa. »Ein Vorschlag für die Bewässerung, ziemlich gut.«
»Eine Hilfe bei einem Computerproblem«, sagt Liz mit Widerwillen.
»Ja, und bei mir war es eine Idee zur Rationalisierung eines Arbeitsplans für …« Sirilko findet das zu detailliert und überspringt es: »Jedenfalls, auch wenn einige immer noch denken, das war irgendein Zaubertrick von Baklanow, und andere sagen, sie finden es unheimlich und bedrohlich, nicht zu wissen, ob diese Dinger uns jetzt dauernd überwachen, ob sie Geschehnisse an Bord beeinflussen … jedenfalls sind sich alle einig, dass es etwas Reales ist, keine Halluzination, und was immer es bedeutet, selbst wenn es sich wirklich um einen Trick von Baklanow handelt, es zeigt uns jedenfalls, dass die Dysoniki mit … einer … Ebene der Wirklichkeit Umgang haben, die irgendwie … über dem liegt, was wir erreichen können, dass sie uns einfach überlegen sind. Und diese Überlegenheit, mal von der schlechten Seite abgesehen, dass sie uns wahrscheinlich vernichten könnten … manchen Leuten, gar nicht wenigen, vielleicht den meisten … kommt diese Überlegenheit so vor, als wäre das, wenn diese Leute uns anbieten, uns zu helfen, so was wie ein Himmelsgeschenk, ein Ausweg. Die Rettung einfach.«
Filipa schüttelt wütend den Kopf, macht »Pff, Rettung!« und lässt ihre Salatgabel, die sie eben noch mit einem letzten Bissen zum Mund geführt hat, mit einem Klirrgeräusch auf den Teller fallen, das so laut ist, dass sich einige Leute an anderen Tischen nach ihr umdrehen. Sie zieht den Kopf ein, sagt: »’tschuldigung. Echt«, und wartet, bis die Leute wieder das Interesse verlieren, dann sagt sie nicht allzu laut, aber mit einer Art Zischen und Knurren im Ton: »Ehrlich … das ist doch beschämend. Wir sind hier ein paar hundert Figuren, die es weiter ins All geschafft haben als fast die ganze Menschheit, gut, die Dysoniki sind noch weiter gekommen, aber die haben aufgegeben, die haben sich hier eingerichtet. Die Burkhard ist weiter, so wie sie sind wir hier gewesen, und jetzt … jetzt wollen alle nur noch … es ist, als wären wir ermüdet, also nicht mal vom Sturm plattgemacht, sondern einfach ausgeleiert …«
»Wie eine Feder nach dem Hooke’schen Gesetz …«, murmelt Christian zerstreut, aber man beachtet ihn nicht.
Filipa fährt fort: »Es ist, als ob diese Reparatur an dieser Werft, samt Aufstockung von genetischem Material, Tieren, Pflanzen, alles, was Baklanow uns verspricht, in Wirklichkeit eine Einladung ist, macht Urlaub bei uns, und vielleicht bleibt ihr ja länger. Wer sagt uns, dass die uns überhaupt wieder weglassen? Man muss uns eigentlich nur entwaffnen, dann sind wir prima, dann kann man uns schmeicheln und uns einladen und … aber genau das war der Mord an den SMITH-Leuten, unsere Entwaffnung. Es hätte doch für die Leute, die bei den Dysoniki jetzt das Sagen haben, nicht schöner laufen können, wenn sie das alles genau so geplant hätten.«
Sie lässt den Zusatz weg: Vielleicht haben sie das, aber alle am Tisch verstehen, worauf sie hinauswill. Im ziemlich unbehaglichen Schweigen, das auf diese Bemerkung folgt, sehen die vier einander nicht mehr an, bis schließlich Liz sagt: »It just doesn’t matter. Whatever … Verdacht wir haben, wir hier am Tisch und … und Cordula … wir sind sozusagen vorbelastet. Die Art, wie wir zusammengebracht wurden, das sind alles schon solche … conspirational games. So denkt die Mehrheit an Bord nicht. Cordula kann bei Aiguo vielleicht ein paar zusätzliche … Firewalls installieren, weil sie darin sehr gut ist. Aber wenn die Mehrheit an Bord beschließt, dass wir den Dysoniki die Hand reichen, dann werden wir das tun.«
Sechzehn Stunden später beschließt die Mehrheit genau das.