Am Jupiter fliegt das Schiff so nah vorbei, dass der berühmte rote Fleck auf der Brücke größer aussieht, als die Erde auf derselben Brücke vor Jahren beim Start vom Lagrangepunkt aussah.

Das Schiff schickt Sonden, ohne Wiederkehr.

Sie sollen Daten sammeln, die der Besatzung das bestmögliche Verständnis der Sorte Himmelskörper erschließen können, zu der, wie Jupiter, ja auch ihr Ziel gehört, Neptun.

Die äußeren Planeten des Sonnensystems unterscheiden sich von den inneren sehr grundsätzlich: Merkur, Venus, Erde und Mars haben feste Oberflächen, so lebensfeindlich es auf einigen davon zugehen mag.

Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun dagegen bestehen aus gigantischen Mengen überwiegend gasförmiger Materie und sind der Sonne ähnlicher als dem, was Menschen unter »Planeten« verstehen.

Im Innern der Riesen erzeugt der Druck der übereinanderliegenden Gas- und Flüssigkeitsschichten, unterstützt von anderen Prozessen, ungeheure Hitze, die im Fall Jupiters so groß ist, dass die Fachleute von einem »gescheiterten Stern« sprechen.

Als das riesige Zornauge sich ins Bild schiebt, während der Reifen, zu dem die Brücke gehört, sich um die Schiffslängsachse dreht, empfindet Andrej eine Art heiliger Angst. Weiße Ammoniakwolken in kaffeecremefarbenen Schlieren, Wasserdampf, Wind nach Westen, Ablenkung anderer Strömungen nach Osten durch die Corioliskraft: Das Wetter dort ist eine Gedankenlandschaft, die fast doppelt so viel Wärme abstrahlt,

Das Gebräu am Äquator sieht mild bewegt aus, aber Andrej weiß von den Sonden, dass Stürme dort wüten, mit Windgeschwindigkeiten bis zu vierhundert Stundenkilometer. Zwei der Sonden sind schon verlorengegangen, Opfer, die man dem Planeten gebracht hat, zum Dank für Auskünfte.

Andrej glaubt, die Drehung des Reifens gegen die Drehung des Sturms spüren zu können und beider Rotation gegen die des ganzen Riesenplaneten, der zehn Stunden braucht, sich einmal um die Achse zu drehen, die mit ihm, leicht gegen die zweite, stabmagnetische Polachse gekippt, im Sonnenwind steht, der unterm nördlichen und südlichen Horn das Zittern der Turbulenzen erzeugt, die Andrej dort erkennt, ohne jeden fasslichen Begriff von ihrer wahren Ausdehnung und Macht.

Taisa steht zwischen Andrej und Filipa. Sie ist beinah so groß wie die Frau, in den drei Jahren an Bord nämlich gewachsen, »weil ich das will«, wie sie Filipa erklärt hat.

»Stimmt das, kann sie ihr Wachstum willkürlich regulieren?«, wollte Filipa vom Biologen Karatygin wissen, der aus dem Stab von Eva Sonntag stammt und zu der Handvoll Dysoniki zählt, die an der Reise teilnehmen, im Tausch gegen siebzehn der Irdischen, zehn davon aus China, die im Asteroidengürtel bleiben wollten.

Karatygin erwiderte: »Ja, das kann sie. Sie nimmt dafür gewisse Alterungsprozesse in Kauf, die bei ihr sonst arretiert sind, wie bei allen Dysoniki. Das heißt, wenn sie in einem Jahr so viel wächst, wie man während einer Wachstumsschubphase sonst in drei Jahren wachsen würde, dann altert sie auch um drei Jahre, aufgrund gewisser Besonderheiten des Metabolismus der Kinder sogar um etwas mehr, etwa drei Jahre, sechs Monate. Aber was sind drei Jahre, wenn man physisch beieinander ist wie eine Zwölfjährige und dann eben wie eine Fünfzehn- oder knapp Sechzehnjährige? Sie wird dafür

Filipa fällt es nicht leicht, sich in eine Seele hineinzudenken, die so viel Kontrolle über die eigene Körperlichkeit kennt. Wenn Filipa etwas nicht versteht, dann ringt sie ums Verständnis. »Das ist eure Allerfleißigste«, sagt Diduk zu Aiguo, »solche Leute haben wir kaum, obwohl das doch bei uns Staatsraison ist, das Lernen und Forschen.« Aiguo erwidert: »Es gibt in der deutschen Sprache den Ausdruck ›Flucht nach vorn‹ – ich glaube, Filipa ist so eifrig, weil sie stärker noch als andere von den Härten und Schwierigkeiten getroffen wird, die entstehen, wenn man ständig mit Neuem, schwer Fassbarem konfrontiert wird. Erinnerst du dich, wie sie vor einem Jahr mal drei Monate lang überhaupt nicht mehr mit Menschen Umgang gepflegt hat, sondern nur noch auf den Aussichtsplattformen stand und sich von den Diff hat umschwirren lassen? Und wie sie dy und dx überall hingelockt hat, ins Aquarium, in den Garten, ins Kraftwerk, um das, was Diff dort sehen und hören, mit dem zu vergleichen, was ihre menschlichen Sinne ihr zeigen?«

Diduk zuckt mit den Schultern. »Sie wird eben verstanden haben, dass sie die Zeit nutzen muss, wenn sie mit den Diff zu tun haben will, damit es ihr nicht so gehen wird wie uns, für die in den drei Zonen die Diff Teil der Alltagsumwelt sind. Sie haben’s ja angekündigt, dass sie sich bald ganz verabschieden werden, da hat Filipa das Maximum rausholen wollen.«

Die Diff haben erklärt, dass sie die Expedition nicht weiter als bis auf die Jupiterbahn begleiten werden.

Inzwischen ist die Kommunikation mit ihnen nur noch

Seit Andrej diese Rätselauskunft mit Leuten sowohl aus der Urbesatzung wie mit Dysoniki geteilt hat, gehen auf dem Schiff verschiedene Theorien darüber um, was für Gründe es für die Scheu der Diff geben mochte, von rein physikalischen (»Ich glaube, es hat etwas mit dem geschwächten Sonnenwind zu tun«, meint Andrej selbst) über politische (»Es gibt da draußen die Allianz mit den Dysoniki nicht, die das Fundament des Umgangs der Diff mit Menschen ist«, rät Diduk) bis hin zu psychologisch-kulturellen (»Sie haben einfach Bammel vor dieser Gegend«, vermutet Filipa).

Seit dem Sturm gibt es keine direkte Verbindung mehr zum Licht, und die einzige indirekte, die Filipa noch offensteht, ist der Austausch mit Andrej, den das Licht lange vor ihrer Begegnung mit dem Wunder gelesen hat, Ende der Neunziger, auf Vermittlung von Cordula Späth, ganz wie in Filipas Fall und überhaupt allen Unterrichteten, die Filipa kennt.

 

Seit einiger Zeit bedrängt sie den Russen, er solle das Thema auch denen gegenüber ansprechen, die davon nichts wissen: »Ob der Kapitän zum Beispiel vom Licht gelesen worden ist, das kann ich dir ja nicht sagen, und wenn du meinst, er wäre es nicht, dann …«

Filipas Lider zucken bei der Nennung des Namens der ehemaligen besten Freundin, den sie selbst geradezu zwanghaft vermeidet – sie spricht von »der Gefangenen«.

Liz verlässt seit dem Aufbruch von Ceres, seit Jahren also, nur noch zu seltensten Gelegenheiten das Quartier, das im ersten halben Jahr eine Arrestzelle war und danach der Ort wurde, wo sie sich freiwillig von den anderen absondert. Eine Woche nach dem Start fand eine Art Gerichtsverhandlung statt, in der Aiguo Sun »bis auf Weiteres« den Arrest anordnete, der dann nach sechs Monaten »auf unverdiente Bewährung« (Filipa) ausgesetzt wurde. Aiguo begründete den Beschluss zur Bewährung damit, »dass wir eine zu kleine Gemeinschaft sind, um jemanden dauerhaft auszuschließen und trotzdem zu ernähren. Wenn wir ihr das Recht zubilligen, unsere Ressourcen zu nutzen, dann müssen wir ihr auch Pflichten auferlegen, die mit diesem Recht zu verrechnen sind. Sie muss mit uns arbeiten, von Wartung bis Forschung, und dafür muss sie sich an Bord bewegen können. Rehabilitierung mag auf der Erde eine sozial sinnvolle Doktrin sein, hier ist sie einfach eine energetische Notwendigkeit. Wir können uns nichts anderes leisten, außer einer Hinrichtung. Das ist die Höchststrafe, alles andere läuft zwingend auf das hinaus, was du Bewährung nennst, Filipa. Die Höchststrafe wiederum hätte kein irdisches Gericht über sie verhängt, denn der mildernde Umstand der seelischen Trübung wegen des erlittenen Schmerzes wäre von jeder halbwegs ordentlichen Verteidigung geltend gemacht worden. Cordula hat an ihr ein Verbrechen begangen. Das rechtfertigt den Mord an Rada nicht, aber es beeinflusst das Strafmaß.«

 

Filipa schweigt jetzt trotz Augenzucken auch Andrej gegenüber, als der die ehemalige beste Freundin erwähnt und dann

Filipa seufzt. »Tja, der rätselhafte Asiate als solcher. Was anderes: Glaubst du, dass die Dysoniki vom Licht wissen? Dass welche von denen gelesen wurden? Hat das vielleicht sogar mit der ganzen Spaltung zu tun, mit der Weiterreise von Alex Burkhard? Ich kann mir fast nicht vorstellen, dass … also, ich glaube nicht, dass sie … schau, die Diff können praktisch unsere Gedanken lesen, oder? Das heißt doch auch, dass ihnen klar ist, wie sich das mit den Leuten verhält … die vom Licht gelesen wurden. Und dass sie das nicht mit den Dysoniki teilen, wenn sie’s wissen, kommt mir unwahrscheinlich vor.«

Andrej widerspricht: »Du vereinfachst, wenn du sagst: Gedanken lesen. Sie haben nicht beliebigen Zugriff auf unsere Erinnerungen. Wir haben ja alle mehr oder weniger experimentiert damit, Kommunikation, das Hin und Her mit ihnen, um rauszukriegen, was wissen sie, was hören und sehen und … gut, für diese zusätzlichen Sinne fehlt mir ja bereits das Vokabular, aber sagen wir doch mal …«

Filipa nickt. »Ich weiß, was du meinst. Ich hab auch damit gespielt … es ist, als ob sie nur … wenn wir sozusagen das Wort nicht direkt an sie richten, wird es für sie verschwommen … man kann ja sogar, während man im Kopf mit ihnen redet, was denken, was sie nur vage mitkriegen. Es ist wie beim Reden, nur dass man nicht redet. Ich dachte erst, vielleicht spielen

»Der Vorgang ist strukturerhaltend im Hinblick auf die operative Geschlossenheit des Bewusstseins, wie beim TS.« Er drückt es so präzise aus wie möglich. Filipa bestätigt, etwas freier: »Man lernt das dann im Umgang mit ihnen, so mit der Zeit, was sie hören und was nicht, wie man flüstert, schreit oder was für sich behält. Und insofern hast du recht, sie wissen vielleicht wenig vom Licht, jedenfalls von mir. Und wenn niemand mit ihnen drüber ausdrücklich geredet hat, keine Cordula … tja. Trotzdem, und von den Diff mal abgesehen, wir könnten uns das ganze Heimlichtun sparen, wenn es alle auf dem Schiff wüssten, es wäre ja dann auch mehr so ein abstraktes Wissen, es hat ja keine …«

»Keine operativen Folgen, weil es keine Verbindung zum Licht gibt. Zur Insel. Keine Röhren«, sagt Andrej und setzt nachdenklich hinzu: »Ich wäre mir allerdings nicht so sicher, dass die … Enthüllung nur nützliche und erfreuliche Folgen hätte. Leute tun sich nicht immer leicht mit Informationen, die sie zwingen, ihren ganzen Kontext für Informationen überhaupt zu ändern. Es gibt Menschen, die damit so schlecht zurechtkommen, dass sie … aussteigen.«

 

Filipa weiß, wen er meint, er muss es nicht sagen: Zu den etwa siebzig Leuten, die zu Beginn dieser neuen Etappe der Reise den metabolisch verlangsamten Schlaf gewählt haben, gehört auch Christian Winseck.

Im Gegensatz zu den anderen Schlafenden, die für ihre

Sie sagen, dass sie’s verstehen. Das stimmt auch, aber Filipa nimmt es schwer, dass sie auf der weiteren Reise zwei Leute, Christian und Liz, entbehren muss, deren Denken und Fühlen

Wie ist es, Diff zu sein, wie ist es, Taisa zu sein?

So schwer es für Filipa ist, sich vorzustellen, sie wäre Taisa, so wenig muss sie raten, was die Frau ohne Mund gerade denkt, während ihre Augen durch die Panoramascheibe die Riesenwetterwelt betrachten. Die Verbindung zwischen Filipa und Taisa sitzt in Filipas Hinterkopf. Aber da spürt sie nicht, was Taisa ihr sendet, sondern an einer Art besonderem Ort in der diffusen Ichsphäre, von dem sie vor der Aktivierung dieser Verbindung nicht einmal wusste, dass es ihn gibt – so, wie Leute selten denken, sie dächten »im Kopf«, hat Filipa, wenn Taisas Daten von ihr empfangen, entschlüsselt, verarbeitet, erlebt werden, zu allen ihren sonstigen Wahrnehmungen hinzu, Gesichtssinn, Gehör und so weiter, nicht das Gefühl, das käme »von rechts«, wo die Frau ohne Mund steht. Stattdessen erreicht es sie, wie sie sagt, »irgendwie von oben, wie eine Lichtquelle, die den ganzen Denkraum färbt«.

Faszinierend findet Filipa, dass diese Daten, oft nackte, kalte Fakten, die sie, ähnlich den Propositionen der Diff, gewissermaßen zugleich hört und liest, im Gegensatz zu Diff-Äußerungen eine Art Tonfall oder eine Schrifttypographie (kursiv? fett? unterstrichen?) aufzuweisen scheinen, etwas wie Vortragsbezeichnungen, ein Empfinden dafür, wie sich das, was Taisa da sendet, für Taisa selbst anfühlt.

Jetzt gerade zum Beispiel gibt sie weiter, was sie sieht, wenn sie den Jupiter betrachtet, eine Mischung aus Augenwahrnehmung und Informationen, die sie in Echtzeit von den Sonden empfängt, die sie gemeinsam mit Andrej programmiert hat, und dass sie das, was sie da wahrnimmt, begeistert.

Ein Sinnkonzert: das rote Auge, das weiße Oval, die rotierenden Wolken, auf der Nordhalbkugel im Uhrzeigersinn, auf der Südhalbkugel gegenläufig, dazu Taisas Ahnung, das sei ein

Filipa erlebt das mit und sieht unterdessen anderes selbst, für sich, bei sich: den polaren Scheinfrieden des Riesenplaneten, darunter temperierte Bänder wie Verzierungen auf einer Christbaumkugel, hyperatmosphärische Äquatorflüsse, immer wieder den hypnotischen großen roten Fleck. »Sturm. Das alles ist Sturm«, sagt Andrej mit trockenem Mund, »eine … blitzerne Welt.«

Filipa sagt: »Schönes Wort. Blitzern. Hast du das grad erfunden?«

Er sucht danach wochenlang die Quelle. Er blättert jedes der Bücher durch, die er auf dieser Reise in der Hand gehalten hat, fast alle, die es an Bord noch gibt.

Aber er findet das Wort weder bei Loerke noch bei Arno Schmidt, wo er es zunächst vermutet, und als ihm schließlich einfällt, es könnte bei Hans Henny Jahnn gestanden haben, ist kein Buch von Jahnn da.

»Es muss bei den andern geblieben sein. Auf Ceres. Bei Cordula«, sagt Aiguo sanft, dem der Physiker dem Kapitän seine Irritation darüber klagt, dass er »ganz sicher« gewesen sei, »es hat in dem Jahnn gestanden, und wir hatten doch mindestens drei Bücher von Jahnn auf der FRIES … Auf der FIRAT

Das Schiff heißt nicht mehr nach der Heinlein-Heldin.

»Und HEINLEIN wird’s nie mehr heißen können. Der war zu sehr Marinesoldat, als dass sein Name noch zu einer Mission passt, deren militärischer Arm zerbrochen wurde«, hat Cordula ihrem Freund Aiguo vor dem Abflug erklärt. »Aber es ist eine schöne Tradition hier draußen, dass man die Schiffe umbenennt, wenn eine neue Etappe der Reise ansteht – so, wie Alex Burkhard uns das vorgemacht hat mit ihrer EOLOMEA. Also, lasst euch einen neuen Namen einfallen.«

Diesem Wunsch sind Aiguo und Andrej nachgekommen, mit einem Namen aus der Literatur:

»Firat« heißt ein Mädchen in einer Weltraumerzählung der sowjetischen Autorin Olga Larionowa, ein Kind, das, wie es bei der Dichterin heißt, »alle zehn Sprachen der Sterne« spricht und einem sozialistischen Astronauten »am Meer« begegnet, »da, wo die Welt zu Ende ist«.

Der wichtigste Unterschied zwischen der neuen FIRAT und der alten FRIES ist »die verbesserte Kohäsion« der kleinen Gemeinschaft an Bord, wie Aiguo das nennt. Filipa sagt: »Seit die Dysoniki dabei sind, machen wir alle viel mehr miteinander als

Die Lust am Messerwerfen und Äxteschwingen hat Filipa wegen Liz verloren und nimmt ihr das nach wie vor übel. Sie hat sie deshalb auch schon acht Monate nicht mehr in ihrem selbstgewählten Gefängnis im Schiffsheck besucht, als sie eines Abends im Restaurant durch Zufall am Nebentisch Teile eines Gespräch zwischen Aiguo und Diduk mitanhört, bei dem es um »Problemfälle« inmitten der von Aiguo sonst so positiv eingeschätzten Gesellschaft auf der FIRAT geht – um einen Säufer, eine schwangere Frau mit medizinisch-psychologischen Komplikationen (ihr Kind wäre, käme es zur Welt, das achte an Bord), schließlich aber um Liz und die Frage – so Aiguo –, »wie wir verhindern, dass ihre Zurückgezogenheit allmählich von Leuten als unverdientes Privileg wahrgenommen wird statt als Strafe«.

»Ich kann dazu eigentlich wenig sagen«, erwidert Semjon Diduk, dessen Umsicht und Gewissenhaftigkeit Filipa sehr schätzt. »Wenn ich irgendeine Härte gegen sie fordern würde, könnten mir diejenigen, die zu … wie sagst du? Unbehagen … diejenigen, die zu Unbehagen neigen, würden mir unterstellen, dass ich mich als Dysonik immer noch an ihr rächen will.«

»Das verstehe ich«, sagt Aiguo, »aber wir werden um Härten, wie du es nennst, gegen Liz nicht herumkommen, sonst sieht es eben doch so aus, als würden wir ihr, wie sagt man …«

»Eine Extrawurst braten?«, schlägt Diduk in zweifelndem Ton vor, und Aiguo nickt: »Ja. Und das wäre nicht gut. Die Härten musst du weder anordnen noch dir ausdenken, da fällt

Filipa, die alleine an der Bar einen Kaffee trinkt, merkt auf. Die Idee, die Aiguo seinem Führungskollegen dann darlegt, ohne sich um die Lauscherin zu kümmern, von der er durchaus mitbekommen hat, dass sie lauscht, ist so drastisch, dass Filipa bei allem anhaltenden Groll auf Liz doch Zweifel kommen, ob die Mörderin so etwas verdient hat. Filipa fällt auf, dass Aiguo zwar in Zimmerlautstärke redet, sich aber außer ihr noch mindestens drei Personen in Hörweite aufhalten, was bei einem Strategen wie dem Chinesen keine Nachlässigkeit sein kann. Er nimmt in Kauf, nein: Er will wohl sogar erreichen, dass hier ein Gerücht entsteht, dass sein Plan sich herumspricht.

Als Semjon Diduk mit seiner Erwiderung beginnt (»Ich sehe, was dir vorschwebt, aber du musst bedenken …«), steht Filipa auf und geht.

 

Eine gute Stunde eilt und schwebt sie durch Korridore und Reifen, bevor ihr klarwird, dass sie kein Ziel hat. Sie nähert sich dem Aquarium und merkt, dass ihr nicht nach Schwimmen ist. Sie strebt aufwärts in einer der Radspeichen des Farmreifens, dann wieder abwärts, weil sie auch nichts Landwirtschaftliches tun möchte, und gibt sich schließlich geschlagen: »Na gut. Scheiße. Blöde Ziege.«

Das zischt sie laut genug, dass zwei Mechanikerinnen, die sie dabei passiert, erst zusammenzucken, sich dann nach ihr umblicken und schließlich zu tuscheln beginnen, während Filipa sich auf den Vierzig-Minuten-Weg zum Schiffsheck macht, um die »blöde Ziege« zu stellen.

Sie erinnert sich an ihren ersten Besuch dort; sogar ein müder Wachposten, der penetrant auf einem der geschmacklosen

Jetzt ist kein Wächter mehr da. Aber die Luke bleibt verschlossen, als Filipa versucht, sie durch Drüberwischen am Adressierfeld zu öffnen.

Sie ärgert sich, dass sie hergekommen ist, überlegt einen Augenblick, ob sie wieder fortsoll, dann nimmt ihr ihre eigene rechte Hand die Entscheidung ab, formt eine Faust und haut dreimal kurz, aber bestimmt gegen die Tür. Das erzeugt ein dumpfes, metallisches Krachen, vor dem sie selbst erschrickt, weil es sich durchs Metall des ganzen Schiffes fortzupflanzen scheint. Im Sichtfeld erscheint ein schwarzweißes Bild.

Es ist Liz, kahlköpfig und ungeschminkt. Sie sieht alt aus und geschlechtslos.

Sie sagt: »Was willst du?«

Filipa muss lachen: »Was? Zucker und Mehl leihen will ich, wir sind ja Nachbarinnen.«

Das Feld wird schwarz, die Türsicherung zischt.

Als Filipa den Versuch wiederholt, die Luke zu öffnen, geht das jetzt leicht. Am Rahmen der Tür zieht sich die Besucherin in den Raum und prustet ungläubig, als sie die Kabinenaufteilung sieht: Die Trennscheibe, die auch bei ihrem letzten Besuch den bewohnten Teil des Raums mit Konsole, Schrankfächern, Bett, Spiegel, Sessel mit Anschnallgurten und Nasszelle von einer Art Vorfläche schied, in der man sich auf einem mäßig gepolsterten blauen Stuhl mit Armlehnen festschnallen kann, wenn es etwas zu fragen gibt, ist immer noch da, aber auf der von Filipa aus gesehen rechten Seite dieser Scheibe gibt es jetzt eine etwa einen halben Meter breite Lücke, durch die Liz wahrscheinlich in ihren Lebensbereich und wieder hinausschlüpft.

Es ist ein abwegig trotziges Sinnbild für den grotesken Zustand, in dem Liz hier lebt: als Einsperrvorrichtung ineffektiv, aber doch beschwerlich.

Liz sitzt auf ihrem Häftlingsstuhl, Filipa hebt die Brauen, stützt sich oben gegen die Decke und sagt mit einem Seitenblick auf den blauen, schäbigen Polizeisessel: »Und ich muss diese Scheiße mitspielen jetzt, ja? Obwohl du es ausschließlich selber bist, die sich hier einsperrt und dann sogar trotzdem zur Arbeit geht? Wie’s ihr passt? Die Leute hier tun dir nichts. Du tust ihnen was. Seit den Asteroiden ist das so. Du hast deine Freunde verraten. Mindestens genauso schlimm, wie Cordula uns verraten hat.«

Liz weicht ihrem Blick nicht aus: »Freunde, eh? So … where’ve you been at, girlfriend? You could have come here any time. Beim Arbeiten … Hat dich das Mühe gekostet, nie irgendwo zugeteilt zu werden, wo ich auftauchen könnte? Du wolltest keinen Ärger mit dieser Gemeinschaft hier. Also sind es die Regeln dieser Gemeinschaft, also ist es diese Gemeinschaft, was mich ausschließt. Doch, die Leute hier tun mir was. And by doing what I am doing, indem ich hierbleibe und mich nicht … bewerbe … um Milde, sage ich, dass ich das akzeptiere. I might not entirely respect the way you people go about it. But I accept it. My punishment. I accept it.«

Filipa schnaubt noch einmal höhnisch, dann stößt sie sich mit sanftem Nachdruck von der Decke ab, gleitet zum Stuhl,

Liz zuckt kaum merklich mit den Schultern und sagt aufreizend schlaff: »What’s my … motivation for that? Reue … ist eine Privatangelegenheit, ein … a state of mind. Das geht die Gemeinschaft nichts an. Was du meinst, Reue zeigen, das ist eine öffentliche Sache. Das macht man, wenn man mit der Gemeinschaft was zu tun haben will. I do not.«

»Wegen der Dysoniki? Wegen der Kinder? Bist du Rassistin jetzt? Du hast dich echt beschissen entwickelt seit der chinesischen Wüste.«

Filipa schimpft mit ruhiger Stimme. Liz bleibt unbeeindruckt: »Das könnte ich dich genauso fragen. You used to have a pretty sharp mind. What happened to you? Join a church? Rassistin … if I were anything like that at all, I’d be speciesist, not racist. Diese … Kinder sind keine Menschen. Und die Leute hier werden auch keine mehr sein, wenn wir am Neptun ankommen. Es geht schon los – the little things, modifications … ich sehe, du hast diese Augen. You can see overlays, right? You don’t need … Schnittstellen mit den Computern, true?« Filipa sagt: »Ja, wir haben angefangen, einige der Modifikationen der Dysoniki zu übernehmen. Aber dass du jetzt neuerdings gegen Technik bist …«

Liz lässt sie nicht ausreden: »Und das Ding, the little telephone so the kids can talk to you in their own special language, and you can talk to them … das hast du auch? Ich will als Mensch leben. That’s my choice.«

»Du denkst, Taisa und Ines und Thuja sind keine Menschen? Wo setzt du die Grenze? Laserbehandlung von Kurzsichtigkeit? Zahnreparatur? Herzschrittmacher? Hörgeräte? Brillen?

Filipa löst den ersten ihrer zwei Gurte, während sie sagt: »Okay, du hast alles rausgekriegt, du weißt Bescheid, du hast deinen paranoiden Monolog beisammen. Der Rest ist Suppe und Brot aus dem Dispenser. Du musst nicht mal ins Restaurant. Aber eine kleine Korrektur hab ich für dein Weltbild doch noch. Politik, okay. Ich habe hier an Bord was gelernt, über Politik, was ich auf der Erde nicht wusste.«

Sie löst den zweiten Gurt, stößt sich aber noch nicht ab und sagt: »Kaum zwanzig war ich, und, na ja, einmal hab ich

Liz sieht befremdet aus. Filipa sagt: »Aber hier auf dem Schiff, und bei den Asteroiden, ist mir klargeworden, so läuft das gar nicht. Politisches Verhalten heißt eben nicht, man hat ein Programm, und nach dem handelt man statt nach den eigenen Gedanken und Vorlieben und Wünschen und dem eigenen Gewissen. Die Wahrheit ist: Die Leute machen irgendwas, nach ihrem Kopf, ihren Vorlieben, Wünschen und Trieben, und nur das Gewissen wird vernachlässigt – das halten sie mit ihren Programmen und Überzeugungen in Schach, weil das stört, beim Einfach-so-irgendwas-Machen. Und der Witz ist«, sie stößt sich ab, schaut Liz dabei aber weiterhin an, »dass das nicht nur das Verhalten all der politischen Leute hier und auf den Asteroiden beschreibt, sondern auch deins. Du wolltest dich rächen, und jetzt bastelst du dir eine Theorie über die Sowjets und Kommunismus und weiß Gott was zusammen, damit du damit leben kannst, dass du eine unschuldige Person umgebracht und ein Riesenprojekt, das Hunderte anderer betrifft, fast vom Gleis geschmissen hast. Also: Du passt da ganz genau rein, in diese Politik, die du so verabscheust.«

Liz schnallt sich ebenfalls los und sagt kühl: »I’m sorry you feel that way.«