Christian erwacht von Schritten, die keine sind: Trapptrapp-trapptrapp, trapptrapp.
Als er versteht, dass es sich dabei um seinen Herzschlag handelt, ist er schon bei sich, kann sogar die Arme und Hände und Finger bewegen und sich die Schaumstoffpfropfen selbst aus den Ohren ziehen, die seine Gehörgänge verstopfen.
Christian richtet sich auf. Es ist beschwerlich. Damit hat er gerechnet, denkt er, dann fragt er sich: Wann habe ich damit gerechnet? Wie lange ist es her? Die transparente Klappe über seiner Liegestatt steht schräg von ihr ab. Der Raum ist grünlichweißlich erleuchtet.
Christian fällt etwas ein, Text, deutsch:
In dem Bett aus dem ich herkam
Liegt es sich immer noch unbequem und einsam
Woher hab ich das?
Wann? Christian steigt aus der Schlafwanne. Während er das tut, nimmt er erleichtert wahr, dass die Maschinenfürsorge, die in Kammern wie dieser damit betraut ist, Sicherheit und Wohlergehen der Schlafenden zu gewährleisten, bereits alles erledigt hat, was beim Erwachen nottut: Die Zugänge sind aus Armen und Beinen entfernt und Christians Muskeln hinreichend schwachelektrisch stimuliert worden, dass nicht jeder davon wehtut, wenn er sich bewegt. Ihm ist weder zu warm noch zu kalt, und in einer Plastikhülle warten zwischen zwei Halteklammerteilen an der Wand Unterwäsche sowie ein grüner Overall darauf, dass er sie herausnimmt und sich anzieht.
Während er das tut, dämmert ihm, dass er etwas zunächst nicht vermisst hat, das unbedingt zu seinem Erwachen gehören müsste und nicht von den Maschinen in der Decke erledigt werden kann: Menschen hätten ihn begrüßen sollen. Wo sind sie?
Er sieht keine, wenn er sich umschaut im Raum, der ihm falsch vorkommt. Was stimmt nicht? Der Raum ist kleiner, anders. Als was? Christian horcht, er dreht den Kopf, nach links, nach rechts, senkt ihn, legt ihn in den Nacken, schließt die Augen, nein, auch zu hören ist niemand. Gut, die Tür dürfte sehr dick sein, weil die allgemeine Temperatur rund um diese Schlafwannen … bei dem Gedanken stutzt Christian erneut, sieht sich um, bewusst jetzt, klarer als eben: Seine Wanne ist die einzige im Raum, und der Raum ist höchstens ein Zehntel so groß wie der, in dem er sich hingelegt hat, vor wie viel Zeit auch immer – da waren zwanzig Wannen gewesen, nicht?
Eine. Nur eine. In einem Räumchen, einer – ihm fällt das Wort »Abstellkammer« ein, und er muss fast lachen, ist aber auch entsetzt und greift ohne weitere Überlegung seitwärts halb hinter sich, nach einer der schlaufenförmig gebogenen Stangen an vielen Wänden im Schiff, die Aiguo gegen Cordulas Protest (»Da haut sich jemand den Schädel dran«) nach der Marspassage überall hat anbringen lassen, »damit man leichter vorankommt, zum Sichweiterziehen«. Jetzt beugt Christian den Ellenbogen des Arms, der an der Schlaufe hängt, und lässt sie los. Das wirft ihn durch die Luft, zur Türe, nach deren Griff er die Hand ausstreckt. Aber da ist kein Griff, nur ein graues Feld. Es sieht nicht aus wie ein Bildschirm oder eine Tastfläche, ist aber ungefähr so groß wie Christians Hand. Er berührt es, auch, um nicht gegen die Tür zu prallen, dann stellt er sich mit den Füßen und unter standentsprechender Beinmuskelspannung in den Türrahmen und lässt das Feld los, auf dem, es ist also doch ein Schirm, ein paar Zeichen erscheinen, drei von oben nach unten, drei von links nach rechts, eine Kreuzform. Er kennt die Zeichen nicht. Sind das stilisierte Zahlen zwischen eins und sechs? Buchstaben in gewagter Typographie? Nicht Chinesisch, nicht Latein. Oder doch ein bisschen Chinesisch?
»Fuck, how am I supposed to …« Seine Stimme klingt dünn, dabei heiser, wie tagelang durch Schreien zerrüttet, da nimmt er sich, so gut er kann, zusammen und sagt etwas lauter, klarer: »Die Tür hätte ich gerne auf. Wie soll ich die öffnen?«, als könnten ihn wenigstens die Diff hören. Die Tür öffnet sich. Christian grinst schief, wie man grinst, wenn etwas zugleich leicht peinlich und witzig ist. Die Scheibe, die von ihren Schienenscharnieren hinter den Raum auf den Korridor gezogen wird und dort zur Seite gleitet, scheint dünner als die Türen, die er gewohnt ist. Diese kleine Abweichung vom Vertrauten bemerkt er gar nicht recht, weil er, als er sich am Rahmen hinauszieht, verdutzt erkennen muss, dass der Korridor ihm zwei weitere große Überraschungen beschert: Fenster und Stränge.
Die Stränge verdecken die Fenster ein wenig. Sie gleichen etwa dreifach armdicken Kabelbündeln, weiß, bläulich auch, und hängen nicht sehr straff am Rand der Röhre. Oben welche, unten welche. Einmal, an der leichten Biegung direkt voraus (die Christians verunsicherter Orientierungssinn als »aufwärts« empfindet), sind zwei obere und ein unterer Strang in einem Querbündel miteinander verbunden, in einer Y-Form so dick wie ein Menschenarm.
Das Ganze scheint zusätzlich zu den Christian bekannten Leuchtplatten am Röhrenrand von Eigenlicht erleuchtet. Das ist eine dezente Lumineszenz, die, wenn Christian, der deshalb blinzeln muss, sich nicht gänzlich irrt, an der Y-Verbindungsstelle auch ein bisschen schuppt oder flockt, in kleinen, etwa daumennagelgroßen Plättchen, die an jenem Knotenpunkt von den Strängen abfallen, ein paar Zentimeter links und rechts, oben und unten von den Dingern wegschweben und dann – ja, was? Erlöschen? Zu nichts zerfallen?
Christian schluckt trocken, etwas schmerzhaft, und denkt: Gut, dass diese Stränge nicht rot sind oder braun, nicht feucht vor allem. Sonst sähen sie wie Adern aus.
Sowenig die Stränge Adern gleichen, so deutlich regt sich jetzt eine fast genauso unangenehme andere Assoziation: Nervensystem, Ganglien – das Y sieht aus wie eine Biege vor einer Wurzel oder ein Grenzstrang. Andere Abschnitte, in der Richtung, die Christian für sich als »hinten« bestimmt, gleichen einem Plexusgeflechtsabschnitt, vielleicht am Hals, an den Lenden, am Arm – das Schiff als Organismus, denkt Christian mit einem leichten Anflug von Übelkeit. Sie haben es zum Lebewesen umgebaut und dabei offenbar nicht bedacht, dass die normale Klaustrophobie so noch einen zusätzlich abscheulichen Zug ins Morbide kriegt, denn wer will schon in den Eingeweiden eines Lebewesens wohnen, außer ein Symbiont oder ein Parasit? Christian schiebt den Gedanken weg, so gut es geht, und stößt sich von der Außenwand der Kammer, in der er zu sich gekommen ist, mit beiden Beinen so ab, dass er dem ersten der Längsfenster entgegendriftet, die wenigstens geeignet sind, das Eingesperrte an seiner Lage etwas zu relativieren: Man kann jetzt rausgucken.
Er gibt sich Mühe, keinen der Stränge zu berühren, was gar nicht so einfach ist. Beugebewegungen, Streckbewegungen und leichte Torsionen im Schwebeflug verlangen ihm feinste Koordination der Gliedmaßen ab, eine der von Aiguo angeordneten Stangenschlaufen direkt überm ersten der etwa sechzig Zentimeter breiten, etwa anderthalb Meter langen Fenster rettet ihn schließlich, nach der greift er, zu der zieht er sich, dann stabilisiert er seine Position, stellt einen Fuß unter dem Fenster gegen die Wandung und schaut hinaus.
Mehr Sterne, als er gewohnt ist … stimmt das?
Ist das hier überhaupt sein Schiff, ist das die FRIES, die er kennt, auf der er sieben wache Jahre lang gelebt, gearbeitet hat? Eine Bewegung relativ zum Sternenhintergrund ist nicht zu erkennen, aber wenigstens das kennt er schon, vom langen Weg zwischen Erde und Asteroidengürtel her.
Wenn er sich noch auf der FRIES befindet, dann hat man ihn nicht nur aus dem alten Schlafsaal an einen neuen Ort verbracht, sondern das Schiff auch umgebaut, mittels Technik, die er weder kennt noch versteht. Wozu Fenster auf den Korridoren? Wenn aber nicht auf der FRIES, wo ist er dann? Naturwissenschaftler, denkt er, könnten mit dem, was ich hier sehe, etwas anfangen. Sie wüssten, was sie tun müssen, um diesen Strängen, diesen Fenstern, dieser kleinen Kältekammer Informationen zu entlocken – anfassen, anschauen, dran riechen.
Ich aber? Ich frage Leute, ich habe mein Leben lang Leute gefragt. Ich hole mir mein Wissen aus der Gemeinschaft, zu der ich gehöre, und wenn ich mal keine Person befrage, dann befrage ich Dinge, die von Personen mit Absichten hergestellt wurden: Texte.
Ein verborgener Teil der Seele des Verwirrten weiß zwar, dass das so glatt nicht aufgeht, insofern auch Wissenschaftler ja andere Wissenschaftler fragen, sobald die Wissenschaft über individuelle Kinderneugier hinausgeht. Umgekehrt ist auch die Philologie sachbezogen, wenn man rauskriegt, wo ein Text herkommt, den man liest. Christian ignoriert das alles und handelt direkt nach dem Befund, das heißt, er ruft: »Hallo? Anyone? Ich bin wach! Hello? Hilfe! Help! Jio Ming! Hallo?«
Die Stimme ist schnell erstarkt, sie trägt recht weit. Keine andere Stimme antwortet, er lauscht etwa eine Minute lang, ruft noch mal, lauscht wieder – klopft da etwas? Ein hohles Pochen, zweimal. Wo? Er schaut nach vorn, nach hinten. Vorn. Es war vorn. Sicher? Er ruft noch mal: »Hallo?«
Das Geräusch wiederholt sich nicht. Er weiß, dass ihm, da er sich seine Abhängigkeit von Menschen, die ihm sagen, was los ist, eingestanden hat, keine Wahl bleibt als die Suche nach solchen Menschen. Er muss den Gang hinunter oder hinauf und dabei riskieren, eins der weiß und blau schimmernden Nervenkabel zu streifen.
Wovor fürchte ich mich eigentlich? Vor einem Kurzschluss zwischen diesen Nerven und meinen eigenen? Er zögert noch einen Augenblick, weil er sich über sich selbst ärgert, dann verändert er seine Position, bis er sich so gegen den Abkommpunkt stemmen kann, dass er beim Loslassen der Schlaufenstange ungefähr die Mittelachse des Raums entlangschwebt, in die Richtung, die er als »vorne« identifiziert hat, vorbei an zwei weiteren der länglichen Fenster.
Es gelingt ihm nicht, die Äquidistanz zu den Strängen rechts, links, oben und unten zu halten, weil er’s bewusst versucht und damit unnatürliche, willkürliche Bewegungen der Arme und Beine sich ergeben und weil die routinierten, lang bekannten, tausendfach erprobten Abläufe, mit denen er sich jahrelang ohne jede Bewusstseinsleistung, wie beim Fahrradfahren, durch solche Korridore gezogen, gestoßen, gewichtet und gewuchtet hat, nicht sicher sitzen. Daher treibt er schließlich etwa anderthalb Meter vor dem Y-Punkt so weit nach rechts, dass er keine andere Möglichkeit mehr hat, als sich mit der rechten Hand erneut abzustoßen, die dabei aber einen der Leuchtzöpfe nicht nur streift, sondern sogar, eine Fehleinschätzung bei Christians nervösem Seitenblick, mitten hineingreift. Das Zeug ist weich, aber nicht zu weich, warm, aber nicht körperwarm, trocken, ein wenig gummiartig.
»Äehh!« Ein Seufzer des Erschreckens entfährt Christian, dann bemerkt er, dass das Kabel seinem Griff nicht nachgibt, seine Form und Lage, seinen Bahnverlauf nicht ändert, als Christians Körpermasse dranhängt, obwohl es weich und formbar scheint und ein Glasfaserkabel in Gummihülle sich vermutlich leicht verformen würde, zöge er sich daran in Richtung Wand. Diese Festigkeit beruhigt ihn, und er beginnt bereits, das Ding mit der freien Hand abzutasten, um vielleicht doch wie ein Wissenschaftler vorzugehen – womöglich, denkt er, kann mir mein Tastsinn ja helfen, herauszukriegen, womit ich es hier eigentlich zu tun habe. Da hört er eine Stimme sagen: »… keine zulässige Konklusion …«, und eine andere: »… aber wenn ein definiertes Konnektiv …«
Dann überlappen sich die Stimmen, reden gleichzeitig, beide deutsch, beides Männerstimmen, und Christian hört nur mehr einzelne Wörter: »halbwegs«, »Fehler«, »rekursiv«, »inkonsistent«, die ihn einerseits verwirren, andererseits freuen, denn sie kommen aus der Richtung, in die er sich bewegt hat: vorn, nach der Aufwärtsbiege, nach dem Y, vor dem er jetzt keine Angst mehr hat – es teilt den Korridor quer, er wird es streifen müssen, wenn er dran vorbeiwill.
Er gleitet zwischen dem Y und der Wand hindurch, tritt mit dem rechten Fuß auf den Knoten unten am Y, stößt sich sanft ab und schwebt auf drei Männer zu, die an einer weiteren Biegung nahezu statisch im Raum schweben. Nur einer hält sich an einer der Stangen fest, nur der sieht ihn. Die anderen beiden schauen an ihm vorbei, nein, nicht nur an ihm, sie schauen auch die Fenster, die Stränge, die Wände offenbar nicht wirklich an, ihre Augen wirken leer, sie sprechen, sie sagen: »… intuitiv nicht«, oder: »… hab ich, hab ich, weiter unten …«, aber nicht zueinander, sondern wie beim Murmeln, Raunen, wenn man etwas auswendig zu lernen versucht – abwesend, denkt Christian und dann: Nein, abwesend ist nur ein anderes und leicht verkehrtes Wort für hochkonzentriert, wenn man – ja, was tun die?
Er erkennt zwei von ihnen, einen der Murmelnden und den, der an der Stange hängt. Es sind beides Chinesen.
Er muss ein bisschen im Gedächtnis kramen, dann fallen ihm die Namen ein: Li Tieying und Yang Bin, nein, Yang Baibing, genau, mit beiden hat er trainiert und mit Yang auch mal gearbeitet, der ist Programmierer, er hat ihm bei den Textgeschichten geholfen.
Der Dritte, der jetzt »… zwei, nein, nicht … nicht drei, sondern zwei Zeilen tiefer …« sagt, könnte ein Deutscher sein oder einer von Semjon Diduks Russen, er ist der Jüngste der drei und Christian persönlich völlig unbekannt.
Dass er deutsch spricht, beschert dem Linguisten die erste auf seiner Fachkompetenz basierende Erkenntnis seit seinem verstörenden Erwachen: Dass auch die Chinesen jetzt wahrscheinlich fast nur noch deutsch reden, und zwar sogar bei offenbar technischen, arbeitsbezogenen, jedenfalls irgendwie wissenschaftlichen Dingen, ist eine direkte Konsequenz daraus, dass die Dysoniki an Bord sind. Der Dunbarkreis der meisten ist gesprengt, wir sind definitiv eine große Gesellschaft jetzt, eine Stadt mindestens, es wurde ja auch angebaut auf Ceres, und wenn man also Chinesen hat, die Deutsch können, und Russen, die’s auch können, warum sollten die Chinesen dann Russisch lernen und die Russen Chinesisch? Cordulas Idee hat das Deutsche an Bord gestärkt.
Christian greift mit der Linken nach einem Ringwulst des Korridors, hält sich fest, hebt die Rechte, um Yang Baibing, der nicht brabbelt und ihn ohnehin ansieht, gestisch zu begrüßen. Der Gruß wird nicht erwidert, weder mit einer Bewegung noch mit einem Wort. Irritiert und schüchtern halblaut sagt Christian: »Hallo? Baibing? Ni Hao …«, und als der ihn weiter ansieht, aber nicht wahrzunehmen scheint, versucht Christian es beim anderen Bekannten: »Tieying? Ni Hao …«
Der jedoch beginnt wieder zu brabbeln: »… der Kern … ja, der zweite … der zweite Kern hier, ich … markiert, ja …« Plötzlich weiß Christian, woran ihn das erinnert: Leute, die telefonieren, mit dem Handy, in der Öffentlichkeit, und dabei wirken, als würden sie verrückte Selbstgespräche führen, wenn sie ein besonders unauffälliges Ohr- und Mikrophon-Arrangement tragen. Ein Gespräch also, mit Leuten, die man nicht sehen kann, und Baibing führt wohl auch eins, nur dass der nichts sagt, sondern zuhört, wahrscheinlich, weil die Person am andern Ende der Verbindung einen sehr langen Monolog hält. Mindestens unhöflich freilich findet Christian bei allem Verständnis dafür, wie sehr ein ernstes fachliches Gespräch den Verstand beanspruchen kann, die völlige Nichtachtung seiner Anwesenheit durch die drei Männer; außerdem mehr als verwunderlich, denn dass Tieying deutlich ergraute Haare hat und Baibing eine Glatze, deutet für ihn darauf hin, dass mehr als nur ein paar Wochen oder Monate vergangen sind, seit er sich in die Schlafwanne gelegt hat.
Da die meisten an Bord ihn als ein Mitglied des inneren Kreises von Cordula Späth kennen, hält er sich für prominent genug, etwas Aufmerksamkeit beanspruchen zu dürfen, wenn er nach … Monaten? Eher doch wohl, nach dem Aussehen der beiden Chinesen zu schätzen: Er darf Beachtung erwarten, wenn er nach mindestens fünf, eher acht bis zehn Jahren aus seinem Tiefschlaf erwacht. So schiebt und zieht er sich nah an den jetzt schweigenden Tieying, direkt ins Zentrum von dessen Gesichtsfeld, hebt abermals die Rechte und sagt: »Hallo? Ich bin zurück aus dem errr … ewigen Eis und würde gern …«
Weiter kommt er nicht, denn der Chinese zieht, während er den Erwachten zwar anschaut, aber zugleich durch ihn hindurchzublicken scheint, ein so unwilliges, ja wütendes Gesicht, dass Christians Befremden sich zu Bestürzung wandelt, und wischt dann tatsächlich mit der linken Hand nach ihm, als wäre der Amerikaner eine Stechmücke.
Die Bedeutung der Geste ist nicht falsch zu verstehen: Hau ab, siehst du nicht, dass du störst? Aus Bestürzung wird Empörung.
Ohne langes Nachdenken greift Christian nach der Hand, die ihn wegwischen will, packt sie am Handgelenk und kassiert zur Strafe dafür einen Schlag ins Gesicht mit der freien Rechten des Angegriffenen, der so heftig ist, dass Christian es an der Nasenwurzel knacksen fühlt, nach hinten gegen die Ganglienkabel geworfen wird. Dabei sieht er, dass der Chinese hinter sich greift, weil er wegen des Rückstoßes seines Schlages sonst an die Wand prallen müsste.
Der Schläger fängt sich selbst ab und beginnt, wieder zu reden. »… da fehlt … ein Schritt … nein … hör mal …« Die anderen beiden Männer scheinen nichts bemerkt zu haben. Sie schauen nicht einmal her. Auch sie reden jetzt wieder in abgehackten Argumentfragmenten, und Christian ist völlig ratlos, tief gekränkt und brennend beunruhigt: Der Schmerz im Gesicht zieht ihm die Stirn hoch, heiß und schneidend.
Er tastet mit der Linken seine Nase ab, auch an den Nasenlöchern: Ist da Blut?
Er betrachtet die Finger: kein Blut, thank God, einen panischen Moment lang hatte er geglaubt, der Kerl habe ihm vielleicht sogar die Nase gebrochen. Verblüfft, voll Schamzorn sagt er: »Arschloch! Was … was glaubst du eigentlich … Ah, Scheiße, das tut richtig weh. Sheesh. Really, man. Gunkai!«
Vorsichtig nähert er sich dem absurden Trio, da nimmt der Russe oder Deutsche eine beunruhigende Haltung ein: Die rechte Hand wird Faust, der linke Fuß schiebt sich unter ein Bündel der Nervenkabel, so als mache sich der Mann bereit, seine seltsame Abgelenktheit mindestens so vehement zu verteidigen wie gerade eben Tieying. Reflexhaft schwingt Christian mit dem rechten Arm unter sich, dreht sich daher von der Dreiergruppe weg, fasst mit beiden Händen eins der Kabel oberhalb und zieht sich an den Männern vorbei in die Richtung, die für ihn immer noch »oben« ist.
»Insane. This is just … insane«, sagt Christian zu sich selbst, weil er es aufgegeben hat, mit den Männern ins Gespräch zu kommen. Er spürt, wie die Unsicherheit, die ihn vor der scheußlichen Begegnung angegriffen hat, zu echter Angst wird: Was ist hier los? Wieso bin ich alleine aufgewacht, was für schlechte Neuigkeiten erwarten mich noch?
Bang schaut er sich um, nun, da die Kurve hinter ihm liegt, und entdeckt mit leisem Aufstöhnen ein Zeichen, das ihm endlich verrät, dass er sich tatsächlich auf dem Schiff befindet, das er als PODKAYNE FRIES kennt, da die Gespräche darüber, wie’s zukünftig heißen soll, zum Zeitpunkt seines Schlafantritts gerade erst begonnen hatten: eine verwischt, verwaschen teilabgeblätterte und daher lückenhafte weiße Aufschrift »SA L 4«, daneben das entsprechende chinesische Ideogramm. Es geht zum Saal 4 hier, dem ehemaligen Kino, dann Vortrags- und Tanzsaal. Die Wandschrift hat Christian oft gesehen und am Ende, kurz vor dem Andocken an der Asteroidenwerft, längst nicht mehr bewusst zur Kenntnis genommen.
Jetzt, da er orientiert ist, muss er sich entscheiden, was er als Nächstes tun will. Er kann vorwärtsstreben, Richtung Brückenring, den er, falls ihn nichts und niemand aufhält, in weniger als einer halben Stunde erreichen könnte. Dort hat die Missionsleitung zweifellos Antworten auf seine Fragen. Er kann sich aber auch umdrehen und rückwärts Richtung Triebwerk bewegen, wo das Personal der Forschungseinrichtungen womöglich noch bessere Auskünfte erteilt. Er kann es noch einmal mit den drei schrecklich verwandelten, stumpf bedrohlichen Männern versuchen. Statt dass er aber eine dieser Möglichkeiten nutzt, fällt seine Wahl auf eine andere: Er will zum Kinosaal, weil der in seinem Kopf für Geselligkeit steht, für positive, kommunikative Gemeinschaftserlebnisse, und weil in der Nähe dieses Raums Datenschnittstellenkonsolen für die Archive untergebracht sind, die er bei sich immer den Bibliotheksleseplätzen seiner Jugend gleichgesetzt hat.
Wenn irgendwo auf diesem Schiff noch Leute sind, mit denen sich vernünftig reden lässt, dann da. Die künstliche Schwerkraft dort ist ein erwünschter Bonus. Was sein Körper jetzt tun muss, sitzt tief in der muskulären und neuronalen Erinnerung, so oft hat er es getan: sich neigen, sich drehen, rechts abstoßen, links zugreifen, langsam um den Rand zur linken Abzweigung der T-Kreuzung schwingen, den Zugang zur Konversionsrutsche in die Radnabe finden, den ganzen Leib strecken, um ihn in den leichten Luftzug dort wie ein Auto in einer Ausfahrt einzufädeln, wieder abstoßen, greifen, ziehen, abstoßen, dann »steigen«, bis sich das wie »steigen« anfühlt, begleitet von leichtem, nur mehr physischem, seelisch längst assimiliertem Trudelschwindelgefühl.
Kaum zehn Minuten später steht Christian vor der verschlossenen Doppelflügeltür zum alten Kino. Unterwegs ist er keiner weiteren Seele begegnet.
Die Verletzung am Nasenknochen pocht. Als er die Hand an den Druckhebel legt, der ihm erlaubt, die linke der beiden Türhälften aufzuziehen, kommt ihn einen Augenblick lang die Vorahnung an, der Raum könnte, wie tagsüber meist, völlig leer sein.
Die Wahrheit sieht anders aus.
Der Raum ist voller Menschen, mindestens vierzig, eher sechzig. Die Sitze fehlen, die Christian kennt – man hat sie im Boden versenkt wie bei Tanzveranstaltungen, und auf diesem Boden liegen nun die Leute, wach, atmend, mit teils geöffneten, teils geschlossenen Augen, verstreut, meist auf dem Rücken, manchmal auf der Seite. Die meisten schweigen, einige aber reden immer wieder einzelne Wörter, und als Christian näher tritt und zwischen den kleinen Gassen herumgeht, die von den ungeordnet daliegenden Leibern gebildet werden, um nach Leuten zu suchen, die er identifizieren kann, kommt ihm das, was er da hört, gleich bekannt vor: »… nicht dieselben Elemente … extensional … nein …«, »… hast du ein Schema für … Ersetzung, eins für Aussonderung …«, »Vereinigungsmenge«, »sag ich doch, rekursiv …«, »… zurück zur Extension aber …«, »… im Axiomenbestand …«
Das Vokabular, die Betonung, die gedämpfte Laustärke, selbst die leeren Blicke der Sprechenden gleichen dem Phänomen zwischen dem Y der Stränge und dem T der Kreuzung vor der Saaltrommel. Sie sehen ihn nicht – er geht ein-, zweimal in die Hocke und winkt ihnen direkt vor dem Gesicht hin und her, er nähert sich dem einen oder der andern mit der Fußspitze, sie reagieren nicht – er nimmt an, dass er sie erst berühren müsste, wie vorhin den Schläger auf dem Korridor, und dass er dann eine Reaktion bekäme, die von diesen Leuten wohl so wenig bewusst ausgeführt würde, wie das – erst jetzt dämmert’s ihm – vorhin bei dem Chinesen der Fall war.
Er erkennt jetzt einige: Das dort, kaum gealtert, aber im Gegensatz zu früher ohne Brille, ist Chen Wenhong aus der Energiegruppe, zwei Reihen weiter liegt Sabine Adev von der Klimawartung, hier vorn jemand namens Gao (oder Chao?), der in diesem Saal mal einen sehr interessanten Vortrag über das Ende der Ming-Dynastie gehalten hat, dann eine Katja, von der Christian nur wusste, dass sie gern Liz und Filipa im Garten half, und da, direkt neben ihm, liegt mit halbgeöffneten Lidern, in tonlos unverständlichem Flüstern versunken, fusselig weißbärtig und mit vielen Falten an den Augen und auf der Stirn und um die Mundwinkel, die er früher nicht gehabt hat, Andrej Sirilko.
»Hey, du da! Christian? Christian! Christian Winseck? Bist du’s wirklich?«
Er fährt herum und hebt die Hände als Fäuste vors Gesicht, wie er’s beim Boxtraining von Meinhard Budde, dann von Filipa Scholz gelernt hat. Aber in der geöffneten Tür steht kein Angreifer, sondern Heike Breuer, die Pilotin und später Biotechnikerin, die damals beim ersten Besuch der Dysoniki auf der PODKAYNE FRIES durch beleidigende Bemerkungen beinahe einen diplomatischen Eklat ausgelöst hätte.
»Na!«, sagt sie und grinst. »Willkommen unter den, na ja … letzten paar Wachen?«
Sie zieht die Schultern dabei komisch hoch und blickt sich theatralisch um, als wollte sie sagen: Wach kann man das hier ja nicht nennen. Dann senkt sie die Arme wieder, kommt auf ihn zu, streckt ihm die Rechte entgegen und sagt: »Welcome back, oder?«
Er nimmt die Hand, was soll er sonst tun, und schüttelt sie geistesabwesend. Heike sagt: »Ich bin die Heike Breuer. Aus der Bio. Ich sollte eigentlich draußen stehen und den Saal zum Spinnen bewachen, dass nicht noch einer von den Zurechnungsfähigen reinstolpert und die Orgie stört …«
Er sagt, als sie seine Hand loslässt: »Ja, ähm, ja, ich weiß, wer du … Heike. Hallo.« Dann weiten sich seine Augen, als er beim Blick auf die Liegenden, Wispernden, Faselnden bemerkt, dass einige sogar glänzende Unterlippen haben, dass da Speichel fließt, dass sie sabbern. Er sieht Heike hilfesuchend an, wobei ihm auffällt, dass sie etwas älter wirkt, als er sie kennt, aber nicht so deutlich gealtert wie die Chinesen draußen oder Andrej Sirilko – ein paar Krähenfüße, sympathisch, angedeutetes Knittern auf der Stirn –, und er fragt: »Was ist mit den Leuten los? Den Leuten hier?«
Heike seufzt und sagt: »Das ist nur, weil der Rechner sich in die Hose macht, weil … er hat ein kleines Loch, eine kleine Verletzung in Zermelo-Fraenkel gefunden, das heißt … eigentlich in Neumann-Bernays-Gödel, und jetzt schieben sie alle eine Mordsangst, weil sie denken, die Arithmetik kracht zusammen und man kann nie mehr rechnen. Was am Ende genauso unbegründet sein wird wie die Angst, das Universum würde sich auflösen, als vor vier Jahren der Rechner rausgekriegt hat, wie sehr die Welt tatsächlich Mathe ist, durch die Sirilko-Gegenprobe. Das war ein Verfahren, dass der Andrej da drüben«, sie nickt in seine Richtung, »sich hat einfallen lasen, ganz clever, um die alte These der computationalen Äquivalenz aus dem axiomatischen Status zu lösen und zur überprüfbaren Hypothese zu machen. Da ham sie denn rausgekriegt, Mathe ist tatsächlich das Universum, oder jedenfalls diese Mathe ist dieses Universum, wir ham ja, seit Aiguo Sun und Andrej uns erzählt haben, dass Cordula Späth auf dem Krankenbett ihnen die Missionsänderung mitgegeben hat, nämlich, dass es nicht darum geht, die Alexandra Burkhard einzuholen, sondern die gesamte Naturwissenschaft zu … checken, neu aufzurollen, im Licht der Andeutungen von Frau Burkhard, damit wir nicht so überrascht sind, wenn wir ankommen und irgendwas Irres finden, was unserer gesamten bisherigen Denkweise widerspricht, weißt du, andere Regeln, andere Lichtgeschwindigkeit, andere Feinstrukturkonstante, so Zeug … und dann wurde es mal wieder nicht so heiß gegessen. Denn als man dann gesehen hat, alles ist in ’nem gewissen Sinn wirklich Mathe, hat trotzdem nich der Plato gesiegt, und die Welt löst sich nich einfach auf, was die befürchtet hatten, die meinten, Mathe, das wär eigentlich nur ein System von Tautologien, codiert in, ähm, Gleichheit, Äquivalenz, Isomorphie und so was, und wenn die Welt Mathe ist, dann is sie tautologisch und redundant und … nein, es war nich so, und deshalb wird jetzt umgekehrt so wenig, wie die Physik daran zerbröselt ist an dem Mengenlehreding, die Mathe zerbröseln, das ist nur so ’ne Panik, da kommt man genauso leicht raus wie aus dem Russell damals, halt mit Klassen oder einem Grothendieck-Uni…«
»Stopp, stopp, stopp«, hustet Christian, völlig überfordert, und dann noch einmal richtig laut: »Stop!«, dass sie zurückzuckt, aber auch lacht. Da muss er selbst den Kopf schütteln und sagt in eher fröhlicher, weil plötzlich um allerlei innere Spannungen ärmerer Resignation: »Sorry. Okay. Was? Zermelo was? Gödel wie?«
Sie winkt ab: »Mengenlehre. Das, womit se vor hundert Jahren eine Grundlage für die ganze Mathematik überhaupt, also auch für das Rechnen mit den gewöhnlichen Zahlen, schaffen wollten. Da gibt’s dann verschiedene Systeme, die nach den Leuten heißen, die sie entwickelt haben – eins ist von Zermelo und Fraenkel, eins ist von Gödel, Von Neumann und Bernays. Aber Gödel selber hat eben auch gezeigt vor, ja, vor ziemlich genau hundert Jahren, dass das nicht geht – dass kein formales logisches System, auch kein mengentheoretisches, sowohl widerspruchsfrei wie auch reichhaltig genug für die gesamte Arithmetik sein kann … da hat man es eigentlich aufgegeben, aber der Bequemlichkeit halber, und nicht nur deswegen, hat man trotzdem viel mit den Mengen gemacht. Es war ja auch nicht so, dass man nicht schon vor diesem Gödel’schen Unvollständigkeitsding gewusst hätte, dass die Mengensache ein paar Macken hat. Es gab das Russell-Paradox – na, die Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten …«
Christian schwirrt der Kopf, und er sagt’s: »Die Menge aller … öhm … ähm?«
»Na, das ist doch, wenn du … meine Chefin hat’s mir damals so erklärt: Angenommen, du hast in einem Dorf einen Friseur, und der schneidet allen die Haare, die sich nicht selbst die Haare schneiden. Die Frage ist: Schneidet er sich die Haare? Wenn er es tut, tut er es nicht. Denn wenn er sich die Haare schneidet, gehört er nicht zur Menge derjenigen, die sich nicht selbst die Haare schneiden. Aber er schneidet ja genau all denen die Haare, die sich nicht selbst die Haare schneiden. Dann muss er sie sich selbst schneiden, wenn er die alle bedient, aber gerade das …«
»Ein Widerspruch. I get it.«
»Eben. Na, und die Mathematiker ham dann doch jahrzehntelang versucht, die möglichen Macken zu finden, nach Gödels Beweis, ob irgendwas nicht stimmt mit ZF oder NBG, aber bis jetzt … gut, aus dem Russell ist man rausgekommen, indem man über die Mengen hinaus die Klassen einführte … also, jede Menge is ’ne Klasse, aber nicht jede Klasse ist ’ne Menge, Mengen sind definiert als alles, was noch zu irgendeiner anderen Menge gehört, okay. Aber was könnte faul sein an ZF oder NBG, das ist damit ja nicht beantwortet, da ham sie dann gesucht, und ein Dreivierteljahrhundert lang, also exakt: bis heute, war nix aufgetaucht, nur dann hatten wir hier diese Sache mit dem mathematischen Universum, der computationalen Äquivalenz, und als das klar war, ja, alles ist in gewissem Sinne Mathe, hat sich unser ganzes Interesse hier Richtung Mathe verschoben …«
»Die Sprache der Natur. Hat Alexandra Burkhard immer gesagt, laut meinem Vater. Und ihr seid die Linguisten der Natur geworden.«
»Schönes Bild.« Sie nickt, und er schüttelt den Kopf: »Sorry … einen Schritt zurück. Die Leute hier … die machen irgendwas mit … dem Rechner, dem Schiffsrechner, die sind irgendwie … sind die so verbunden mit dem Computer, wie diese kleinen Kästchen uns mit den Kindern der … ist es so was?«
Sie schaut ihn verwundert an, dann hellt sich ihr Gesichtsausdruck auf, als sie versteht, was er meint, und sie sagt: »Mann, du warst … wie lange warst du … im Bett?«
»Ich bin in die Schlafwanne, da … waren wir gerade von den Asteroiden gestartet. Am zweiten Flugtag.«
Heike überlegt kurz, dann sagt sie: »Wow. Tja. Rund … rund zehn Jahre. Neun Jahre und sieben Monate, paar Tage, so was.«
Er kann’s nicht glauben: »Aber dann … nein, Moment, wir müssten doch längst am Neptun …«
»Umwege. Wir haben … für die Gegenprobe von Sirilko, für die Experimente, ein paar Umwege riskiert. Und Neptun … Christian, echt, wenn ich dir vom Neptun erzähle, na von dem, was hier alle nur noch die Neptunenttäuschung nennen …«
»Also sind wir gar nicht mehr … die Mission ist nicht mehr … fliegen wir da nicht mehr hin?«
»Was? Nicht … oh, verstehe. Nein, nein, das Ziel bleibt der blaue Ball. Gar kein Ding. Aber die Neptunenttäuschung … Zehn Jahre … Christian, es gibt so viel zu erzählen … hast du Hunger? Wenn die metabolischen Sachen alle nach Vorschrift angekurbelt worden sind, wenn man dich mit der richtigen Chemie durchgespült hat und so fort …«
Er prüft sein Empfinden, das bis jetzt vom Denken, Suchen, Zweifeln, von Angst und Orientierungsmühen fast völlig beiseitegedrückt wurde, und sagt dann: »Sogar ziemlichen Hunger.«
»Dann geh’n wir doch in die Kneipe. Ins Restaurant, meine ich. Das hier«, sie deutet auf die Leute am Boden, »könnte noch dauern. Ich frag ein paar Leute von der funktionalen Gruppe, ich nehme an, irgendein Teil des Rechners hat das verstolpert mit deiner Aufwacherei, weil er von der großen Entdeckung so gaga ist.«
Sie dreht sich um und winkt ihm mit drollig eleganter Geste aus dem Handgelenk, dass er ihr folgen solle, was er tut, nicht ohne allerdings seinem anhaltenden Unbehagen angesichts der Leute am Boden Ausdruck zu verleihen: »Ich bin bloß froh, dass nicht alle so sind.«
»Alle?«, sagt Heike, ohne sich umzudrehen, mit einem Unterton, der ihm verrät, dass sie das genauso abscheulich fände wie er. »Gott sei Dank nicht … Liz Parker sei Dank. Wir würden uns hier wahrscheinlich wirklich alle am Boden kugeln heute, wenn es Liz nicht gäbe. Erklär ich gleich, beim Essen.«
»Okay«, sagt er zweifelnd, ergänzt aber noch etwas, von dem er wissen will, ob sie es weiß: »Ich habe draußen drei Männer gesehen, die waren auch … in dem Zustand. Auf dem Gang, also nicht in irgendeinem … Raum oder Saal, weil du doch gesagt hast, du solltest diese hier bewachen …«
»Na ja, sollte … ich hab das nur angeboten, als Andrej meinte, das Kino wäre doch ein guter Ort, wenn grad kein Film läuft, und angeboten hab ich’s, weil wir, die wir’s mit Liz halten, manchmal zeigen müssen, dass wir nicht intolerant und verbohrt sind, dass wir den Rechner durchaus verstehen …«
Er unterbricht sie: »Wenn grad kein Film läuft? Habt ihr’s wiederhergestellt, das alte …«
»Was? Ach so!« Sie lacht ein bisschen herb, als lache sie über sehr schwarzen Humor, und sagt: »Sie hat uns verarscht, wie so oft, die Cordula Späth. Es gab in Wirklichkeit Backups für alles, es gab die Filme und die … sie hat es nach dem Sturm … sie hat’s Aiguo verraten, auf Ceres, als sie so schwer verletzt dalag: Das Theater, die Vorträge, das war von ihr als Therapie nach dem Sturm gemeint. Damit wir, durch das Medium der … Schauspielerei und durch das Vorlesen und Diskutieren von Text, mit freien Diskussionen und Vorträgen, damit wir uns nicht … ich weiß nicht, abkapseln oder beim Filmgucken so eskapistisch in eine Traumwelt verschwinden. Es war Gemeinschaftskunde. Es war … es war Absicht, und jetzt ist alles wieder da, Filme, Musik, alles, aber die Vorträge gehen weiter, die Lesungen, auch die Literatur ist wiederaufgetaucht, wobei das erst vor zwei Jahren gelungen ist, diese Speicher aufzufinden, sie wollte wohl das Textzeug auch wieder gesondert … Taisa hat’s entdeckt, im Klimaplattenraum. Als Heizersatzteil getarnt. Bis dahin haben wir alte Bücher gelesen, bedrucktes Papier. Ich glaube, die Leute, die du draußen auf dem Gang gesehen hast, na, die werden es nicht in ihre Quartiere geschafft haben, bevor der Rechner auf Allgemeingleichzeitigkeit gesprungen ist, die werden halt gearbeitet haben. Normalerweise passiert denen nichts, sie haben ja die peripheren Reflexe …«
»Ja, so ein Reflex hat mir auf die Nase gehauen.«
Sie hält ihm die Tür auf, lacht mitfühlend: »So Sachen kommen auch vor. Ja, und Unfälle – Leute treiben gegen irgendeinen Schacht, fallen in eine Rutsche, wenn sie synchrongeschaltet sind. Einer der Gründe, warum Liz und ich und viele andere nicht voll in den Rechner gestiegen sind. Übrigens auch Aiguo Sun nicht, der ehemalige Kapitän.«
»Ehemalige … wer ist … jetzt … Kapitän?«
»Semjon Diduk. Noch zwei Jahre. Dann wird’s vielleicht Liz, da muss allerdings erst noch gewählt werden … sie hat aber sehr großes Ansehen, auch bei den Normalen … also denen, die voll im Rechner sind, bei der Mehrheit. Und vor allem bei den Kindern – sie und Taisa haben das Schiff gerettet, sagen viele. Taisa will kein Amt. Die ist in der Forschung glücklich.«
»Tai…« Christian kann kaum folgen, sowohl physisch – die Frau fliegt nur so die Gänge lang, ein Pfeilfisch – als auch dem Gespräch: »Moment noch mal, hey, was heißt im Rechner und voll im Rechner … ist das irgend so ein Cyborg…thing … dass der Bordcomputer auf der Brücke und das Backup am Triebwerk …«
»Was, die alten elektronischen Dampfmaschinen? Nein, nein, hey, Christian«, sie dreht sich um und strahlt ihn an, »das ist Ur- und Frühgeschichte. Den Schrott ham wir längst ausgeweidet und modularisiert und recycelt und … der Rechner, das sind alle Gehirne, die voll im … Das sind die Leute, die du gesehen hast. Im Kino. Auf dem Gang. Und im Alltag merkt man’s nicht, weil das alles unterhalb der Bewusstseinsschwelle läuft, da sind sie dann ganz gewöhnliche Menschen, wo im Hintergrund halt gerechnet wird. Aber wenn die Allgemeingleichzeitigkeit an ist, so wie jetzt, weil es irgendeinen Riesenjob gibt … na, haste ja gesehen. Dann geht im Oberstübchen das Ich-Licht aus.« Sie sagt das leichthin, aber die Wirkung dieser Enthüllung auf Christians ohnehin angeschlagenen Sinn für seine soziale und sonstige Umwelt ist durchschlagend: Er fragt nicht weiter, sondern begleitet die Technikerin schweigend, in dem aussichtsarmen Versuch, sich so schnell wie möglich an die neuen Verhältnisse zu gewöhnen. Es geht die nächstgelegene Speiche runter, den Zentralgang hinauf, und selbst als ihm einiges darüber dämmert, wie die neuen Äußerlichkeiten – die Ganglien, die Fenster – mit der Verschaltung der meisten Besatzungsmitglieder zu einer Art riesigem Biocomputer (die Ganglien?) und irgendwelchen physikalisch-mathematischen Forschungen über die Natur des Universums (die Fenster?) zusammenhängen könnten, spricht er nichts davon an, bis sie schließlich die Konterstrebe passiert haben, die zum Restaurant führt.
Als sie die Kantine betreten, sind die Plätze dort bestenfalls zu einem Fünftel besetzt, und das eher an den Rändern, wo Leute essen und miteinander leise reden, offenbar wache (er denkt: Welche von der Liz-Parker-Fraktion, denn er hat bereits begonnen, sich für die Einheiten und Spaltungen der neuen gesellschaftlichen Konfiguration eigene Merknamen auszudenken), während andere meist allein an einem Tisch sitzen, geradeaus ins Nichts starren, teilweise mit halbgefüllten Gläsern oder halbleeren Tellern und Schüsseln vor sich, und dabei die Lippen bewegen, wie Christian das jetzt schon kennt.
Heike führt ihren beim Gehen immer noch etwas unsicheren Begleiter zunächst an den Tresen, wo ein junger Chinese steht und ihr zunickt, als sie sagt: »Rongji, kannst du ihn mal eben checken und ihm, wenn das nötig ist, Supplemente verpassen? Das hier is der legendäre Christian Winseck, eben aufgewacht, also vor so paar Minuten, nich? Also bitte mit Respekt behandeln den Mann. Er hat Hunger und soll was Schönes essen.«
Der, den sie Rongji nennt, sieht für Christian aus, als wäre er gerade zwanzig. Das hieße, spekuliert der Erwachte, dieser Mann müsste etwa zehn gewesen sein, als wir bei den Asteroiden losgeflogen sind. War die Handvoll von irdischen Menschen gezeugter Kinder an Bord der FRIES nicht jünger gewesen? Hatten die ersten Geburten nicht kurz vor der Zerstörung der SMITH und dem Sturm stattgefunden? Rongji setzt einen Scanner auf Christians Brust, fährt mit der Hand runter bis in die Magengegend, liest ab, steckt den Scanner wieder untern Tresen und sagt, mehr an Heike als an Christian gewandt: »Zwei kleine vielleicht? Zwei blaue? Oder«, und jetzt schaut er Christian direkt an, »willst du es als Spritze? Manche vertragen das nicht, Stich ins Bauchfell. Die Tabletten schmecken allerdings scheiße.« Christian sagt: »Ich weiß nicht. Sorry, aber … ich bin, glaube ich, noch gar nicht ganz da.«
»Er nimmt die Tabletten«, sagt Heike, und Christian nickt.
Rongji händigt ihm das Medikament aus, stellt ihm ein Glas Wasser hin. Die beiden blauen Tabletten schmecken tatsächlich scheußlich, ätzend, etwa so, wie Christian sich den Geschmack von Batteriesäure vorstellt, weshalb er sofort in großen Schlucken das ganze Glas austrinkt. Das Wasser ist nicht pures Wasser, es hat einen starken Limonengeschmack, der gegen die ätzenden Reste im Mund hilft.
Heike bestellt: »Ich nehm bloß paar Pommes, aber er hier … na, Fleisch darf sein, oder? Er hat uns ja fast zehn Jahre lang nix davon weggenommen, also hat er echt was gut. Oder biste Vegetarier, vegan oder …«
»Nein«, sagt Christian, »was Kräftiges würde ich jetzt schon …«
»Super«, sagt Heike, »dann rate ich dir zum Kräutersteak mit warmem Bohnensalat. Das kann der Peter, der macht diese Woche die Küche. Der freut sich, wenn er mal was Richtiges machen kann. Grüne Bohnen, Paprika, Speckwürfelchen … das ist toll, ich hatte das vorgestern.«
Christian kann nur nicken. Rongji signalisiert mit einer lässigen Handbewegung, dass er die Bestellung aufgenommen hat und weitergeben wird.
Dann führt Heike ihren Schützling an einen großen Tisch in der Mitte, direkt unterm Dach, wo, wie er jetzt erkennt, eins der neuen Fenster eingelassen wurde, in der Mitte eines Vierecks aus Bildschirmen, auf denen lange Zeichenkolonnen abgescrollt werden – wahrscheinlich Inferenzketten eines Beweises im Zusammenhang mit ZF, BNG und dem anderen Zeug, von dem sie geredet hat, nimmt Christian an.
Sie setzen sich. Er kennt den Tisch. Hier ist er früher oft mit Cordula und ihrem inneren Kreis gesessen. Früher. Vor zehn Jahren. Ein Abgrund, denkt er, und ihm wird ein wenig mulmig dabei, aber dann fragt er direkt: »Also, diese … Rechnersache. Das mal als Erstes, weil, das hat mich schon ziemlich geschockt mit den drei guys auf dem Korridor. Du sagst, einige sind nicht drin? Wie genau muss ich mir das vorstellen, dieses Drinsein?«
»Es hat mit den Kindern angefangen. Den Kindern der Dysoniki. Denjenigen, die nicht sprechen. Das waren oft die hellsten und schnellsten, also wollten wir auch Anschluss an sie, wollten mit ihnen reden können. Du erinnerst dich.«
»Ich erinnere mich. Und ich erinnere mich auch, dass ich das Ding gehasst habe, das Ding im Kopf, dass ich es mir hab rausnehmen lassen, nach zwei Monaten, und stattdessen dann so eine Brille hatte – Andrej hat die bauen lassen, diese Brillen, es gab bei einigen schon älteren FRIES-Menschen gesundheitliche Bedenken. Das waren Leute mit hohem Blutdruck, Leute, die schon einen Schlaganfall gehabt hatten, die sollten das nicht riskieren, und wir haben ja zunächst die Gefäßreinigungsmaschinchen nicht übernommen von den Dysoniki, um die Adern zu reinigen … na, und dann gab es ebendiese Brillen, da mussten uns die Kids der Dysoniki praktisch E-Mails oder text messages schreiben, die haben wir dann gelesen, war natürlich viel langsamer als die Vollver schaltung …«
»Ja, siehst du«, sagt Heike, »aber das ist der Punkt: Das, was Liz für sich erstritten hat, und damit für uns alle, die wir ihr folgen, für mich, für Aiguo Sun und etwa sechzig, siebzig andere, ist, dass wir so ein E-Mail-System haben, nicht mehr als Brille, wir sehen es in den Augen, wie so Einblendungen, es ist über den visuellen Cortex in … aber wir können es willkürlich ein- und ausschalten. Deshalb sind wir dann nicht mit in den Rechner gerutscht, als die Kids uns vorgeschlagen haben, wir könnten die alten elektronischen Kisten einmotten und einfach alle miteinander diesen Rechner bilden. Und es ist okay, auch mit den Kids. Sie sagen: Es gab immer schon auch Dysoniki, die keine Kiemen oder zusätzlichen Arme oder sonst was wollten, und man hat sie nie genötigt.«
Christian nickt, einigermaßen beruhigt, und fragt dann weiter: »Du sagst, Liz Parker hat das erstritten. Was meinst du mit erstritten? Was war das für ein Streit?«
Heike hebt die Augenbrauen, macht ein »O« mit dem Mund, als wolle sie »wow« sagen, dann folgt ein pfeifendes Ausatmen, und schließlich erwidert sie: »Das, au weia … also DAS war vielleicht ’ne Geschichte. Hart, echt. Es muss so ungefähr … na, die FIRAT ist gerade am Jupiter vorbeigeflogen. Da hatte Aiguo die Schnauze voll davon, dass Liz den ganzen Betrieb … die hatte sich zurückgezogen in ihre Bußkammer, in ihr Gehäuse. Am Anfang war das eine Haft, um die Dysoniki und die Kinder der Dysoniki nicht zu provozieren, sie hatte ja eine von ihnen umgebracht. Andererseits, diejenigen Dysoniki, die auf der FIRAT waren, hatten damit ja eh schon Toleranz bewiesen und die Bereitschaft, uns nicht zu hassen. Und zu dem Zeitpunkt, also auf Jupiterhöhe, war das alles viel mehr zusammengewachsen. Alle sahen das ein, pragmatisch, dass man Liz nur entweder wieder integrieren konnte in die Gesellschaft hier oder aus dem Schiff werfen. Und aus dem Schiff werfen wollte sie niemand. Selbst die Dysoniki haben ja ihr Motiv irgendwie verstanden und ihr die Reue abgenommen. Diduk hat mal so ein Statement abgegeben von wegen, wenn Menschen von der Erde Hunderte seiner Soldaten umgebracht hätten, wie Nadar Jepen das mit unseren gemacht hat, wäre er auch mit dem Messer Amok gelaufen. Das Dumme war, sie wollte nicht integriert werden. Es war so eine Art schuldbewusste Arroganz, hat sie später gesagt …«
Sie unterbricht sich selbst, denkt nach, und Christian sagt: »FIRAT.«
»Bitte?« Heike versteht nicht.
Er sagt: »FIRAT. So heißen wir jetzt. Das Schiff.«
»Ach so, ja. Ja klar, wusstest du ja auch nicht … das ist aus irgend so einer russischen Kurzgeschichte. Science Fic tion …«
»So wie SMITH und FRIES ja auch. Aus amerikanischen allerdings.«
Sie nickt: »Genau. Jedenfalls, diese Bockigkeit, dieses Sonderlingsding von Liz …«
Christian versteht: »Aiguo musste sie resozialisieren, selbst gegen ihren Willen.«
»Richtig. Und die Methode … also, das war schon … Er hat … er hat’s ihr aufgezwungen. Das Ding im Kopf. Die Vollverbindung. TS. Bei einem medizinischen Routinecheck hat er sie betäuben lassen, und als sie wieder zu sich kam, hatte sie die Kinder im Kopf. Die Kinder und alle Menschen, die schon so ein Verbindungsding … es muss furchtbar gewesen sein: Sie ist erst durchgedreht, da hat er sie disziplinieren lassen, mit Medikamenten und … böse Geschichte. Das war auch einer der Gründe, warum er dann zwei Jahre später zurückgetreten ist … Sie hat versucht, sich umzubringen, und sie hat … irgendwann hat sie sich dann ergeben, weil sie, wie sie inzwischen sagt, eingesehen hat: Von allen Strafen, die man ihr hätte aufbrummen können, war das zwar die grausamste, aber weil es ja immerhin um Mord ging, irgendwie auch wieder die gerechteste. Sie hat einen Menschen ausgelöscht, als wäre das kein Mensch, und jetzt war sie gezwungen zu lernen, zu hören, zu fühlen, was für Menschen das sind, diese andern. Wie die denken. Dass die denken, dass die fühlen. Sie wurde dann Taisa zugeteilt, als wissenschaftliche Mitarbeiterin. Tja, und dann passierte was Unerwartetes … jedenfalls für uns alle war das unerwartet, für Aiguo vielleicht nicht, ich habe ihn im Verdacht, dass in seiner Grausamkeit viel … Weisheit steckt.«
»Wie bei Cordula Späth.«
»Ja, vielleicht hat er das von ihr irgendwie … gelernt. Jedenfalls: Taisa hatte Mitleid. Nicht nur Mitleid, sie fand das empörend, was man mit Liz gemacht hat. Sie hat gesehen, wie die Frau litt. Und darüber, ich weiß auch nicht … sie hat Aiguo die Hölle heißgemacht und sogar andere Kinder der Dysoniki dafür gewonnen, es gab eine Art Streik, und … am Ende hat er nachgegeben, und mit Andrej haben wir diese neue Messaging-Sache entwickelt. Und der Eingriff bei Liz wurde rückgängig gemacht. Und bei einigen anderen auch, bei Aiguo zum Beispiel. Was übrigens, wenn ich es mir richtig überlege, ein Hinweis darauf sein könnte, dass er die Sache eigentlich genauso sah wie Taisa, dass er also von Anfang an …«
»Dass diese Strafe nur ein move in seinem Spiel war. Dass er das Ende vorausgesehen hat, dass da Solidarität entstehen würde ausgerechnet zwischen der radikalsten Feindin der Kinder der Dysoniki und diesen Kindern. Er kannte ja Taisa und ihre Psychologie.«
»Kann stimmen. Jedenfalls ist das natürlich ein ziemlich glückliches Ende gewesen, es hat den Zusammenhalt an Bord sehr verbessert, es ist eine Sache, die … wir erzählen es den Kindern, als Gutenachtgeschichte, als moralische Lektion, unseren Kindern und denen der Dysoniki.«
Christians erste und dringlichste Frage ist beantwortet.
Rongji bringt das Essen. Christian isst nicht nur, er genießt, lebt auf: die Steaks, die Bohnen, das Olivenöl, in dem alles gebraten wurde, das alles freut ihn, er schmeckt die Fetawürfel, den Paprika, er schmeckt, dass er wach ist, und sagt, als er fertig ist, zu seinem über den zufriedenen Gesichtsausdruck, den er zeigt, sichtlich amüsierten Gegenüber: »So. Das war … great. Just perfect. Jetzt bin ich …«
»Satt?«, fragt sie neckisch. Er erwidert: »Nein, besser. Jetzt bin ich … ready für noch mehr Erklärungen. Selbst solche, die mir wahrscheinlich nicht gefallen.«
»Wie zum Beispiel?«
»Neptun. Du hast gesagt: Die Neptunenttäuschung. Was bedeutet das? Was habt ihr … rausgefunden?«
»Oh«, macht Heike betroffen. »Das. Ja. Ach, ich weiß gar nicht, ob ich, wie soll man sagen … ob ich die richtige Person bin, dir das zu sagen … ich hab mich da vorhin wohl verplappert, die Sache ist ja an Bord noch gar nicht ausdiskutiert, es gibt Parteien und Fraktionen und alles … man … ist nicht einig drüber, wie das zu interpretieren ist. Vielleicht solltest du beide Seiten hören, also die beiden Hauptstreitparteien, einerseits Diduk, der wohl den Mainstream vertritt, zu dem ich in dieser Sache gehöre, auch wenn ich bei der Rechnergeschichte zur Minderheit halte, und andererseits Andrej. Der findet die Enttäuschung nämlich gar nicht so enttäuschend, sondern eher einen Anreiz … für weitere Forschung. Ich bin wahrscheinlich gar nicht befugt …«
»Ich befuge dich hiermit«, sagt Christian. »Ich fühle mich von dir ausgezeichnet informiert und betreut und medizinisch versorgt und bewirtet. Ich würde gerne von dir wissen, was du darüber weißt und denkst, auch wenn das dann der Mainstream oder was weiß ich was für eine Partei ist.«
Als Erwiderung trinkt Heike erst einen großen Schluck Wasser, schließt kurz die Augen wie jemand, der sich an die richtige Antwort auf eine schwierige Prüfungsfrage erinnern muss, und sagt endlich: »Na gut. Wir sind nicht mehr weit weg, hatte ich das gesagt? Vier Monate etwa, beim gegenwärtigen Kurs, in der gegenwärtigen Geschwindigkeit.«
»Könnte ein Grund dafür sein«, überlegt Christian halblaut, »dass mich das Ding geweckt hat. Dann war’s kein Computerfehler …«
»Ja, könnte sein. Jedenfalls, schon vor längerer Zeit … also, es ist vier Jahre her … haben wir hier entschieden, wir wollen doch möglichst gut über den Neptun Bescheid wissen, wenn wir da hinkommen, und vielleicht auch schon die Position der EOLOMEA kennen, den Orbit beziehungsweise … manche dachten, vielleicht ist sie ja gelandet … auf Triton, nicht, oder es gibt sonst was zu wissen übers Schiff von der Frau Burkhard. Da haben wir Sonden klargemacht, sehr schnelle Sonden – wenn die Dysoniki eines können, dann ist es, Schiffe und dergleichen schneller machen. Zwölf Stück, raus aus der FIRAT und los, superschnell. Der erste Tiefschlag hat uns dann drei Jahre später erreicht: keine EOLOMEA. Nicht im Orbit, nicht zwischen den Ringen …«
»Neptun hat Ringe? Ich dachte, nur Saturn …« Als er sieht, dass ihr von dieser Bemerkung der Mund offen steht, wird ihm klar, was er da gesagt hat, und er ergänzt entschuldigend: »Sorry. Really. Geisteswissenschaftler. Ich weiß, da tritt jemand einen Flug zum Neptun an und weiß nicht mal, ob der Ringe hat und wie viele, ähm, Monde …«
Heike ist tatsächlich schockiert: »Du hast uns doch sogar ein Gedicht über den Planeten vorgelesen. Ich meine …«
»Ja, dass das ein … dass da ein riesiger Ozean ist, eine Wasserwelt. Lazy, I know. Ich hätte auf der ganzen Reise … aber ich hab mir halt auch vorgenommen, alles mit frischen Augen …«
»Mensch. Ehrlich, das … also, das kann man vielleicht bei einem Film oder einem Buch so halten, vorher keine Sekundärliteratur und so, aber … ja, Neptun hat Ringe. Und vierzehn Monde. Die Ringe bestehen aus Teilchen, Mikrofetzchen, die wahrscheinlich von kleinen Meteoriten aus den dem Planeten nächstgelegenen Monden geschlagen wurden, Metis, Adrastea, Amalthea und Thebe. Fünf distinkte Ringe gibt’s, Galle, Le Verrier, Lassell, Arago und Adams, und der Adamsring hat fünf distinkte Einzelbögen oder Reifen, die etwa zehn Prozent vom Ring ausmachen, die heißen Courage, Liberté, Égalité 1, Égalité 2 und Fraternité.«
»Du willst mich verarschen. Das sind Slogans aus der Französischen Revolution, das sind …«
»Warum sollen Astronomen keinen politisch-historischen Humor haben? Aber … nirgends dort, nicht bei den Monden, nicht um die Monde rum, auf den Monden drauf, die wir ein Jahr lang haben umrunden und genau fotografieren lassen, nichts, nirgends, niemand, nie, keine EOLOMEA, keine Spur. Wir fliegen da hin wegen Frau Burkhard, und sie … ist wahrscheinlich eben doch weitergeflogen. Auf den ursprünglich geplanten … ich meine, es sollte ja eine interstellare Mission sein, dieser Flug der JEFREMOW.«
Christian kann und will es nicht glauben: »Wie, keine … keine Spur …« Dann hat er einen anderen Gedanken: »Habt ihr denn nachgesehen … ich meine, was ist, wenn sie einfach auf den Neptun sind, wenn sie da gelandet sind oder gewassert oder wie man sagt, wenn man auf einer Ozeanwelt …«
»Was? Oze… ach so, nein, nein, da stellst du dir unter Ozean … das sind irdische Maßstäbe. Da nimmst du den Vergleich im Wort ›Ozean‹ zu wörtlich. Es ist eine Gaskugel, das ist der Hauptpunkt. Das muss man sich klarmachen, als Allererstes. Die extremen Druckverhältnisse in diesen Welten machen ihr Inneres allerdings … eher flüssig als gasförmig. Aber bei so extremen Zuständen gibt’s sozusagen ohnehin keine scharfe Demarkationslinie, keinen superdeutlichen Unterschied zwischen gasförmigen Zuständen und flüssigen. Weil du sagst: dort landen oder dort wassern … das ist völliger … wenn du da runterfallen, da reinsinken, da reinsteigen würdest, würdest du keine feste Oberfläche finden, nirgends, an keinem Punkt, sondern Temperatur, Druck, Dichte würden einfach stetig ansteigen um dich rum, und wenn du geschützt wärst gegen das alles und gegen die Strahlung, dann würdest du einfach irgendwann … schwebend hängen bleiben, in der Region, die genau deiner eigenen Dichte … der Dichte deines Fahrzeugs oder Körpers entspricht, und das wär’s dann. Da hängst du dann. Gibt kein runter und kein rauf mehr, nur die Matsche um dich, Ende. Und bevor du die nächste Frage stellst, die dir da natürlich einfällt: Ja, wir haben ein paar Sonden da reingeschmissen, in die Suppe, nur um sicherzugehen, ob nicht doch irgendwo ein Echo … oder Trümmer, die da … falls sie sich umgebracht haben, falls sie reingekracht sind, sich Richtung Neptun gestürzt haben. Nichts. Und übrigens auch nichts, was zurückgeblieben ist als Wachpöstchen, ein Satellit oder so was, eine Relaisstation, von der aus vielleicht die Sendungen der Botschaften von Frau Burkhard … nichts. Als wäre die EOLOMEA da nie durchgekommen. Das sind keine schönen Nachrichten, ist mir klar, ich hoffe … ich hoffe wirklich, du kommst damit irgendwie zurecht. Wir mussten damit zurechtkommen und sind immer noch nicht ganz fertig damit.«
Eine kurze Zeit, vielleicht zwanzig, dreißig Sekunden lang, scheint Christian tatsächlich innerlich mit dem zu kämpfen, was sie ihm gesagt hat, dann atmet er hörbar aus und sagt: »Well. Nothing is quite what we thought it was, is it? Aber ich kann … nein, ich kann damit schon irgendwie leben, ich habe … lass mich so sagen: Ich habe, bevor ich mich in die Schlafwanne gelegt habe, Sachen von Cordula Späth zu hören gekriegt, die jedenfalls nicht weniger shocking waren, für mich persönlich. Ich könnte mich … ja, weißt du was? Ich werde mich jetzt einfach bei dir revanchieren, indem ich jetzt umgekehrt dir auch mal was erzähle, was dich verblüffen wird. Sie hat mir gesagt, ich dürfe meine Schlüsse aus den Sachen ziehen, die sie mir enthüllt, aber ich sollte nicht tratschen. Mein Schluss war, dass ich schlafen wollte bis Neptun. Aber das Tratschverbot … ich glaube, es ist an der Zeit, mich drüber hinwegzusetzen.«
Er lehnt sich ein wenig vor, als wollte er es nun doch nicht gleich mit allen hier Anwesenden, den Wachen wie den im Rechner Aufgenommenen, unmittelbar teilen, und unwillkürlich tut Heike es ihm gleich, lehnt sich auch ein bisschen nach vorn, als er etwas leiser als bisher sagt: »Zwei Dinge. Ein Erstens und ein Zweitens. Erstens, bei allen undurchsichtigen Sachen fragt man sich ja immer, wer steckt dahinter. Bei allem, was Cordula Späth macht, denkt man: Hat sie ein Netzwerk, hat sie eine Organisation, man kriegt immer nur mit, einzelne Personen gehören irgendwie dazu, Aiguo Sun, Andrej Sirilko … und sie hat’s mir verraten, es sind …« Er sieht zu Boden, dann wieder Heike an und sagt: »Intelligenzwesen auf der Sonne. Ja, auf der Sonne, auf unserem Stern. Die stehen in Kontakt mit Menschen, nämlich. Man legt sich in modifizierte MRT-Maschinen, und dann kann man sich sozusagen telepräsent dort bewegen, oder die kommen hierher und … ja, ich weiß, wie das klingt. Sie hat gesagt, wenn die Maschinen intakt wären, könnte man das mal selbst … sie hat gesagt, ich könnte mich reinlegen, aber die Ersatzteile seien von den Dysoniki nicht zu verlangen, man braucht offenbar ganz bestimmte … also, der Sturm hat sozusagen unsere Funkverbindung zur Sonne zerstört. Irre, ich weiß. Sonne. Es sind keine Lebewesen wie wir, keine Tiere, es sind, wie soll ich sagen …«
»Intelligente magnetische Wirbelstürme. Was bei uns die Nervenbahnen sind, sind bei denen solche hochenergetischen Elementarteilchenströme«, sagt Heike, und er schaut sie sprachlos an. Sie zuckt mit den Schultern und sagt: »Einer von denen, die mit der Sonne … mit den Sonnenleuten in Verbindung standen bis zum Sturm, nämlich Andrej, hat uns ein Tutorial gegeben, relativ kurz nachdem Liz wieder integriert war, die nämlich auch zu denen gehörte, die mit der Sonne … sie nennen es: vom Licht gelesen werden. Es muss ein ziemlicher Trip sein. Unsere Techniker hier, auch die Dysoniki, die nichts davon wussten, sind seit drei Jahren intensiv damit beschäftigt, einen Ersatz für die kaputte Verbindung herzustellen. Es gab ein paar Fehlschläge, aber inzwischen glauben alle, dass es wahr ist, weil man wenigstens wieder … Nachrichten schicken und empfangen kann. Ein paar Stunden dauert es immer, so vier … Wir sind halt sehr weit draußen. Aber die Sonnenwirbel wissen Sachen und helfen bei Sachen, die zeigen, dass das … es können wirklich keine Simulationen sein, keine Menschen oder Supercomputer. Außerirdische Intelligenz, ja – wer hätte das gedacht, nicht? So nah bei der Erde, relativ gesehen. Wie die Diff, aber anders … Hey, bist du jetzt … entschuldige, hab ich was Falsches gesagt?«
Christian schüttelt den Kopf, lacht kurz, dann sagt er: »Nein, es ist nur … für mich war das eine solche Unglaublichkeit, und für mich ist es nur ein paar Tage her, ich hab … I still can’t get my head around it, but … you know. Und ihr? Für euch ist es ein alter Hut, und ihr habt sogar Beweise. Das ist doch …«
»Du hattest noch was Zweites«, versucht sie, ihn zugleich zu reizen und aufzumuntern. Er schnaubt: »Pff, na ja, wirst du ja auch längst wissen.«
»Nämlich?« Das Spielerische, das Schelmische an ihrer Sprachmelodie gefällt ihm sehr, er sagt daher ebenfalls mit frechem Beiklang: »Ach, diese Texte da, die ich entschlüsseln sollte. Egal, oder?«
Sie wird ernst: »Davon weiß ich nichts. Dazu gab es kein Tutorial. Man weiß hier nur, du warst nah dran, dann kam der Sturm … nein, ich weiß nichts, und ich bin mir nicht sicher, ob ich das wissen sollte. Nicht bevor es Diduk weiß, der Kapitän, und ein paar andere Chefinnen und Chefs hier. Vielleicht hat’s ja doch einen Sinn, wenn Cordula Späth sagt, nicht tratschen.« Christian hebt die Rechte, senkt den Kopf, um ihr zu bedeuten: Genug, ich will auspacken, also packe ich aus. Sie zuckt mit den Schultern.
Er sagt: »Also, die Texte sind nicht von Burkhard und nicht von der EOLOMEA und nicht vom Neptun. Ich hatte ja schon … diesen Durchbruch, dass mir das sehr nach Oulipo aussah, nach Literatur. Cordula Späth hat mir verraten: Das ist richtig. Das hat ein Autor geschrieben, das war einfach ein Test für mich. Gut, sie sagte noch, dieser Autor sei nicht nur ein Mensch, sondern auch noch ein Tal und eine Stadt und … na ja. Es gibt echte Botschaften von Alex Burkhard, aber die würden erst in der Nähe vom Ziel freigegeben, die wären, sagte sie, ganz sicher, ganz gesichert, kein Verlust durch den Sturm, Redundanzen, in Systemen … und an denen gäbe es nichts mehr zu knacken, die seien längst geknackt, von Cordula und ihren Leuten auf der Erde, und auch den Sonnenwesen seien sie bekannt. Tja, und da habe ich mir … Heike? Hallo?«
Die Frau ist mitten in der leichten Bewegung erstarrt, mit spitzen Ellenbogen, gegeneinandergelegten Knien, stoßweisem Atem und flatternden Lidern – Christian sieht das Weiße in ihren Augen und fürchtet schon, er müsse sie festhalten, damit sie nicht vom Stuhl kippt, da normalisiert sich ihre Miene wieder, und er bemerkt ein Durchatmen im ganzen Saal – er sieht sich um, rechts, links, vorn, hinten, überall ächzen Leute, schütteln ihre Köpfe, und dann sagt Heike Breuer: »Un… unglaublich. Ein Schiff.«
»Was? Was für ein Schiff?« Christian ist verwirrter denn je an diesem verwirrenden Tag.
Sie schaut ihn an, aufgeregt offensichtlich, hellwach mit einem Mal, und sagt: »Ich hatte dir doch … hatte dir doch erzählt, dass wir Sonden … da sind noch Sonden, um den Neptun, und … und ich habe gerade … also, auch wir … auch diejenigen, die nicht ganz im Rechner stecken, sind ja damit verbunden, und in besonderen Notfallsituationen, bei Durchsagen an alle und so, gibt es so eine … eine Art Override, und jetzt haben die Sonden … der Rechner ist aus seinem Beweisding, aus seiner Mengenlehrenummer gekippt, weil die Nachricht so … ein … ein Schiff …«
»Was für ein …«, fragt er verständnislos, und sie sagt: »Neptun! Im Neptunorbit ist ein Schiff aufgetaucht, scheinbar aus dem … es muss eine Weile her sein, Zeitverzögerung und so, es … aber die Bilder sind da, warte, schau hoch, der … die Monitore zeigen es gleich.«
»Die EOLOMEA?«, fragt Christian voller Hoffnung. Aber sie wedelt mit der rechten Hand wie mit einem Fächer bei großer Hitze und sagt, während sie bereits selbst den Kopf in den Nacken legt: »Schau doch hoch! Schau doch!«
Er tut’s und kann nicht begreifen, was er da sieht.
Auf vier Schirmen aus vier Winkeln dieselbe Szenerie: ein riesiger dunkler Bogen, wohl der Planet, grobkörnig, mit wenig Licht videographiert, und schräg rechts darüber, hell, vermutlich fast weiß, mit vielen Lichtern dran, das Schiff, das er sofort erkennt: »Das sind wir. Das ist die FRIES, die … die FIRAT. Das sind wir.«
»Sieht so aus. Das sind wir«, sagt Heike, kein Ausruf, kein Satz. Nur ein erschütterter Hauch.