Andrej Sirilko steht im dunkelbunten Wind auf dem Eis und versucht es noch einmal mit Denken. Es geht nicht. Er hat alles durchdacht, es wird sich nichts ändern. Ihm ist warm in seinem Raumanzug (Mondanzug?, fragt er sich, denn das Ding wurde für die Spaziergänge auf diesem Mond konstruiert). Außerhalb der Montur ist es sehr kalt.
Der dunkelbunte Wind – schwärzliches Blau, schwärzliches Orange, die Scheinwerfer auf seinen Schultern und an seinem Helm zeigen Andrej Staub und Gas in vielen Lichtgestalten – weht über gefrorenen Stickstoff wie über anderes starres Zeug und bewegt seine staubige Fracht in einer Umwelttemperatur von rund minus 250° Celsius, darunter die berühmten Plusterwolken, vor einem halben Jahrhundert von irdischen Sonden entdeckt. Andrej sieht zwei dieser Wolken, wenn er den Kopf leicht nach Südwesten dreht: finsterer noch als die schwärzesten der Winde, etwa acht Kilometer hoch, im Durchmesser zwischen zwanzig Metern und zwei Kilometern.
Er hat sie aus der Nähe studiert, hauptsächlich der Langeweile wegen, weil bei seiner anderen Arbeit, der eigentlichen Arbeit in der Station, die heute enden soll, so wenig herausgekommen ist.
Andrej weiß, dass diese Wolken, wie die Geysire, die man bei der Wahl des rechten Orts zum Bau der Station so vorsichtig gemieden hat, Folgen der geologischen Beschaffenheit dieser kältesten aller kalten Höllengegenden sind. Bei den Plusterwolkensäulen liegt’s am Treibhausgas im festen Untergrund des Stickstoffbodens, das unter Druck steht und ganz langsam von der Sonne aufgeheizt wird, bis es explodiert.
Andrej fühlt sich, als könnte ihm das auch passieren, mit all den vereisten Hoffnungen im Herzen, den erfrorenen Ideen im Kopf, der Neugier, die nicht nur ihn beseelt hat, sondern alle auf der FIRAT, die gesamte Besatzung, als man endlich im Neptunsystem eingetroffen war, auf der Jagd nach Spuren, Beweisen, nach der Herkunft des geheimnisvollen Spiegelschiffs, das ohne Antwort und in weitem Abstand schließlich an der FIRAT vorbeigeflogen war, schweigend und ihr viel zu ähnlich, als dass das ein Zufall sein konnte.
Es war wohl »eine Täuschung, aber was für eine«, sprach Aiguo Sun schließlich aus, was so viele dachten. Und dann war Andrej selbst auf die verrückteste Idee seines Lebens verfallen: »Ja, eine Täuschung, aber so, wie Echos oder Luftspiegelungen Täuschungen sind. Wir haben sie doch sogar per Radar messen können, diese Täuschung. Irgendwas war offensichtlich wirklich da – aber sie haben auf keinen Funk reagiert, und Beschuss wollten wir aus dieser Entfernung nicht riskieren, nicht? Da wir ja nicht wussten, ob das für die … hypothetische Besatzung lebensgefährlich gewesen wäre. Es ist was, das wir nicht verstehen. Es ist ein Echo, vielleicht eins von uns, sagen wir, auch wenn es insane klingt: ein Echo im Medium der Raumzeit, wie das Echo eine Täuschung im Medium der Luft ist. Vielleicht ist irgendwas mit den Naturgesetzen los, von denen Cordula gesagt hat, wir sollten sie uns genauer anschauen.«
Andrej wusste, als er so sprach, was er gewusst hatte, seit er Cordulas Auftrag kannte: dass das eine merkwürdige Formulierung war. Naturgesetze kann man nicht anschauen, nur ihre Effekte, wie sagt Andrejs Lieblingsabschnitt in Wittgensteins Tractatus? »Wenn es ein Kausalitätsgesetz gäbe, so könnte es lauten: ›Es gibt Naturgesetze‹. Aber freilich kann man das nicht sagen: Es zeigt sich.«
Kausalität, Ursache und Wirkung: Das stand auf dem Spiel bei der Erscheinung des Spiegelschiffs, und das steht immer noch auf dem Spiel, jetzt, da Andrej hier im dunkelbunten Wind steht, vor dem flachen schwarzen Zylinder der Station, die ihm die Dysoniki gebaut haben. Er kann den Neptun durch die Wolken sehen, nicht immer, aber oft, und er sieht ihn von allen Seiten innen in der Station, mittels der Kameras der Satelliten, die von der FIRAT auf ihre Umlaufbahnen um den blauen Riesen geschickt wurden.
Andrej Sirilko studiert nicht nur den Neptun, sondern auch die Stelle im Ringsystem, an der nach dem Zeugnis der alten Filmaufnahmen das Spiegelschiff erschienen war – wie er sich’s immer wieder auf diesen Aufnahmen angeschaut hat, inzwischen fünfzehntausendmal, erschienen aus dem leeren Raum zwischen den Ringen, erst nicht da, in der nächsten Tausendstelsekunde dann vorhanden und in voller Fahrt, schnell genug, dem immensen Schwerefeld des Planeten zu entkommen.
Fluchtgeschwindigkeit. Masse. Albedo.
Es gibt Naturgrößen, aber was hilft’s den Gesetzen?
Fünf Jahre auf Triton, dem kältesten Stein im Sonnensystem, sind eine lange Zeit.
Fünf Jahre auf Triton ohne ein Ergebnis in den Hauptsachen – Spiegelschiff, EOLOMEA, Signale – sind mehr als eine lange Zeit. Sie sind die schlechte Ewigkeit, leere Dauer.
Andrej lässt seinen Blick schweifen, bis er südlich der subsolaren Länge von 45 °S die Region ausmacht, in der Mahilani entdeckt wurde, die erste der Wolkensäulen auf diesem kalten Mond, und etwas weiter dahinter stieg damals Hili auf, die zweite. Die Winde blasen Richtung Nordost. Andrej wendet sich ab von seinem kargen Garten und springt in vorsichtigen Hüpfern zur Station zurück – acht Prozent der irdischen Schwerkraft, das ist nicht viel, man kann hier, weiß er aus Erfahrung, sehr weit springen, sehr weit werfen, man ist wie dieser Superheld in dem letzten Film, den Andrej auf der Erde gesehen hat, in der chinesischen Wüste: Iron Man.
Der Anzug stimmt: Nicht dieses Klobige, das Raumanzüge so malerisch golemhaft aussehen ließ, als Andrej jung war und sich für Raumfahrt zu begeistern begann. Das jüngste Design ist ideal körperangepasst, für Leute, die auf Welten mit niedriger Schwerkraft lustige Sachen treiben wollen. Andrej Sirilko hat keine Lust auf lustige Sachen an seinem letzten Tag hier. Er öffnet die Schleuse, tritt hinein. Als der Raum unterm richtigen Druck steht und voll mit der richtigen Luft ist, schlägt er den Automatenarmen wieder einmal die Ehre ab, ihn auszuziehen. Er erledigt es selbst. Auch das hilft, findet er, beim Denken, wie die Ausflüge in den Wind. Leider stimmt es nicht: Er denkt nichts, er rennt nur immer im stetig enger werdenden Kreis seiner ergebnislosen Obsessionen. Mitte siebzig ist er nun und könnte doch, wie Aiguo Sun, der ungefähr seiner Generation angehört, in jeder physischen Hinsicht, vom Stoffwechsel bis zur Hirnverfassung, nach klassischem, altem Menschenmaß des zwanzigsten Jahrhunderts, in dem er aufwuchs, etwa Mitte vierzig sein, wenn er alle Modifikationen, Verbesserungen, Hilfen angenommen hätte, die erst auf der FRIES, dann bei den Dysoniki auf den Asteroiden, dann an Bord der FIRAT zur Verfügung standen.
Er hat wenig davon beansprucht, bloß das, was der Sache hilft, wie ihm jetzt, da er seinen Helm auch noch selbst ins Regal stellt, zu seiner stillen Freude wieder einfällt. Weil er die Verständigung mit den Kindern der Dysoniki wünschte, gehörte er zu den Allerersten, die sich einen neuralen Sender und Empfänger in den Kopf setzen ließen. Alles, was der altersbedingten Degeneration des Zentralnervensystems entgegenwirken konnte, hat er jederzeit sofort akzeptiert, denn er wollte, dass die Maschine läuft, dass das Hirn namens »Andrej Sirilko« stark ist. Er wollte der Sache dienen, der Menschheit, der Erschließung einer besser unterrichteten, gerechteren, gesitteteren Welt.
Dem Sozialismus also, fällt ihm jetzt ein. Da lacht er trocken.
Ist die Mission der FIRAT eine sozialistische? War sie es je? Diduk ist Sozialist, Aiguo auf seine Weise auch, aber beide haben auf ihre Leiblichkeit mehr achtgegeben als Andrej jemals. Man kann also auch ein anderes spezifisches Verhältnis zum Unterschied zwischen egoistischer Eigenpflege und altruistischer Arbeitsethik entwickeln als Andrej und sich dennoch als Sozialist sehen. Kurios, denkt er.
Während der alte Wissenschaftler sich einen Kaffee aufsetzt und wieder einmal über das Verhältnis zwischen seinem Leben und seinen Überzeugungen nachbrütet, will er den andern beiden, wird ihm klar, gar nicht absprechen, dass sie Sozialisten sind. Aber ist das überhaupt noch ein Gegenwartswort, ist das noch ein Zukunftswort, was es für Andrej so lange war, oder definitiv Vergangenheit, ja: Vorvergangenheit? Würde man, fällt ihm ein, sofort, in dieser Sekunde aufbrechen, um zurück zur Erde zu fliegen, und würde man selbst schneller reisen als auf dem Hinweg, mit seinen Umwegen und Zwischenstationen, so schnell, wie die Maschinen der Dysoniki es zulassen, dann würde er entweder den Heimatplaneten, wenn er nicht schnell massive Eingriffe in seiner Physis vornähme, nicht mehr lebendig erreichen oder aber eine Welt betreten, auf der die Sowjetunion, seine einst formalrechtliche und heute noch geistige und emotionale Heimat, fast so lange her ist, wie sie überhaupt Bestand hatte. Verrückt.
Der Mann, der ihn heute ablösen wird, kommt Andrej in den Sinn: Christian Winseck.
Andrej versucht, den Kaffee in der Trinkschale ein bisschen kühler zu blasen, weil er sich sonst wieder Lippen und Gaumen daran verbrennen wird. Er fragt sich: Könnte man Christian nicht auch einen Sozialisten nennen, wo er doch ebenso wie ich die Sache immer, jedenfalls solange ich ihn kenne, über das eigene Wohlergehen und gar das kurzfristige gestellt hat? Aber welche Sache? Parallelen: Sogar in Liebesdingen verfahren wir ähnlich. Ich habe, bevor ich diesen Wachposten hier bezogen habe, meinen Liebsten mit voller Verantwortung für den Schmerz, den ich ihm damit bereite, von mir gestoßen. Ich weiß, dass Rongji mir das nie verzeihen wird. Aber Rongji ist ein Kind. Er weiß gar nicht, wie viel noch vor ihm liegt. Sie war nie perfekt für beide, diese Beziehung eines Siebzig- zu einem noch nicht einmal Dreißigjährigen, jedenfalls nicht in der Sorte rein auf Funktionalität und permanente dynamische Erschließung des Neuen gegründeten Gesellschaft, in der wir leben.
Und Christian hat’s gemacht wie ich. Der hat sich von der Person, die ihm am nächsten stand, vor der Übernahme des Postens auf Triton losgesagt.
Das erfuhr Andrej vor zwei Wochen am Bildschirm: »Heike will vielleicht sogar noch Kinder, obwohl sie nach irdischer Rechnung jetzt ungefähr fünfzig ist. Aber man darf so ja nicht rechnen hier, und soweit ich medizinisch Bescheid weiß, gibt’s da inzwischen kaum noch welche von den Risiken, die man auf der Erde kannte. Nur, was für ein Vater wäre ich? Ich weiß nicht mal, ob ich die Trennung nicht sogar vollzogen hätte, wenn ich nicht zum Triton fliegen würde. So konnte ich ihr wenigstens einen Grund sagen, der sie nicht zu sehr gekränkt hat – einen, bei dem sie nicht meint, ach, liebt er mich also doch nicht.«
»Tust du’s?«, wollte Andrej wissen, weil die beiden Männer einander schon so viele Dinge verraten hatten, in langen Ferngesprächen. Christian antwortete ohne falsche Befangenheit, sogar ohne langes Nachdenken: »Ja. Tu ich. Soweit jemand wie ich das mit einer Geschichte wie meiner kann.«
Die Einschränkung versteht Andrej. Für ihn, denkt er, gilt eine andere, aber vergleichbare. Rongji hat ihn mal gefragt, in Wut, beim hässlichsten Streit der beiden: »Siehst du mich überhaupt? Oder hast du einfach einen … wie heißt das? Eine … Fixierung auf … asiatische Männer, auf … weil doch dein anderer, der beim Sturm gestorben ist, ein Japaner war? Vielleicht, wie sagt man, sehen wir für dich alle gleich …«
»Hör auf«, hat Andrej nur erwidert, laut genug, aber sehr müde.
Kanbaras Tod war und bleibt ein schmerzliches Thema für ihn, und Rongji hat genau deshalb davon gesprochen. Wenn man jung ist, denkt Andrej jetzt, ist man so fasziniert davon, welche Wunden man sich in der Liebe zuziehen kann, welche Wunden man anderen schlagen kann, dass es schwerfällt, die Finger davon zu lassen. Andrej erinnert sich an eine Geschichte in London, mehr als ein Menschenalter her ist das jetzt auch schon, da saß er am ersten Abend mit einem Mann, der nur sechs, sieben Jahre jünger war als er selbst, in einem teuren Restaurant, und der Junge, ein Physiker aus Wales mit schwarzem Haar und unglaublich schönen dunklen Augen, sah ihn übern Tisch hin an und sagte: »Wie ich uns hier gerade sehe, fürchte ich, wir könnten einander schrecklich wehtun.«
Das war dann etwa vier, fünf Jahre später, am Ende der Beziehung, eine Weissagung gewesen, bei deren Wahrwerden auch Rassismus eine Rolle gespielt hatte. Wenn Andrej heute daran zurückdenkt, findet er das Pathos und die Angeberei in diesem Statement lächerlich. Typisch Jugend, dass man von einer Sache nicht anders sagen kann, sie sei viel wert, als indem man betont, sie sei potentiell schmerzhaft.
Junge Leute fasziniert der Preis von allem; sie kennen den Wert von nichts.
Rassismus? Der Vorwurf von Rongji, der natürlich auch wieder genau darauf rauswill, auf diesen Schmerz, den die Jungen brauchen, um sich ihrer Liebe zu versichern?
Wenn er genau überlegt, und das tut er jetzt, beim Essenaussuchen, beim Einlegen des Essens in den Koch, beim Sitzen vor den sechzehn Schirmen, die immer wieder zeigen, was er immer wieder betrachtet, die Geschehnisse der Gegenwart rund um Neptun und auf dessen Monden, die Geschehnisse damals, als das Spiegelschiff erschien – ja, wenn er’s recht bedenkt, dann ist der Rassismus, den er als dunkelhäutiger Mann erst in Moskau, dann an der polnischen Ostgrenze, dann in England erlebt hat, eine gute Vorbereitung gewesen auf etwas, das er auf der Reise aushalten musste, nämlich den merkwürdigen Umgang der Menschen mit den Dysoniki und ihren Kindern, aber auch der Dysoniki mit den Menschen von der Erde, mit Ausnahme allerdings ihrer Kinder, deren Verhalten bis heute zu komplex ist, als dass er einzelne Erlebnisse, Begegnungen, Wortwechsel, telepräsente Unterredungen jemals aus dem Ganzen herauslösen und unter eine einfache, mit etwas von der Erde her Bekanntem assoziierte Überschrift wie »Rassismus« bringen könnte.
Wenn sie uns verachten würden, was nicht auszuschließen ist, denkt er, obwohl sie es nicht zeigen – aber selbst, wenn sie’s täten, fiele es mir schwer, das »Rassismus« zu nennen, wobei wir ja nach Cordula Späths alter Bestimmung wissen, dass »alles, was Menschen aus Menschen machen, ist Mensch, da gibt’s nix Posthumanes« …
Ja, fällt ihm ein, und er nimmt das Essen aus der Lade des Kochs, stellt es vor sich auf den Tisch und beginnt, lustlos zu löffeln, ja genau, die und wir, das sind eigentlich die einzigen zwei Rassen, die ich je getroffen habe, wenn denn Rassen wirklich bedeutet, was die Rassisten immer darunter verstehen wollten, nämlich Menschengruppen, die einfach zu verschieden sind, als dass es zwischen ihnen dauerhaft eine Kooperation ohne klare Hierarchie von überlegen und unterlegen geben könnte, dann sind allerdings die Kinder die überlegene Rasse, wenn man es so sortieren will, und wahrscheinlich ist das der Grund, warum unter den Menschen von der Erde bislang keine Stimme laut geworden ist, die irgendein offen rassistisches Wort in diesem Zusammenhang geäußert hätte – und Liz Parker, die anfangs, nach dem Abflug von den Asteroiden, so ein bisschen das Totemtier der gegenüber den Dysoniki-Kindern misstrauischen Erdleute war, ist ja inzwischen vollständig bekehrt, wenn man’s so sagen darf.
Als die Maschinen hinter dem Tisch erstmals auf einen von mehreren Anwählversuchen seitens der Kapsel reagieren, in der Christian Winseck sich von der Bahn der FIRAT aus dem Triton nähert, nimmt Andrej das nur am Rande wahr.
Es interessiert ihn kaum noch, obwohl es ein Ereignis ist, auf das er sich seit Jahren innerlich vorbereitet hat – zuletzt mit den langen Unterhaltungen, die ihm Christian nähergebracht haben als irgendeine Seele seit Beginn des Exils. Dieses Exil wurde nur von zwei Besuchen anderer FIRAT-Leute unterbrochen. Einmal, vor vier Jahren, hat Aiguo eins der vielen Beiboote getestet, die aus Gründen der Vertiefung der Experimentalfunde und der gründlicheren Spurensuche in Sachen EOLOMEA im von Semjon Diduk zur Werft umfunktionierten Teil der FIRAT andauernd vom Stapel laufen. Zwölf solcher Boote gibt es inzwischen, die FIRAT wird sozusagen immer weiter zerlegt, aufgespalten, portioniert. Ein andermal, vor erst zwei Jahren, hat sich der Kapitän Diduk, dessen Amtszeit durch für ihn günstige Abstimmungen wieder und wieder verlängert wurde, sogar selbst blicken lassen, mit Liz Parker, seiner wichtigsten politischen Unterstützerin, und zwei Kindern, Cam und Hemen, beide auf dem Flug zwischen Asteroidengürtel und Neptun geboren. Smalltalk, Aufmunterei, mehr fand nicht statt bei diesen zwei Visiten.
Andrej wäscht sein Geschirr und Besteck ab, mit der Feindüsenbrause. Fließendes Wasser, obwohl hier prinzipiell möglich, hat er längst aufgegeben, als unrealistische Simulation alter, irdischer Verhältnisse. Einer besseren, schöneren Erinnerung an sie widmet er sich nach dem Abwasch und einem flüchtigen Blick auf Christians Anflugsgraphik. Andrej hat nie gutgeheißen, wie die Chinesen und später die Russen an Bord erst der FRIES, dann der FIRAT ihre muttersprachlichen und alle sonstigen fremdsprachigen Literaturen zugunsten der von Cordula Späth mal subtil, mal gröber geforderten deutschen Quasiamts- und Einsprachlichkeit aufgegeben haben. Kanbara setzte wenigstens ein kleines Widerstandszeichen damals, erinnert Andrej sich wehmütig: Was Kanbara auf Deutsch las, waren ja lauter Japaner, Tanizaki, Mikumo und dergleichen. Andrej liest noch heute Russisch und weiterhin Englisch, jetzt zum Beispiel ein Gartengedicht, das er liebt, auf einem Schirm allerdings, Papier hat er hierher nicht mitgenommen:
Sometimes in the dark I find myself
In a place that I seem to have known
In another time
And I wonder
Whether it has changed through
Sunrises and sunsets that I never saw
Der Dichter Merwin kann nicht gewusst und nie gedacht haben, denkt Andrej, wie vertraut diese Sonnenauf- und -untergänge jemandem vorkommen würden, der von ihnen in riesiger Entfernung von der Sonne und von der Erde liest, und wie rührend diese Dunkelheit jemand finden muss, dem klar ist, dass es sich immerhin um eine anschmiegsam heimatliche Dunkelheit handelt, die irdische Nacht, mütterlich statt, wie hier draußen, namenlos, absolut unmenschlich.
Andrej schiebt das Gedicht nach links und ruft rechts davon ein anderes auf, ein deutsches von einem Lyriker, den Christian ihm empfohlen hat. Auch Oswald Eggers Düsternis ist irdisch:
Schwarz vor Augen dieser Tausendwald, und die Licht-
quillen reifen auf den Bodenbeton auf, Gneise und Eis,
von glimmben Pollen, und Buildings, die quirlen auslang
ihrem Grund und theatern ins (um mich) Geschehene.
Spiele von jungen Leuten, jungen Spezies mit ihrer Sprache, mit ihrem natürlichen Reden wider die Natur. Andrej lächelt. Er ist schläfrig jetzt, überprüft noch einmal den Flug des Ablösers, der weiterhin Bahn hält, und beschließt, in den paar Stunden, die es noch dauern wird, bis Christian da ist, ein wenig zu ruhen, zu dösen, vielleicht wirklich zu schlafen, zu träumen.
Als er aufwacht, wundert er sich, dass er den Summer nicht hört, der ihn sonst weckt, obwohl das bei der tief in sein Nervensystem eingesenkten Regelmäßigkeit der Ruhezeiten längst nicht mehr nötig wäre. Er wird stets müde, bevor er sich zur immer gleichen Stunde, Minute, oft: Sekunde hinlegt, und er öffnet jedes Mal die Augen, kurz bevor das Summen losgeht.
Er setzt sich auf, mit sehr geringem Kraftaufwand. Beim Sitzen und langen Gähnen, auch Sichstrecken, wird ihm klar: Er hat sich außerplanmäßig hingelegt, richtig, um frisch zu sein, wenn Christian eintrifft – ein Seitenblick auf die alte mechanische Uhr über der Konsole verrät ihm, dass er länger geschlafen hat, als er wollte, zwei Stunden. Er hat von Formen geträumt, erinnert er sich flackernd, von Wucherungen, von Staub, der lebt, Staub, der dem bunten Zeug hier auf Triton zwar gleicht, aber genetische Information trägt, keimen will und wachsen, von Zeug wie den »glimmben Pollen« in Eggers Gedicht – ich muss mir, denkt Andrej, die Formulierung merken, um Christian danach zu fragen, was das ist, was das bedeutet, »glimmben«, meine Wörterbücher kennen es nicht.
Die beiden Kameras im Tritonorbit, die Andrej aus der Ferne steuern kann, brauchen nicht lange nach Christians Kapsel zu suchen. Sie wird in etwa vierzig Minuten da sein. Wahrscheinlich kann Andrej sie demnächst sogar mit dem altmodischen optischen Teleskop erkennen, auf dessen Anbringung oben im Zylinderdach er vor Antritt seiner Wacht bestanden hat, obwohl Liz Parker, die damals im Ressourcenausschuss saß, das für »a needless waste of materials« erklärt hat. Diduk war anderer Meinung und überstimmte sie, wofür Andrej ihm heute noch dankbar ist. Wie viele Stunden hat er durch dieses Fernrohr den Neptun studiert, die Ringe bewundert, die andern Monde erforscht? Beim Schauen, beim Suchen hat er im Kopf das System gebaut. Den Plan der Rettung gegen die Zeit, die Gleichung und …
»Andrej? Hörst du mich gut?«
Es ist Christian Winseck.
Der Wächter antwortet: »Keine Probleme. Du bist im Landeanflug, richtig?«
»Ja. Kein Bild, oder?« Das ist eine Frage, die sie einander häufig stellen, bei kürzeren Gesprächen, vor allem nicht verabredeten, spontanen, man nimmt damit Rücksicht aufeinander, manchmal will man ja nicht gesehen werden. Andrej erwidert: »Kein Bild, lass mich ein bisschen aufräumen hier. Du siehst das Gehäuse früh genug.« Es knackst und knistert, dann sagt Christian: »Ich übernehm’s auch als Saustall. Gibt mir möglichst gleich was zu tun. Ich bin froh, wenn ich aus diesem Sarg in … einen größeren Sarg wechseln kann, ich bin jetzt seit vier Tagen in dem Ding unterwegs … Eine Frage: Meine … Dinger hier zeigen mir, dass der Landeplatz geändert wurde … ist jetzt noch weiter weg von der Station, muss das sein?«
Andrej versteht den Unwillen: Eine neue Welt, und Christian hat den Weg vom ursprünglich vorgesehenen Landeplatz zur Station wahrscheinlich im Simulator geübt, fühlt sich also unsicher, fürchtet Gefahren – die Winde, das Eis, aber die Änderung, vor dreieinhalb Stunden in Kollation mit den beweglichen Sonden unter der Eisoberfläche und in noch größeren Tritontiefen vom Computer der Station errechnet, dient in mehrfacher Hinsicht der Sicherheit der beiden Menschen. Andrej erklärt: »Die Sonden haben unterirdisch … na ja, nicht … irdisch, verstehst mich schon … da sind Ströme gemessen worden, Temperaturveränderungen, die Stabilität der gefrorenen Decke darüber ist nicht mehr gewährleistet, jedenfalls nur noch zu … achtzig Prozent oder so, und wir hatten uns ja alle geeinigt, ich meine, die FIRAT-Leitstelle und ich und du, dass du nur da landen kannst, mit diesen ja doch ziemlich starken Bremsraketen, die das Eis sowieso belasten, wo die Kapsel nicht einbricht davon und wo sie sogar wieder starten kann, mit mir drin, ohne dass selbst beim Start allzu viel zu Bruch geht von der kalten Kruste. Deshalb noch mal zwanzig Kilometer westlich, aber das ist keine Strecke, das ist ein Katzensprung, zu Fuß, glaub mir, ich kenne die Wege hier.«
Kein Knistern diesmal, und Christian bleibt, dem Klang nach zu schließen, verstimmt: »Wenn du’s sagst. Viel Spaß beim Aufräumen, over.«
»Bis gleich, over«, wiederholt der Einsiedler, es ist ein Spiel zwischen ihnen, das er fortsetzen wird, wenn er auf der FIRAT ist, nach dem Platztausch mit Christian.
Viel aufzuräumen hat Andrej nicht, er wischt mit einem längst selbst nicht mehr recht sauberen Antistatiktuch einen dicken Staubbefall von der Konsole und einigen Bildschirmen, sammelt etwas Wäsche ein, ordnet auf dem Rechner ein paar Pfade. Er ist befangen, weil er nach so langer Zeit wieder mit einem atmenden Wesen im selben engen Raum sein wird, obwohl ihm andererseits klar ist, dass es keine so verwirrende Erfahrung sein wird wie das Wiederanspringen seiner Hirnverbindung mit den Kindern der Dysoniki, als Cam und Hemen ihn mit Diduk besuchten.
Man hatte Andrej noch vor dem Start zum Triton angeboten, die Vorrichtung aus seinem Zentralnervensystem zu entfernen. »Nimmt ja nur Platz weg, weil’s auf diese Entfernung zwischen Station und FIRAT eh nicht funktioniert«, fand Heike Breuer, die Technikerin, deren Aufgabe es damals war, ihn, wie Aiguo sagte, »physisch tritontauglich« zu machen. Andrejs Haupteinwand gegen den Eingriff war ein sehr überzeugender: »Dann könntet ihr mir auch die Beine abnehmen, die brauch ich da unten auch kaum, zwei Arme reichen ja zum Hopsen. Nein, das gehört zu mir, das ist Teil von mir geworden.«
Die Kinder der Dysoniki denken über sich selbst extrem funktional. Eine Kostprobe dieses Denkens lieferte die junge, hochintelligente Cam bei ihrem Besuch hier, als sie im plötzlich auf das entwöhnte Subsensorium, das der TS in Andrejs Hirn etabliert hatte, einströmenden Fluss von Hunderten sprach- wie sinneswahrnehmungsförmigen Daten aus den Köpfen der beiden Kinder unter anderem den Vorschlag schickte, ihm zu helfen, »hier einfacher und bequemer zu leben, effizienter, sparsamer«, nämlich indem er Cam erlaubte, eine mit ihren mitgeführten Instrumenten und modifizierten Zusatzarmen ganz leicht durchführbare Operation an ihm durchzuführen, die ihm das lästige Atmen in Zukunft ersparen würde: »Viele wie wir und ein paar Menschen auf der FIRAT sind inzwischen Nichtatmer, wir haben kurz nach deiner Abreise hierher angefangen, das weiterzugeben.«
Die Verbrennungsvorgänge der Atmung ersparten sich, erklärte hilfreich Hemen, die vormals atmenden Organismen, die diese Operation hinter sich hatten, durch verbesserte Energiespeicherung im Gewebe, nötig war allerdings »etwas mehr Nahrung, was sich aber langfristig trotzdem rechnet, gerade für kleine Ökosysteme wie die FIRAT oder diese Station hier.« Das war nicht per TS geäußert worden, sondern altmodisch mündlich; beide Kinder hatten Münder.
»Nein danke, sehr nett«, hatte Andrej geantwortet, »ich hab mir vorgenommen, während der Zeit hier nichts an mir zu verändern, was nicht unbedingt sein muss. Dann muss ich keine neuen Verhaltensweisen üben und kann mich auf das konzentrieren, was ich hier tun will: die doppelte Frage beantworten, wo das Spiegelschiff hergekommen ist und wohin die EOLOMEA verschwunden sein könnte.«
Ob die beiden Kinder ahnten, für welches Grauen vor der angebotenen Operation diese Worte eine höfliche Ausflucht waren? Ein Seitenblick Diduks immerhin verriet Andrej damals, dass der Russe bei aller Vertrautheit mit den Kindern und aller Offenheit für die Selbstverbesserung niemals auf den Gedanken kommen würde, sich das Atmen abzugewöhnen.
Anderthalb Stunden nach der letzten Aufräummaßnahme (Andrej wirft eine zersprungene Teetasse in den Recycler, eins der letzten verbliebenen Souvenirs aus der Zeit mit Kanbara) sitzt der Eremit von Triton am einzigen Tisch der Klause seinem Nachfolger gegenüber, den er nach einem tatsächlich nicht sehr beschwerlichen Fuß-Hüpfmarsch von der Landestelle hierher in eine wärmende Aluminiumdecke gewickelt hat, weil er Christians Zittern für eine Kältefolge hält. Er gießt ihm grünen Tee auf.
Das Getränk löst die Zunge des Sprachwissenschaftlers: »Ich hab gedacht, das war’s. Absturz, Verbrennen, Crash. Auf keinem irdischen Flug und nicht mal im Sturm nach dem Abschuss der SMITH bin ich so durchgerüttelt worden.«
»Ja, die Winde hier sind schon was«, bestätigt Andrej brummend und schenkt sich selbst auch eine große Tasse voll Tee ein. Christian sagt: »Es war, als ob’s das Ding jeden Moment auseinanderreißt.« Das ist keine Beschwerde, nur ein Murmeln, nah am Selbstgespräch (das wirst du hier bald lernen, denkt Andrej). Um den offenbar unter einem leichten Schock stehenden Kollegen auf andere Gedanken zu bringen, fragt der kahle Mann mit dem weißen Bart, der ihm bis auf die Brust reicht: »Gibt’s was Neues von der FIRAT? Liebe, Rache, Politik? Wie geht’s dem Rechner? Ich bin ein bisschen … es ist wie Lampenfieber, wenn man weiß, man wird wieder mit allen verbunden, man kehrt zurück in den Rechner. Ich weiß, du hast dich immer nur via Filter verbinden lassen, für dich wird die Umstellung auf den altmodischen elektronischen Kasten, der hier alles reguliert, gar nicht so groß sein, aber …«
Christian hebt den Kopf, schaut den Russen direkt an und sagt freundlich, aber bestimmt: »Später vielleicht. Wir haben ja noch Zeit …«
»Na ja«, widerspricht Andrej, »so viel ist es nicht. Zwei Stunden für deine Einweisung und die Übergabe, dann noch eine für mich, falls ich was vergessen habe, dann muss ich auch schon los. Wenn wir etwa dieselbe Dauer für den Weg zur Kapsel ansetzen, wie wir jetzt …«
»Gut, aber dann sollten wir doch auch anfangen mit dieser Einweisung und Übergabe, nicht? Plaudern können wir noch, wenn du in dem Ding sitzt.« Der Vernunft dieser Sätze kann sich Andrej nicht verschließen. Er bittet Christian also an die Konsole und zeigt ihm zuerst mit den geheimnisvoll-theatralischen Worten »Sieh her und staune: meine Ergebnisse« eine Aufnahme, die jede und jeder auf der FIRAT kennt, aber kein Mensch, kein Kind, kein Computerprogramm genauer studiert hat als Andrej Sirilko.
»Spiegelschiff«, sagt Christian, mit einem Beiklang von: Das kenn ich doch, warum soll ich mir das anschauen?
»Warte«, sagt der Alte, und Christian ruckt auf seinem Stuhl ins ganz Aufrechte, an die Rückenlehne, weil das plötzlich so dringlich klingt, als Andrej sich vorbeugt und die Videoeinstellung auf einen ganz bestimmten Zeitausschnitt justiert, dann extrem verlangsamt. »Schau mal genau hin: Das ist nur der Einstieg, Junge, diese Bilder. Alles andere habe ich mir aus den Sondendaten zusammengebaut … schau …«, und er blendet in mehrere Fenster sehr lange Kolonnen von Beobachtungsindizes ein, während Christian in skeptischem, gerade noch höflich-teilnehmendem Ton sagt: »Das wollte ich dich eh fragen, wieso du so viele … also, Aiguo hat dich auf der FIRAT ja immer verteidigt dafür, aber ehrlich gesagt sind die Jungs und Mädels von der Physik, besonders von der Astrophysik, inzwischen ziemlich genervt davon, dass du immer wieder Breitbandnutzung beantragt und ja lange auch bekommen hast. Nicht nur für deine Dinger auf Triton hier und in der Nähe, around and about that moon … sondern eben auch auf all den kleinen Sonden und Satelliten, mit denen die eigentlich das Neptunsystem vermessen wollten und einen präzisen Katalog aller …«
»Haben Sie dir gesagt, was ich da alles gemessen habe? Haben Sie dir gesagt, was ich …« Andrej macht eine Pause und sagt das nächste Wort mit ungeheurem Nachdruck: »nachgemessen …« Und er wiederholt, mit für Christian nun wirklich unangenehm weit aufgerissenen Augen: »nach-ge-messen habe? Aiguo verteidigt mich, weil er und ich schon vor dem Zwischenstopp auf der Dysoniki-Werft solche Sonden genutzt haben. Die sind gleichzeitig mit uns gestartet, vom Lagrangepunkt aus, und nur sehr, sehr viel schneller geflogen, die ersten waren schon auf Jupiterhöhe, als die SMITH … wir haben das alles … Voyager hatte diese komischen Daten geliefert, und das europäische Orbitalteleskop, und die Sonnenwirbel wussten ohnehin längst davon, die haben ihre eigene Astronomie. Es war Teil der Mission, von Anfang an, es war der Grund, warum die Sonnenleute Cordula unterstützt haben, beim Rekrutieren geeigneter Menschen, wir sollten nachsehen …«
Christian unterbricht ihn, wedelt mit der rechten Hand, als wollte er Andrejs Worte verscheuchen wie Stechmücken: »Whoa, whoa … slow down, Mister. Langsamer. Du warst beim Spiegelschiff, und jetzt bist du bei Astronomie oder Astrophysik oder …«
»Spiegelschiff, pff!«, prustet Andrej. »Der Name schon! Der Versuch, das Weltbild reinzuhalten – die liebe, banale Raumzeit, die sie kennen! Sie nennen es Spiegelschiff, damit sie diese dummen Theorien aushecken können … du kennst sie so gut wie ich: Das Schiff ähnelt unserem, sagen sie, sagt vor allem Diduk, weil es irgendwie nach ähnlichen Prinzipien gebaut ist, weil ja unseres nach Ideen von Cordula Späth gebaut wurde, und die hat sie also von Alexandra Burkhard irgendwie bekommen, richtig? Und Alexandra Burkhard, soll das heißen, hat eben noch so eins gebaut, hier irgendwo, irgendwie, und das hat sie Richtung Erde geschickt, das haben wir gesehen, nicht wahr? Das ist das da«, er deutet mit dem Zeigefinger der Rechten aufs Bild, sticht danach wie mit dem Degen und höhnt, »von Frau Burkhard gebaut. Und wenn’s das nicht ist, dann sind es irgendwelche Nichtmenschen, irgendeine alte Zivilisation, die es hier gibt, dann kommen die Theorien der verrückteren Dysoniki, von wegen, vielleicht gab’s mal einen Planeten mehr im Sonnensystem, und eine Katastrophe hat ihn zerhauen, daraus ist der Asteroidengürtel geworden oder der eine oder andere Mond, und die Diff sind irgendwie involviert, und die haben denen das erzählt, wie man … und dann wird es immer komplizierter und epischer und verdrehter, dabei muss man es nur«, er betont wieder jede Silbe, hart, rechthaberisch und zugleich wie verzweifelt, »an-schau-en, wirklich mal an-schau-en, dieses Spiegelschiff, und dann sieht man’s, dann gibt’s gar keinen Anlass, gar keinen Aufhänger mehr für all diese verworrenen Theorien, dann liegt es offen zutage, unbestreitbar …«
Christian kann seine Irritation nicht mehr verbergen: »Was denn? Was soll ich da sehen?«
Andrej zieht die Stirne kraus und die Brauen zusammen, wegen Christians Gereiztheit einen Augenblick lang selbst gereizt. Dann entspannen sich seine Züge, er sagt entschuldigend. »Es tut mir leid, dass ich … Aufbrausend bin ich sonst nicht. Aber ich habe das Gefühl, uns läuft die Zeit davon. Wenn wir die Tatsachen nicht bald anerkennen … dann können wir nur noch zurückfliegen, so dumm wie vorher. Nichts gelernt, nichts erreicht, alles umsonst. Und Cordula, falls sie noch lebt, wird bitter enttäuscht sein von uns.«
Die Traurigkeit, die Christian heraushört, ist ihm nicht fremd.
Er kennt sie als Erinnerung daran, wie zu Beginn der Reise alles Aufbruch war. Und schon davor gab’s das Gefühl, als er, nach dem letzten Besuch der Familie, gedacht hat, jetzt bin ich das los und kann mir sogar eine andere Herkunft basteln, mit meinem Vater in Deutschland, eine Vergangenheit, die mehr verspricht als die tatsächliche. Er denkt an seinen großen, zerschlissenen, jahrzehntealten Under-Armour-Rucksack, der jetzt neben der Schleuse dieser Station im Warmen steht, hier auf Triton, weil er ihn von der FIRAT mitgenommen hat.
Das Ding enthält alles, was ihm lieb ist, die Bücher, das Foto von seinem Vater und Alexandra Burkhard, uralte externe Speicher mit Filmen aus der Zeit dieser beiden, digitalisierte VHS-Home-Movies von ihren Reisen, von einer Band, in der Alexandra kurze Zeit gesungen hat, Musikvideos der Künstlerinnen und Künstler, die sein Vater kannte und schätzte, von Sonic Youth bis Autechre, Jugend, Pop und Underground, Aufbrüche, lauter Aufbrüche, »heut komm ich, heut geh ich auch, und morgen ist es dann vorbei«, richtig, Nena, und seither nichts mehr, nur eine lange Reise in einer Konservenbüchse an den Rand des Sonnensystems. Wozu?
Besänftigt fragt Christian nach: »Welche Tatsachen?«
Sein Blick folgt dem des Alten, als der wieder auf den Schirm schaut: »Das sind wir«, sagt Andrej schlicht. »Das ist kein Spiegel. Das ist kein Artefakt von Frau Burkhard, kein Werk irgendwelcher Nachkommen irgendeiner untergegangenen … das ist die FIRAT, das wird die FIRAT sein. Das ist unser Schiff, nachdem man ein paar kleine und große Sachen dran geändert hat.« Christian schüttelt den Kopf, langsam, aber unerbittlich: »Die Theorie gab’s mal, am Anfang, aber Ockhams Rasiermesser … bevor man die Kausalität über den Haufen wirft, muss man doch erst mal Erklärungen finden, die ohne Zeitreisen und so Zeug …«
»Ockhams Rasiermesser verlangt auch, dass man das, was man sieht, ernst nimmt. Schau. Ich mach es sogar noch größer, dann wird es zwar vergröbert, aber – hier. Siehst du?«
»Was soll ich … ja, die Seitenbuchten unterm zweiten Ring, schön. Wobei das Ding nicht exakt so viele Ringe hat wie die FIRAT, also, da wackelt deine These schon. Es hat nur drei. Aber die stammen schon vom gleichen Konstruktionsplan, das räum’ ich dir ein, vom gleichen, wohlgemerkt, nicht vom selben. Es gibt diese Seitenbuchten. Wie bei uns.«
»Aber das ist es doch, diese Ähnlichkeit! Die hat nämlich … überleg doch mal, warum ist diese zweite Seitenbucht schmaler? Die an … na, Backbord, wenn man es so …«
Christian dämmert, worauf der Alte hinauswill, und weil es gar nicht dumm, gar nicht weit hergeholt ist, wird er leiser, unsicherer: »Ähm, die … die zweite Seitenbucht ist … das haben sie in der Werft gemacht, bei den …«
»Ja! Eben! Das ist eine Reparatur, das hat nichts«, und jetzt wird Andrej wirklich laut, »nichts, nichts, gar nichts mit dem Grundkonstruktionsplan zu tun! Das haben sie ad hoc gemacht, das ist eine Folge der … das mussten sie so lösen, strukturerhaltend, weil die Sturmschäden, die Schäden vom Monodromiefragmentbeschuss … Weshalb sollte man ein Schiff so bauen, wie unseres nur deshalb aussieht, weil es mal fast in der Mitte durchgebrochen worden wäre?«
Christian fällt keine Antwort ein. Er starrt auf den Schirm und hört den Einsiedler sagen: »So und jetzt … der nächste Schritt: Die Ähnlichkeit, mehr, die Übereinstimmung dieses Details … und ich habe übrigens, das nur nebenbei, noch eine ganze Reihe weiterer gefunden, die Diduk einfach ignoriert, damit seine verordnete Orthodoxie intakt bleibt, wie die Kirchenleute damals alle Hinweise auf den Heliozentrismus ignoriert haben … also, das Ähnliche hat mich draufgebracht, aber wenn wir jetzt als Zweites die Abweichungen mal anschauen – welcher Ring fehlt?«
Die Frage ist mit solcher Dringlichkeit gestellt, dass Christian, der sich bedrängt fühlt, wie ein braver, aber sich windender Schüler antwortet: »Ich … ich weiß nicht, ein … einer von den Ringen, okay, es sind weniger, es fehlt … einer … der … ja, der zweite?«
»Und was ist da drin?«
»Wie, was ist da … ach so, bei uns. Das … das erste Aquarium. Das große.«
»Und das enthält was?«
»Das ent… ich versteh nicht, was du von mir willst, Andrej. Again, please, slow down …«
Aber der Alte tut nichts dergleichen, sondern ruft triumphierend, aber zugleich mit dem Pathos eines Mannes, dem schwerstes Unrecht geschehen ist für seine Hellsichtigkeit und Lauterkeit, ein einziges Wort aus, als wäre es der Schlüssel zu sämtlichen Geheimnissen des Universums: »Korallen!«
Eine weitere Kunstpause folgt, und als Christian wieder keine Reaktion einfällt, die ihm angemessen scheint, wiederholt Andrej noch einmal, ruhiger jetzt, aber mit großer Bestimmtheit: »Korallen.«
Christian sagt sehr leise, als hätte er das Wort noch nie gehört und mit der Hebung am Ende, die eine Frage markiert: »Korallen?«
So, wie man »Hab ich dich erwischt!« sagt, erwidert Andrej euphorisch: »Korallen, ja! Neptun ist eine Wasserwelt, nicht? Eine flüssige jedenfalls, eine Welt der … was kann da besser leben, was kann da geeigneter sein, um bewohnbare Strukturen zu bauen, Inseln, massive Substrate für ökologische Systeme, als eine biotisch den dortigen Gegebenheiten angepasste Abart der Koralle? Am besten wird man das Meer drum gleich noch mit Oktopoden bevölkern, mit diesen Tintenfischen, die Cordula immer … Alex Burkhard hatte … Die EOLOMEA, die JEFREMOW hatte viel Saatgut dabei, Saat von Pflanzen und von Tieren, auch aquatischen Lebewesen, aber keine Korallen, die kriegt sie von uns, hat sie von uns gekriegt, wird sie von uns kriegen, um …«
»Aber das ist doch völliger Blödsinn!«, unterbricht Christian den Redefluss des Alten. »Das ignoriert doch sämtliche … Korallen brauchen eine Umgebung, die nicht … das ist doch kein Meer da oben wie auf der Erde, ich hab das ja auch mal geglaubt, das war sogar … kurz nachdem ich aus meinem zweiten Kälteschlaf aufgewacht bin. Da hat mir Heike den Kopf gewaschen, weil ich so eine romantische Vorstellung vom Neptun hatte. Da gelten doch ganz andere physikalische Bedingungen als da, wo unsere Korallen herkommen, die werden da einfach zerquetscht und pulverisiert und zerstört und … Andrej, das ist einfach freie Assoziation, was du da machst, das ist wahnhaft, beziehungswahnhaft, wenn du sagst, Korallen, aha, Meer, und Neptun ist eine Meerwelt, na dann ignoriere ich einfach alle uns bekannten Naturgesetze und …«
»Ah!«, macht Andrej, eine Mischung aus Lachen und Bellen, und schlägt mit der flachen Hand auf die Konsole, dass Christian zusammenzuckt, als hätte ihn der Schlag nur knapp verpasst. Andrej richtet sich auf, breitet die Arme aus, klatscht dann in die Hände und spottet grimmig: »Naturgesetze! Na, dann! Wenn die Naturgesetze nicht einverstanden sind! Dann geht’s nicht, dann hat er unrecht, der Andrej Sirilko! Nein, nein, mein Freund. Das kannst du nicht machen, diese Hauptsache unserer Mission zur Nebensache erklären und unter den … den … flauschigen … Teppich deiner … Selbstberuhigung kehren.«
Er hat den Vergleich aus einem Buch, es ist ihm entfallen, aus welchem, aber das kümmert ihn jetzt nicht, er hat Wichtigeres mitzuteilen: »Sie sind nur an der Oberfläche geblieben, verstehst du? Lichtgeschwindigkeit, das war das Äußerste, was sie mal zulassen wollten, dass man das befragt – du kennst die Versuche der Gruppe um Korolev, diesen Dysonik, den Taisa beaufsichtigt hat?«
Etwas verschnupft antwortet Christian: »Ja, kenne ich. Als ich aufgewacht bin, Andrej … du musst mich hier nicht belehren … als ich vor sechs Jahren aufgewacht bin aus meinem zweiten Kälteschlaf, hatte ich ein langes Gespräch mit Heike. Sie war praktisch mein ganzes Empfangskomitee, und bei dem Gespräch haben wir beschämenderweise rausgekriegt, dass ich nicht mal wusste, wie der Neptun aufgebaut ist, und damals hab ich mir geschworen, mich nicht mehr vor diesem ganzen Zeug zu verkriechen in Texte oder ins Kältebett. Damals habe ich mir vorgenommen, Christian, du lernst das jetzt – und ja … Korolev: Die Theorie sagt, vielleicht war die Lichtgeschwindigkeit bei der Geburt des Universums nicht die heutige, sondern unendlich groß, oder jedenfalls viel größer als jetzt, also nicht wie bei Einstein, keine Konstante …«
»Ja, siehst du, Konstanten, bitte, und dann hat Korolev ein Verfahren entwickelt, wie man diese Prognose … na, Retrognose, diese Behauptung darüber, wie es viel früher mal gewesen sein muss, testen kann, nicht, und seitdem herrscht an Bord der FIRAT diese hübsche quietistische … dieser Betrug, von wegen, wir nehmen Cordulas Auftrag an, wonach wir die Veränderlichkeit und Löchrigkeit der Naturgesetze hier draußen messen, mit Sonden, aber auch in Labors, die mehr oder weniger autonom sind und um diese Monde hier kreisen oder auf diesen Monden eingerichtet werden, stationär, so hab ich ja meins gekriegt … aber der Betrug ist: Sie befassen sich mit Konstanten, nicht mit Gesetzen …«
»Die Konstanten sind Bestandteil der Gesetze, wenn …«
Andrej hat für Christians Widerwort keine Geduld mehr: »Ja, blablabla, Bestandteil, ach was, hör mal, es ist oberflächlich, sonst nichts – ich habe es mitgemacht, weiß Gott, bis zu einem Punkt, an dem Diduk selbst meine Konstantenmessungen zu weit gingen, weil ich an dieser Naivität da wenigstens mal gekratzt habe, indem ich, nach meiner Gleichung, die härteren, die heikleren Konstanten …«
Jetzt ist es Christian, der dem anderen ins Wort fällt: »Weiß ich auch alles. Du hast … die denken, du spinnst. Die haben mich vor dir gewarnt: Was will er denn, glaubt er, die Welt ist eine Täuschung? Ich weiß schon, du hast sogar h quer nachgemessen, tausend-, zehntausendmal, in der Ringlücke, in der äußersten Neptunatmosphäre, und dann auch noch die whatchamacallit, die Feinstrukturkonstante … sie sagen … Heike hat mir erzählt, was man redet, bei den Physikern, die hat Freunde da. Die sagen: Es wird nicht mehr lange dauern, und Sirilko wird jeden Morgen Pi nachrechnen, ob sich was geändert hat.«
Andrej holt sich mit dem rechten Fuß einen Stuhl auf Rollen her, setzt sich, lächelt, als wollte er sagen: »Touché«, und sagt dann etwas ganz anderes: »Gute Idee, Pi. Ich hab was Ähnliches gemacht, ich habe den Mondschein überprüft. Mehrmals.«
Christian, dem auf seinem Stuhl immer unbequemer wird – so hat er sich die Einweisung in seine hiesigen Pflichten wirklich nicht vorgestellt –, gibt zu, dass er passen muss, seiner jahrelangen Nachholbemühungen im Physikalisch-Naturwissenschaftlich-Mathematischen zum Trotz: »Mond…schein? Was Astronomisches?«
Er weiß selbst, dass das nicht richtig sein kann, der Kontext – das Nachrechnen von Pi – schließt es aus, und Andrej, keineswegs verbohrt oder irre, sondern auf einmal recht milde, schüttelt sacht den Kopf, als er sagt: »Mathematik. Das, was eben nicht mehr oberflächlich … der Mondschein ist eine Beziehung zwischen zwei intuitiv eher weit auseinanderliegenden mathematischen Gebieten, einerseits der Gruppentheorie und andererseits der Zahlentheorie … 1978 war das, da haben zwei Mathematiker, John Conway und Simon Norton, überrascht festgestellt, dass es eine Nähe … also, es gibt eine Gruppe, das ist …«
»Gruppen weiß ich«, sagt Christian, »das ist ein Haufen Elemente und eine Verknüpfung, mit der man aus Elementen andere Elemente …«
Andrej winkt ab. »So, da gibt es diese riesige Gruppe, die sogenannte Monstergruppe, und die erste Anzahl von Dimensionen, in der die was Sinnvolles … in der man mit ihr was machen kann, ist 196883, also in Matrizenform die … gut, aber in der algebraischen Zahlentheorie gibt es eine von Felix Klein definierte Funktion, die hat so einen Koeffizienten, 196884, also Unterschied: genau eins. Da fragten sich Conway und Norton: Was ist das, warum ist das so, das kann doch kein Zufall sein? Und jetzt kommt die Physik mit rein, denn es gibt eine Theorie, die in der Physik entstanden ist, die Vortexoperatorenalgebra, erfunden im Rahmen der Stringtheorie, und einer namens Richard Borcherds konnte zeigen, dass es eine feldtheoretische Begründung für den Mondschein gibt, für die Nähe zwischen dem Koeffizienten und der Monstergruppe, und hier stellt sich nun also die Frage, wenn die Naturgesetze mathematisch gefasst werden können …«
Christian steigt ein: »Alright, wenn Mathematik die Sprache der Natur ist, und dieser … Mondschein, diese Beziehung zwischen zwei Größen, ist eine Art Wortspiel in dieser Sprache …«
Andrej ist begeistert: »Ja, genau, Wortspiel! Die Mathematik macht Witze! Und wir müssen die Pointen dieser Witze … Schau, Christian, auf dem ganzen Weg von den Asteroiden bis zum Neptun habe ich versucht, meinen Ansatz … die Kinder waren fasziniert, aber Diduk und die alte Elite der Dysoniki haben gewarnt davor, haben gesagt: Das sind unbeweisbare Hypothesen, das ist … die Kinder waren fasziniert vom Mondschein übrigens, aber … unbeweisbar! Was heißt das? Diese Leute! Diese furchtbaren, undialektischen Köpfe! Ich war ja auch so blöd, bevor mir Aiguo den Verstand durchgekämmt hat, auf Anregung von Cordula wohl … aber es ist doch so: Alle diese wissenschaftlichen Theorien, diese schön beweisbaren, hängen von der Voraussetzung ab, dass … wenn sie zu raten versuchen, wie Planeten entstehen … die inneren Planeten fallen nicht in die Sterne, und ihre Hüllen werden vom Solarwind erst mal weggeblasen, das überschüssige Gas, und die Welten, die weiter draußen sind, na, Gas aus dem Nebel der Umgebung wird Wasser, Ammoniak, Methaneis, und wenn man jetzt über unser System rausschaut, die Vermutung, man könnte Planeten entdecken, indem man gravitationale Effekte auf dem jeweiligen Stern beobachtet, den sie umkreisen … alles das, alles, jede Vermutung über irgendwas, das weiter weg ist, als dass die Menschen ohne weiteres hinkämen, muss davon ausgehen, dass das Universum im Hinblick auf die Naturkonstanten, mehr noch aber im Hinblick auf die Naturgesetze isotrop ist … wir haben doch keine … es ist eine völlig andere Art von Beobachtung, wenn man keinen Versuchsaufbau machen kann, der … das Licht braucht … schau, Christian.« Der dringliche Ton von vorhin ist wieder da: »Die Wahrheit ist, Christian …«
Statt einer Offenbarung aus Andrejs Mund empfängt Christian einen Stoß Blut aus Andrejs Nase, als dessen Kopf nach hinten gerissen wird, von einem Schock, der ihm durch den ganzen Leib zu fahren scheint.
Blut als Spray spritzt dem Neuankömmling ins Gesicht, der seinen Stuhl (und sich selbst darin) reflexhaft mit beiden Beinen nach hinten stößt, was den Stuhl unter ihm wegrückt, während Christian nach oben fällt, als wäre er mit aller Kraft Richtung Decke gesprungen.
Er schlägt sich die rechte Schulter an einer Innendachstrebe des Zylinders an, dann stürzt er auf den Tisch, den sein Leib mittendurch bricht, und schreit auf, als ihm der Aufprall durch alle Knochen fährt. Einen Lidschlag lang wird ihm schwarz vor Augen, und er würgt an etwas, das nach Kupfer schmeckt, aber kein Blut ist, sondern trocken, wie ein Papierfetzen im Hals. Dann hustet er, schüttelt den Kopf heftig, als habe ihn wer gepackt und wolle ihn frei schütteln. Christian japst nach Luft, hustet wieder, fährt mit den Ellenbogen durch die Tischplattensplitter. Richtet den Oberkörper auf, so gut er kann. Andrej Sirilko, schräg links in Christians Gesichtsfeld, hängt schief in seinem Stuhl. Der Gestürzte kann nicht erkennen, ob Andrejs Augen offen oder geschlossen sind, ob er atmet, ob er lebt. Christian schüttelt noch einmal den Kopf, eine sinnlos trotzige Verneinung jetzt. Das passiert doch nicht wirklich, das darf doch nicht sein. Ich bin doch gerade erst angekommen.
Eine warme, feminine Stimme sagt: »Junger Mann? Entschuldigen Sie? Können Sie mich hören? Verstehen Sie mich?«
Hinter ihm ist das, sagt ihm sein Gehör. Er dreht sich unter leichten Rippenschmerzen in die Richtung, linksherum. Aber die Frau, die ihn angesprochen hat, steht nicht auf dem Boden der Station, sondern auf der gebogenen Innenwandung, als wäre das der Boden, als zeigte der Schwerkraftpfeil im Zylinder zur Seite.
Sie hat keine Löwenmähne, sondern schulterkurzes, wenn auch nicht ganz glattes Haar, sie trägt weder Jeans noch Turnschuhe, sondern einen grünen Overall und weiße kurze Stiefel, sie hat weniger Sommersprossen als auf den Fotos und auf den Filmen, sie sieht älter aus, wenn auch nicht mehr als zehn Jahre.
Aber Christian Winseck erkennt Alexandra Burkhard trotzdem sofort.