Niemand an Bord der FIRAT ist vorbereitet.
Selbst Semjon Diduk, der in militärischen Dingen Erfahrenste, hat in den letzten fünf Jahren über Angriffsgefahren nur in den allerallgemeinsten Begriffen wie »stete Wachsamkeit« nachgedacht. Die Leute sind fähig, sich im Nahkampf zu verteidigen. Das Training ist nie unterbrochen worden. Sehr viele tragen Messer und vergleichbares Werkzeug bei sich, aber die grundsätzliche Annahme hinter sämtlichen diesbezüglichen Gesprächen an Bord seit Aufnahme der Dysoniki und ihrer Kinder in die Missionsparameter war immer, es würde sich nichts Kriegerisches ohne Vorwarnung ereignen, man würde fremde Schiffe und dergleichen kommen sehen, auch Geschosse, erst recht Entertruppen.
Es kommt ganz anders.
Als es ganz anders kommt, ist Aiguo Sun tief eingegraben in die Arbeit, die immer mehr von seiner Zeit in Anspruch nimmt, seit er als Kapitän zurückgetreten ist, ein mit voller Absicht als dauerhaft verkündeter Abschied: »Mein Spätwerk«, hat er damals Diduk mit jener undurchschaubaren Freundlichkeit erklärt, die seine klügsten Schachzüge allzeit begleitet, »soll die Mission jetzt in die Tiefe führen statt, wie der Flug, nur in die Ferne.«
Er wollte nicht mehr Politiker sein, was man als Kapitän notgedrungen ist, sondern wieder Wissenschaftler. Im Rechner, den die Mehrheit der Besatzung selbst bildet, hängt er dazu nicht. Aiguo hat um ausgemusterte Geräte, um »Elektroschrott« gebeten und sich daraus etwas gebaut, das, wie er sagt, »auf der Erde wahrscheinlich auch heute noch, fast ein Vierteljahrhundert nach unserem Start, als Supercomputer gilt, aber hier auf dem Schiff bloß Spielzeug ist. Spielzeug brauche ich, denn ich will spielen.«
Diduk, von dem er sich die Genehmigung fürs Ausschlachten der abgetanen Apparate holte, erwiderte darauf: »Dann spiel. Meinen Segen hast du – so teuer wie die Wahnsinnsexperimente von Andrej, der demnächst noch nachzählen wird, ob die Zwei auf die Eins folgt und die Drei auf die Zwei, wird’s ja nicht werden. Schon gut, ich weiß, du verteidigst ihn …«
Aiguo nickt: »Er nimmt den Teil der Mission ernst, den Cordula uns vor dem Aufbruch von Ceres eingeschärft hat: Sucht Anomalien, studiert ihre Beschaffenheit, ihre Verteilung …«
»Mir wär’s lieber, wir fänden Spuren der EOLOMEA, aber … jede Frau und jeder Mann an ihren Plätzen, das ist mein Motto.«
Ein geringfügigerer und deshalb auch unbescheidenerer Geist hätte an dieser Neckerei Anstoß genommen. Aiguo aber setzt die Aufforderung einfach um, wie er alles angegangen ist, seit er das Dorf seiner Kindheit verlassen und sich auf den Weg zu den Sternen machen durfte: methodisch streng, in aller Ruhe kühn. Er zieht sich zurück in einen kleinen Rechnerraum und noch tiefer: Er zieht sich zurück ins Fundamentalste. Hier sucht er nach Gelegenheiten, Keller zu graben, und wenn er sie gegraben hat, klopft er die Wände von innen ab, der Echos wegen, die ihm verraten sollen, was der Grund ist und der Grund der Gründe. Ein Jahr nach Beginn dessen, was er sein Spätwerk nennt, verrät er Liz Parker, die ihn oft besucht, bei einem traditionell chinesischen Fischgericht, das er ihr aus einem schönen Fang zubereitet, den Filipa für ihn im Korallengürtel gemacht hat, dass er die »Anfangsprobleme« jetzt überwunden hat.
»Was für Anfangsprobleme?«, fragt Liz. Aiguo sieht sie scheinbar arglos an, als er sagt: »Ich musste herausfinden, wonach ich überhaupt fragen will. Jetzt weiß ich es. Ich hatte zuerst gefragt wie Wigner …«
»The physicist«, sagt sie, damit er weiß, dass ihr klar ist, von wem er redet. Aiguo schlägt die Lider kurz nieder, das ist knapper und deutlicher als ein Nicken. Dann fährt er fort: »Ja, der Mann, der gefragt hat: Warum ist Mathematik überhaupt nützlich fürs Formulieren der Naturgesetze? Ich habe das abgeklopft, nach der evolutionären Seite hin zuerst …«
Liz will erneut zeigen, dass sie mitdenkt: »Unsere Mathematik entsteht im Gehirn, und unser Gehirn ist von der Evolution für diese … unsere Welt zurechtentwickelt, also passt’s und ist nicht rätselhafter als die Frage: Warum passt unser Auge zu den Lichterscheinungen, die wir sehen müssen, um zu überleben?«
Er präzisiert beiläufig: »Um uns fortzupflanzen. Das Überleben ist nur notwendige Bedingung dafür, aber an sich nicht relevant. Deine Gene wollen nicht, dass du lebst. Sie wollen, dass du Junge kriegst.« Liz lacht, er meint es aber nicht witzig: »Nach der evolutionären Seite bin ich zu den Sachen selbst gekommen, also: Welche Naturgesetze sind mathematisch formulierbar, kann es nicht doch welche geben, die nicht mathematisch formulierbar sind und dennoch gesetzesförmig, etwa gültige, nicht auflösbare Widersprüche …«
»So was wie das, was wir im Rechner gefunden haben, bei der Mengenlehregeschichte.«
»Ja«, sagt er, »und um dein Gleichnis vom Auge anzuwenden: Es gibt ja auch Lichtwellenlängen, die das menschliche Auge nicht sehen kann, weil sie für unseren Fortpflanzungserfolg nicht nötig sind, und warum soll es also nicht mathematische Strukturen geben …«
»… die wir nicht denken können«, beendet Liz den unheimlichen Gedanken, der ihm aber gar nicht unheimlich ist: »Ich habe lange mit mir gerungen, die Synthese zu akzeptieren, zu der mein Durchgang durch die denkbaren und mein Abtasten der Möglichkeit der undenkbaren Naturgesetze mich zu … nötigen schien. Ich wollte es nicht, weil … weil ich einen Denkfehler gemacht habe. Ich hatte Angst, meine endgültige Fragestellung, meine korrigierte Fragestellung sei … westlich.« Er lächelt, als habe er eine große Peinlichkeit eingestanden, die ihm passiert ist. »Oder, wie Marx gesagt hätte, idealistisch.«
»Sorry, jetzt hast du mich abgehängt, jetzt habe ich vergessen, was war die unkorrigierte Frage, und erklär mir dann auch, wie hast du sie korrigiert und wie lautet sie jetzt – if you don’t mind explaining that to a slow witted New Mexico girl, Captain.«
Sie nennt ihn immer noch so, teils, weil sie ihn ehren möchte, teils, weil’s ihr bei aller inzwischen erreichten Harmonie zwischen den Dysoniki und ihren Kindern einerseits, der traditionalistischen Menschenfraktion auf der FIRAT andererseits immer noch lieber wäre, das Schiff würde von Aiguo Sun statt von Semjon Diduk befehligt, obwohl es Aiguo war, der ihr damals die Zwangsverbindung zum Rechner aufgezwungen hatte, gegen Diduks Protest.
»Die erste, aber falsche Frage«, sagt Aiguo, »ist, warum die Physik mathematisch ist. Die richtige ist, warum die Mathematik mathematisch ist. Die richtige Frage ergab sich aus der Synthese von allem, was ich wusste oder als leidlich gesichert betrachten konnte, denn die Synthese heißt einfach: Die physikalischen Strukturen – um’s mit der Mengenlehre zu sagen, von der du redest – sind eine Untermenge der mathematischen.«
Liz geht ein Licht auf: »And you were afraid that … dass diese Synthese idealistisch ist, weil sie die Tatsachen, etwa, dass Sachen so und so fallen in Schwerefeldern, dass Licht sich so und so bricht in Linsen, dass Schall sich so und so fortpflanzt in Atmosphären, dass man bei Quantenteilchen nicht gleichzeitig Ort und Impuls bestimmen kann … weil deine Synthese alle diese Tatsachen, materielle Dinge, den … denkbaren Strukturen unterordnet.«
»Ja, aber dann begriff ich: Idealistisch ist nicht, die Strukturen für primär zu halten, idealistisch wäre nur, die Strukturen mit den Ideen von den Strukturen zu verwechseln, die wir haben oder haben können. Die Idealisten denken, es gäbe Strukturen ohne etwas, das sie hat, das sie trägt, ohne etwas, das durch sie strukturiert ist. Ohne und zuerst, also: logisch zuerst. Während ich nur sage: Strukturen von etwas, das ich nicht kenne, sind vorgeordnet den Strukturen, die ich kenne und also nachweislich kennen kann. Ich sage nicht, dass das, was ich nicht kenne, prinzipiell unerkennbar ist. Erst das wäre die … der Anfang von …«
»The beginning of the slippery slope to idealism.«
»Richtig. Während die Frage ›Was ist das Mathematische an der Mathematik?‹ genau materialistisch fragt, nämlich: von was sind die allgemeinsten für uns denkbaren Strukturen eigentlich Strukturen, wenn eben gerade nicht von unseren oder Gottes Gedanken? Wenn ich wie du ein … Mädchen aus New Mexico wäre, könnte ich dasselbe auf zwei Arten sagen, weil ich so viel mexikanisches Spanisch gehört hätte beim Aufwachsen – ich könnte sagen ›two plus two equals four‹, oder ich könnte sagen ›dos mas dos igual a cuatro‹, aber was heißt das, es ist dasselbe, auf zwei Arten gesagt? Was ist dieses Dasselbe?«
»Well«, sagt Liz Parker mit verschmitztem Grinsen, »good luck finding that out, then.«
Am Tag des schwersten Angriffs auf das Schiff seit dem Sturm, vier Tage nach dem Abflug der Kapsel mit Christian Winseck an Bord, der zum Triton fliegt, um dort Andrej Sirilko abzulösen, ist Agiuo Sun wesentlichen Puzzleteilen der Antwort, die er sucht, näher denn je.
Er sitzt an seinem »Dampfcomputer«, wie Filipa Scholz die schwerfällige, aber robuste Maschine getauft hat, und befindet sich gedanklich in einem der tiefsten Stollen des Bergwerks, das er in den Jahren seit Ankunft der FIRAT im Neptunsystem zu seiner intellektuellen Heimat gemacht hat – in dem Schacht, auf dessen Wänden zu lesen steht, dass nicht einmal das uralte »zwei und zwei ist vier«, von dem er Liz gegenüber in zwei Sprachen geredet hat, die sie besonders gut kennt, ganz sicher ist vor Erschütterungen des Zufalls, dass selbst im Innern der Arithmetik Beliebigkeit gefunden werden kann, beim Ausüben der Grundrechenarten unter natürlichen Zahlen. Der Schlüssel ist die Komplexitätstheorie, denkt Aiguo, denn ihr verdankt die Menschheit die Einsicht, dass man niemals herausfinden wird, welches das kürzeste Computerprogramm ist, das einen bestimmten Output produziert (etwa eine bestimmte Zahl berechnet).
Auf die Vier kann man kommen, indem man die Eins zur Drei addiert, die Zwei zur Zwei, indem man die Zwei mit der Zwei multipliziert, indem man die Summe von Drei und Drei von der Zehn abzieht und so weiter – aber die algorithmische Komplexität der Vier, die – um dem großen Wahrscheinlichkeitsdenker, der diese Komplexität als Erster streng definiert hat, einem Landsmann von Semjon Diduk, die Ehre der Benennung zu geben. Die Kolmogorow-Komplexität eines Programms lässt sich nicht berechnen. Hier wütet Beliebigkeit, wenn Beliebigkeit bedeutet: Man weiß nicht, ob’s noch ein kürzeres Verfahren gibt, zu einer Sache zu kommen. Wenn es eine Regel gibt, die kürzer ist als eine Zahlenfolge, mit der man sie notieren kann, ist die Folge nicht beliebig.
Wenn es so eine Regel nicht gibt, nennt Gregory Chaitin, ein Landsmann von Liz, die Folge beliebig, »random« – und hat aus dieser Definition und dem von ihm und Kolmogorow im Umfeld dieser Definition gewonnenen Wissen und Vorleistungen eines Mannes namens Jones und eines anderen Mannes namens Matjasewitsch etwas ebenso Grandioses wie Perverses, etwas zugleich Erhabenes und äußerst Gruseliges konstruiert: eine diophantische Gleichung mit siebzehntausend Variablen, das heißt eine, in der jede Konstante eine beruhigend gewöhnliche, natürliche Zahl ist und auch alle Variablen solche nicht negativen positiven ganzen Zahlen sind. Eine der Variablen ist ein Parameter, das heißt ein Wert, der sich für eine spezifische Lösung der Gleichung nicht ändert, aber für verschiedene Lösungen verschieden sein kann. Wenn man nun diesen Parameter ändert – wenn man eins, oder zwei, oder drei oder was immer dafür setzt, kann man fragen: Hat diese Gleichung eine endliche oder eine unendliche Anzahl Lösungen?
Chaitins Falle ist so gebaut, dass die Antwort lautet: »unendlich«, wenn eine bestimmte Stelle im Programm, das die Zahl berechnet, welche die Haltewahrscheinlichkeit für ein Computerprogramm einer beliebigen Länge angibt, einen bestimmten Wert hat, und »endlich«, wenn diese Stelle, dieses Bit einen anderen Wert hat. Da aber die Haltewahrscheinlichkeit selbst qua Kolmogorow-Unbestimmbarkeit irreduzible mathematische Information ist – da man sie nicht durch ein Verfahren rauskriegt, das kürzer ist als das Laufenlassen des Programms –, ist die Frage »Hat diese Gleichung endlich oder unendlich viele Lösungen?« so unbestimmt wie die Quantenunbestimmtheiten.
Nicht nur im subatomaren Bereich, sondern in der einfachsten mathematischen Denkarbeit, beim Rechnen mit ganzen, positiven Zahlen, ohne Ableitungen, Integrale oder irgendwelche schaurigen unendlichen Größen, gibt es Unbestimmtheit, selbst in dem Bereich, den Kinder kennenlernen, wenn sie Sachen an ihren Fingern abzählen, wenn sie addieren und subtrahieren und multiplizieren und dividieren.
In diesen Abgründen fischt Aiguo Sun, an seinem uralten Bildschirm, der ihm Neuigkeiten zeigt, Neuigkeiten über messtheoretische-stochastische Münzwurffragen, über Seltenheit, Tests für Beliebigkeit von Datenreihen, Unvorhersagbarkeit, Wetten, Teil- und Ganzberechenbarkeit, als ihn ein stechender Schmerz am und im Hinterkopf, ein glühender Dolch im Genick zusammenzucken lässt und dann nach vorn kippen, so dass er beinah mit dem Gesicht gegen den Bildschirm schlägt, auf dem gerade eine Reihe von Ziffern mit griechischen kleinen Exponentenbuchstaben von unten nach oben läuft.
Er blinzelt, er leckt sich über die Lippen, richtet sich wieder auf.
Er zittert. Der Schmerz brennt nach, aber er wird weniger, dann ist er nur noch eine sehr unangenehme Kurzzeiterinnerung, die darauf besteht, eine Vorahnung sein zu wollen: Gleich wird’s noch schlimmer. Das ist irrational. Also kämpft Aiguo es nieder. Angst vor Schlägen hat man immer, wenn man geschlagen wurde, aber solange man nicht weiß, wer einen geschlagen hat und warum, sollte man, findet Aiguo, der Angst kein Gehör schenken.
Um herauszufinden, ob der Krampf im Kopf gerade nur sein Unglück war oder etwas Größeres, das mehr Leute betrifft, aktiviert er seine eingeschränkte Verbindung zum Rechner, den die meisten Leute auf der FIRAT bilden. Was daraufhin passiert, erschreckt ihn mehr als der Anfall: nichts. Kein Blinken im Gesichtsfeld, kein Text, kein Laut. Der Rechner schweigt. Aiguo schaut auf seinen Bildschirm, da geht’s weiter wie eben, Nulltests, offene Klassen, schwache n-Beliebigkeit …
Aiguo wechselt die Taktik: Da auf die Allgemeinanwahl niemand reagiert, versucht er es jetzt mit Einzeladressen, und da der Gesamtrechner offenbar einen Treffer abgekriegt hat, probiert er zuerst Leute aus, die nicht dauerhaft an diesen Gesamtrechner angeschlossen sind, Leute mit eingeschränkter Hirnkonnektivität also, die Liz-Parker-Fraktion.
Zuerst Liz selbst, von der er weiß, dass sie sich mit Filipa gerade keine vierzig Grad weit weg im selben Reifen wie er befindet, im Garten nämlich. Liz reagiert nicht.
Gleich darauf wählt Aiguo Filipa an, und die schickt ihm einen kurzen zerfahrenen Text:
AIGUO KOMM HILFE LIZ SCHWER VERLETZT ANDERE AUCH TOTE HIER GARTEN IV
Der alte Ingenieur, der sich mit allen erreichbaren medizinischen und biotechnischen Mitteln seit Jahrzehnten auf dem physischen Stand eines sportlichen Mittvierzigers einer der gesünderen Gesellschaften des frühen zwanzigsten Jahrhunderts erhalten hat, wirft keinen weiteren Blick auf seinen Arbeitsplatz mehr, sondern springt auf, während er sendet:
BIN SOFORT BEI EUCH
Dann stürzt er aus der Tür auf den Korridor.
Dort packt ihn einer der Invasoren im blauen Hartplastik-Körperpanzer im Genick, während ein anderer mit der ausgestreckten Rechten auf ihn zeigt, als wäre diese Hand eine Waffe, die auf ihn schießen kann, falls er den Invasoren Schwierigkeiten macht.
Aiguo, geistesgegenwärtig wie stets, hebt beide Arme: »Ich ergebe mich! Verstehen Sie? Sprechen Sie deutsch?«
Die beiden Männer lachen.