Die Nacht steht noch um Christian Winsecks Haus, als er ins finster Freie tritt und die Außentür des Gebäudes schließt, das Alexandra Burkhards Maschinen und drei ihrer treuesten Mitarbeiter ihm aus einem alten Container montiert haben, der seit der Ankunft der Amerikaner leer und ungenutzt im Gras am landeinwärts gelegenen schmalen Strauch-, Wiesen- und Buschrand des dritten der vier Buchtbögen herumsteht, die zusammen die Lagune bilden, in der auch Semjon Diduk und Heike Breuer sich niedergelassen haben, neben einigen von Masvidals Leuten und drei aus der alten DDR-Crew der JEFREMOW, alle in ihren jeweils eigenen Behausungen, alle mindestens drei, vier und maximal fünfzehn Kilometer voneinander entfernt auf kleinen Grundstücken, die keine präzisen Grenzen haben, keine Zäune oder sonstige Gebietsmarken, nur Gärten, Wiesen, kleinere Nutzpflanzungen.
Wie fast jeden Abend hat er auch gestern vor dem Einschlafen die Rankenquellen gebeten, ihn früh zu wecken, so dass er lange vor der schüchternen Dämmerung Gelegenheit hat, aufzustehen, sich zu waschen, anzukleiden und den Stoffwechsel mit einem nicht zu üppigen, aber auch nicht gerade kargen warmen Frühstück in Gang zu bringen, damit ihm nicht kalt wird auf dem Weg zu einem der höchsten Punkte des Randreifens von Wiesental.
Eine Erbsen-Meersalat-Suppe mit ofenwarmem Brot ist das diesmal, Suppe nach einem Kochbuch von der FIRAT, das er in den dort von Alexandra geplünderten Archiven gefunden hat, das Brot nach einem Rezept von Aiguo, der sich an seine bald ein Jahrhundert zurückliegende ländlich-chinesische Kindheit noch gut genug erinnert.
Der Meersalat spendiert Proteine, die Zwiebeln und die Kokosmilch (nun ja, deren neptunische Äquivalente) hat Christian vor dem Zusammenrühren der Suppe in der Pfanne heiß gemacht, weil er sich solche Speisen schon vor Sonnenaufgang leisten kann, denn er lebt allein und fällt mit seinem Atem niemandem zur Last.
Die Mahlzeit macht ihn ein bisschen müde, was er sportlich nimmt. Es erhöht die kleine Anstrengung bergauf, da fühlt er sich dann lebendiger.
Dunkel umgibt ihn, aber er selbst ist gut zu sehen, auch von weitem, denn seine Wollmütze hat einen leuchtenden Rand, und seine Turnschuhe sind an der Spitze wie am Absatz so hell, dass die wilden Kaninchen, Marder oder Hunde, die’s entlang seinem Pfad gibt, ihn misstrauisch meiden. Sie bleiben im hohen blauen Gras, zwischen hüfthohen Halmen, mutiertem Klatschmohn, hinter den Stämmen der Sicheltannen und Blaufichten versteckt, die zwei kleine Wäldchen bilden, deren schwarze Konturen er liebt, hinter deren Wipfeln die langen Striche der Kanten zweier der drei künstlichen Sonnen verschwinden: der weißen und der blauen, die nicht als Erste leuchten werden, denn der Tagesanbruch gehört dem blassen Rot, das jetzt, wenn er nach oben blickt, über das Ziel seiner Wanderung hinaus, bereits als heller Fleck im Dunkel über der Mitte des Horizonts leuchtet.
Nach einer halben Stunde stetigen Aufstiegs bleibt Christian Winseck stehen und trennt die Feldflasche von seinem Hüftgürtel. Er schraubt sie auf und trinkt die kalte Cola: Das, denkt er ein bisschen mutwillig und mit bösem Grinsen, ist das Beste an der Besatzung des Riesenplaneten, an der Herrschaft meiner Landsleute hier – dass sie einiges von dem Zeug mitgebracht haben, das ich seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr gekostet habe, zum Beispiel Cola. Dank Maschinen, die das herstellen können.
Lustig kommt ihm daran vor allem vor, dass er dieses Getränk und einige andere Nahrungsmittel, die es auf dem Flug der FRIES beziehungsweise FIRAT so wenig gab wie im Asteroidengürtel, nicht einen Moment lang vermisst hat, sosehr er sich jetzt darüber freut, dass es wieder Spare Ribs gibt und Hotdogs und Root Beer (Barbecuesoße hatte immerhin auch die deutsch-chinesische Expedition dabei). Der beinah tägliche Aufstieg stärkt ihn wie stets. In diesem Moment aber wird ihm paradoxerweise auch wieder das deutlich, was ihn in letzter Zeit am meisten beschäftigt, nämlich, dass er nach irdischen Maßstäben inzwischen ein alter Mann ist, wenn auch dank Telomer- und allerlei anderer Technik einer, dem kein Mediziner auf der alten Erde das Alter physisch angemerkt hätte.
Er denkt: Ich bin jetzt älter, als mein wirklicher, biologischer Vater zu der Zeit war, als ich ihn endlich kennenlernen durfte, älter auch, als er starb, in der Nacht, vor der Villa, auf dem Hang an einer schmalen Straße, die Finkenweg hieß und unter der sich etwas erstreckte, das genau denselben Namen hatte wie diese künstliche Insel im größten Meer, das ein Menschenauge je erblickt hat: Wiesental.
Danach nämlich hat Alexandra Burkhard den Ort benannt, nach der Heimat, ihrer und der ihres Freundes, von dem ich abstamme.
Das ist alles länger her, so fühlt sich’s an, als die alten Ägypter oder die Eiszeit oder die Saurier, und es ist mir, denkt Christian jetzt mit einer lange nicht erinnerten Melodie, längst klar, dass nichts bleibt, dass nichts bleibt … wie … es war – von wem war das noch mal? Von einem dieser deutschen Sänger, die mein armer deutscher Vater so hasste, die ich aber in meinem ersten deutschen Jahr so unglaublich und faszinierend fand, weil mir da erst aufging, dass nicht nur Amerika seine Popstars, Rockstars und Singer-Songwriter hatte – wer war’s noch gleich? So vergeht Jahr um Jahr … Reinhard Mey? Peter Maffay? Nein, ein stillerer, reservierterer Typ, einer aus dem Norden, oder?
»Hannes Wader«, sagt der amerikanische Deutsche in der neptunischen Morgenkühle und schüttelt den Kopf. Christian trinkt noch einen Schluck Cola, schraubt die Flasche wieder zu, macht sie mit einem routinierten Handgriff wieder am Gürtel fest und setzt seine Wanderung fort, den Wader’schen Ohrwurm im Kopf.
Als er wenig später den Gipfelkamm des Randreifens der Insel erreicht und von dort in die Bucht, dann auf die offene See, dann wieder in die Bucht blickt, beginnt das Schauspiel gerade, dessentwegen er sich den Aufstieg zugemutet hat: Im schüchternen Dämmer tauchen die orangefarbenen Rücken aus dem kaum bewegten Wasser, die Hinterhäupter der großen Tiere. Noch schwimmen sie und schweben nicht. Bald werden sie das Meer verlassen.
Christian zieht die gefütterte Nachtjacke aus und legt sie ins Gras, um zunächst darauf zu sitzen, später den Kopf darauf zu betten. Ihm ist, der körperlichen Anstrengung wegen, warm genug fürs Ausruhen, und der quarzrosa Sternstein wird seinen Aussichtposten in den nächsten zwei Stunden verlässlich weiter erwärmen. Pullover und Jeansjacke, mehr Kleidung braucht er bei dieser Temperatur nicht.
Unten haben die ersten der orangebraunen Wesen jetzt die Membran passiert. Ihre Tentakel hängen noch im Quasiwasser, glänzend, von Sternsteinreflexen glitzernd, ein tropfendes Schlackern und Schlenkern, das Christian hören zu können meint, obwohl er weiß, dass das nicht stimmen kann – erst wenn sie die Klippe passieren, auf der er sich befindet, wird das gummiartige Knirschen und Quietschen die Luft erfüllen, und er wird es hören, als läge er an Deck eines Schiffes mit Kautschuksegeln, die sich im Wind spannen und entspannen.
Sein Blick folgt ihnen wie durch ein Zielfernrohr, kalt aufmerksam, nicht bewundernd. Er kann zwar nicht von sich sagen, dass er diese Geschöpfe »hasst« wie Heike Breuer, aber seine Abneigung ist kaum wesentlich schwächer: Sie stehen für etwas, das er unbedingt begreifen, analytisch zergliedern, intellektuell bewältigen muss, so sehr ist es ihm zuwider, während Heike einfach nichts damit zu tun haben will – was ist das für eine Ökologie hier und wie hängt sie mit den Naturgesetzverletzungen zusammen, die Alexandra ihm in ihren Labors, nah am tiefsten Punkt von Wiesental, wo der große See als Nabel der Insel die unheimliche Verbindung zum Meer hält, nach und nach enthüllt hat?
Und wie hängen wieder diese Naturgesetzverletzungen und diese Ökologie mit der politischen Situation auf dem Riesenplaneten zusammen, mit der Herrschaft seiner Landsleute und dem, was diese Herrschaft bezweckt, der Arbeit in den drei Diamanten, der Arbeit an einer nichtmenschlichen Technik, von der Alexandra, wie sie sagt, »hier hergelockt« wurde, die sich ihr scheinbar hatte zur Verfügung stellen wollen, für große, schreckliche und schöne Taten, dann aber den Besatzern zugefallen war? Wer hat wem etwas getan, wohin wird’s führen? Christian denkt ans Pseudowasser in Alexandras Spezialtanks, dessen Enthalpie und Verdunstung, an widernatürliche Messdaten.
Er versucht, das Wissen über diese Daten damit abzugleichen, dass die Oktopoden, jetzt schon höher oben, jeden Morgen aus etwas kommen und jeden Abend in etwas hinabtauchen, das kein Wasser ist, aber sich verhält, als wäre es welches, jeden Morgen in etwas aufsteigen und jeden Abend aus etwas absinken, das keine Luft ist, aber sich verhält, als wäre es welche, und sich mittags um die Sternsteine scharen, wo sie wer weiß was tun, mit Masvidals Leuten und Maschinen.
Christian denkt an Grenzflächen, hydrophobe und hydrophile, dann an die Versuche mit Lack, die Alex mit ihm als Assistenten durchgeführt hat: »Die Haut der Kraken ist wie dieses Zeug, dieser Lack mit den mikrometerkleinen Metallstückchen, der Glimmer oder Glitter hier, im Basis- statt im Klarlack.« Per optischer Kohärenztomographie hat Alexandra die Lackschichten durchleuchtet, niedrigkohärenzlanges Licht reingeschickt und mit dem Interferometer Entfernungen in dem Medium gemessen, »weil ich die statistische Verteilung wissen will, die beim Zufallszusammenrühren auftritt«, und natürlich (da ist es wieder, das Wort, das hier nie stimmt) war’s dann eben keine zufällige Verteilung, sondern eine geklumpte, gewichtete, »gezinkte«, wie Alex sagt, »wie in der Haut der Kraken. Das ist so, weil hier irgendetwas passiert, auf diesem Planeten, im Feld der drei Sternsteine, was Materie auch im kleinsten Maßstab … sich verhalten lässt, als gäbe es etwas Neues, etwas, das die vorhandenen Grundkräfte ergänzt, elektromagnetische Kraft, Gravitation, schwache und starke Kernkraft. Bloß soll man mich erschießen, wenn ich auch nur die geringste Ahnung habe, was für eine zusätzliche Kraft das ist, die da an den Fermionen rumruckelt und diese … Nichtzufälligkeiten hier bedingt.«
Christian bettet den Kopf auf die luftig gefütterte, weiche Nachtjacke und döst ein bisschen weg. Er blinzelt, sieht die Kraken steigen, erst aus den Augenwinkeln nur, am Rand des Gesichtsfelds, dann segeln die ersten über ihn hinweg, von Nordost nach Südwest in diagonaler Fluglinie, und ihre gelben Augen scheinen dem Belesenen wie Belege für Unterstellungen, die den irdischen Homologen dieser Tiere in der Kultur-, Kunst- und Literaturgeschichte etwa »Hinterhältigkeit und Schläue« zuschreiben, wie bei Claudius Aelianus im dritten nachchristlichen Jahrhundert, oder Ahnungen, die glauben, die Kephalopoden seien die einzigen Überlebenden eines untergegangenen älteren Kosmos, in dem andere Gesetze galten, so ein Schöpfungsmythos auf Hawaii und zahlreiche Andeutungen bei H.P. Lovecraft.
Vielleicht kennt Christian das, was er da sieht, und das, was ihm dazu einfällt, inzwischen ein bisschen zu gut, als dass es seine Aufmerksamkeit noch fesseln könnte, vielleicht liegt’s auch daran, dass heute keine der seine Neugier und seine Spekulationen über die Rolle der Oktopoden im Plan der Besatzer besonders anregenden blauweißen Shuttlefahrzeuge die Flugbahnen der Oktopoden kreuzen, die Alexandra abfällig »Amikopter« nennt, aber dabei doch auch praktisch genug findet, um sie häufig selbst zu benutzen. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Suppe, die er gegessen hat, zu nährstoffreich war. Aus einem dieser Gründe oder einem anderen döst Christian jedenfalls, was bei diesen Ausflügen selten geschieht, während der allmählichen Licht- und Wärmezunahme im schüchternen Dämmer schließlich ein.
Bald träumt er fahriges Zeug: Mit seinen leuchtenden, matschigen Schuhen tapert er desorientiert durch eine sehr große Bibliothek, vorbei an Reihen und Reihen und Reihen von Büchern in Regalen, die so hoch sind, dass er ihre oberen Ränder selbst dann nicht würde sehen können, wenn er den Kopf in den Nacken legte. Ihn erfüllt schummeriges Bewusstsein davon, dass er ein Bändchen sucht, auf dessen Umschlag eine rosa Spinne abgebildet ist, die zugleich aber einen Hasen meint oder darstellt. Aber auf den Buchrücken, die er rechts und links auf dem Gang, der gerade breit genug ist, dass Christian nicht körperlich an den Buchreihen entlangstreift, steht nichts Hilfreiches, kein Name zum Beispiel, nur ärgerlich kryptischer Kram in kaum verständlichem, von unglaubwürdigen Fremdwörtern durchschossenem Deutsch wie Motivische Schmerzen bei Bienensachen oder Klammkoeffizienten in Prätheorien über Nein oder Rachsüchtige Kreise für müde Garben. Alle diese Bücher sind nass, von Wasser aufgequollen, das an den Regalen herunterrinnt und sich zu Christians matschig-leuchtenden Füßen sammelt; Wasser, in dem er patschen muss voll Ärger darüber, dass ihm diese ganzen Bücher nichts nützen, weil er sowieso auswendig weiß, was drinsteht, lauter ärgerlich aufrichtige Gedichte nämlich, die andauernd auf Englisch die Wahrheit über seine Lage sagen, über den Neptun vor allem, den sie, wie er sich stirnrunzelnd und übellaunig erinnert, in der zweiten Person ansprechen, als geduzten Planeten, distanzlos angekumpelte Welt,
bluemungous, ur-blue.
Earth blue held up to you
Is muck ball brown and grass stain green,
feige Bescheidenheit des irdischen Verfassers, ärgert sich Christian und spricht murmelnd die Zeilen mit,
our oceans but a drop,
a dust of moth,
a mote of you.
Und dagegen dann die unterwürfige Verehrung, mit der derselbe Autor sich der Sonne zum Feuerfraß vorwirft, indem er sich mit ihr identifiziert, indem er ihre Majestät komplett verschluckt und dann so spricht, als wäre er sie, so dass Christian beim bloßen Flüstern der Worte die heißen und kalten Schauer den Rücken, die Arme, die Beine runterwallen, wenn diese Sonne von ihrer Erde sagt:
But here she comes: my one success, the fertile fluke,
Dreaming in her just-right, just-so bed,
Her arm thrown back across her brow.
I mustn’t get too close. I mustn’t be so ardent.
I’ll learn to keep my distance, for now.
Wie denkst du dir das, Simon Barraclough, denkt Christian, und sagt’s dann auch, spricht’s aus: »Meinst du denn, dass diese Sonne deine Sprache spricht?«
Er sagt das in ein Mikrophon an einem Stiel aus schwarzem Drahtgeflecht, der aus einem Armaturenbrett in einem Cockpit herauswächst, das zwar genauso eng ist wie der Durchgang zwischen Gedrucktem, in dem Christian eben noch mühsam voranmatschen musste, aber bequem, warm, ein Nest. Jetzt ist alles besser, anders: Auf einem irdischen Meeresboden, von Ruinen mit New Yorker Fensterfronten und altrömischen Säulengängen umgeben, gleitet Christian in einem der Tintenfische dicht überm feinbewegten Staub dahin, als wäre das Tier selbst ein Amikopter, ein Luftkissenfahrzeug, ein Magnetschwebepanzer. Die beiden Augen des Geschöpfs sind Fenster, durch die der Pilot nach draußen sieht, wenn er nicht auf die Armaturen schaut, deren Anzeigen aber Gesichter sind: das von Alexandra, das von Taisa, auch Cordula Späth, die wie ein Uhrziffernblatt aussieht, mit Blitzen als großem und kleinem Zeiger. Sie zwinkert ihm zu, spitzt die zweidimensionalen Lippen, scheint ihn ansprechen zu wollen, aber was er hört, ist eine Männerstimme: »Hey, pal. You alright?«
Christian öffnet die Augen.
Die Hand, die der weißhaarige Amerikaner ihm entgegenstreckt, nimmt er ohne zu überlegen an und lässt sich emporziehen, bis er neben dem Mann in strahlend weißem Herrenunterhemd, schwarzer Jogginghose und bequemen Sneakers steht, dessen straffe Oberkörpermuskulatur den Sprachforscher ein bisschen einschüchtert und auf anderthalb Schritt Abstand hält. Der Offizier in Masvidals Diensten sagt mit seiner angenehm dunklen, leicht grollenden, aber freundlichen Stimme: »You been sleepin’ all night up here? Yer bones must be frozen but good, man.«
»Nein, ich war spazieren wie immer, bin nur eingenickt eben«, antwortet Christian, ganz bewusst auf Deutsch. Er weiß, dass Masvidals Leute diese Sprache lernen mussten, bevor sie, von Florida her in Einwegraketen gestartet, auf ihr Schiff an einem der als Werftorte bestimmten Lagrangepunkte gebracht wurden. Der Flug mit diesem Schiff, der JOHN F. KENNEDY, dauerte nur ein Siebtel so lang wie der mit der FRIES beziehungsweise FIRAT, deshalb trafen die Amerikaner, obwohl sie später aufbrachen (aber wann genau? Das weiß Christian immer noch nicht), vor Christian, Aiguo, Filipa, Semjon und den andern hier ein. Alexandra Burkhard war freilich noch früher hier, und von ihrem Hiersein wussten Masvidals Vorgesetzte, weshalb sie ihren Missionsleiter und seine kleine Armee sich darauf vorbereiten ließen, dass sie es hier mit vielen Deutschen und ein paar Russen zu tun haben würden, ohne deren Kooperation in technischen und wissenschaftlichen Fragen der Planet ihnen seine Geheimnisse nicht enthüllen würde.
»Ich hab den Viechern zugeschaut. Den Ballons«, sagt Christian, als der imposante Mann nichts auf seine erste Auskunft erwidert. Der Amerikaner heißt Jordan Barrow.
Christian kennt ihn mehr als oberflächlich. Sie haben schon zusammen getrunken, gefeiert, einmal hat ihn der Soldat auch in einem Amikopter zu Alexandra geflogen, außerdem sind die beiden Männer praktisch Nachbarn.
Christian kann das kleine Haus, in dem Barrow zusammen mit drei anderen Masvidal-Leuten wohnt, von seiner Hütte aus sehen. Zählt man von Norden her, steht es in der zweiten der beiden Unterbuchten. Bei seinen Bergausflügen sieht Christian den Offizier manchmal am Strand Tai-Chi-Übungen machen oder in den Dünen joggen. Hier oben war der Krieger, soweit sich Christian entsinnen kann, bislang noch nie.
»Ja«, sagt Barrow schließlich in seinem warmen, väterlichen Basston, und es klingt sehr deutsch, kein bisschen nach »Yeah«, ein Zeichen großer Höflich- und Verbindlichkeit also, mit dem er dem Krakenbeobachter seinen Respekt ausdrücken will.
Der Soldat fährt nahezu akzentfrei fort: »Die sind schwer wie Tanks, das wissen wir ja alle, aber es sieht so leicht aus, schwerelos. Unwirklich. Man denkt an Wörter aus Kinderbüchern und Natural Sciences: Nautilus, Medusa. Stuff like that.« Manches kann man nur in der Muttersprache ausdrücken, versteht Christian, auch wenn man sich Mühe gibt, mit anderen in dem Idiom zu reden, das sie bevorzugen. Christian mag den Mann, mag seine Präsenz und allerlei Kleinigkeiten wie den Umstand, dass dieser Soldat nicht sichtbar tätowiert ist, also seine Individualität so wenig nach außen hin und auf den ersten Blick betonen muss wie seine Heeres- oder irgendeine sonstige Gruppenzugehörigkeit.
Dass ihm die Gegenwart des Amerikaners das Gefühl von Sicherheit vermittelt, dass er ihn vage als älter und stärker empfindet, könnte allerdings, merkt er jetzt, einfach auf unbewiesenen, instinktartigen Intuitionen gegründet sein, die man überprüfen müsste: Er ist eben Amerikaner, kommt also aus der Gegend, in der Christian Kind war, und ist körperlich größer, was die Kindergefühle, vermutet Christian, nach irgendeinem soziobiologischen Hirnschaltkreisgesetz noch verstärkt.
In Wahrheit kann Barrow nicht älter sein als Christian. Er ist später aufgebrochen, aber nie biotisch erneuert worden, soweit Christian weiß – jedenfalls kennen die Amerikaner die Techniken von Eva Sonntag nicht, wenn sie auch die Dysoniki kennengelernt haben, allerdings wohl auf unerfreuliche Weise. Es scheint unterwegs eine schlimme militärische Konfliktepisode gegeben zu haben.
Geschlafen, halbgefroren, haben Masvidals Leute unterwegs nicht; die vergleichsweise kurze Reise verbrachte man auf der KENNEDY stets in Einsatzbereitschaft. Weil Christian den soliden Mister Barrow schätzt, will er von ihm nicht für einen Schöngeist gehalten werden, deshalb sagt er: »Es sieht chaotischer aus, als es ist. Aber wenn man sich dem Anblick überlässt, schafft man es irgendwann, die eigenen Intuitionen mit der Bewegung abzustimmen. Dann kann man vorausahnen, welches Tier welche Kurve fliegen wird, welche zum weißen Sternstein steigen und welche zum blauen und welche zu dem, der gerade anfängt zu leuchten.«
Barrow brummt nachdenklich, lässt den Blick über alle vier Lagunenbögen schweifen und wendet das Gesicht dann Christian zu: »Ich weiß, dass du denkst, wir wüssten Bescheid. Weil der Colonel da oben sitzt«, eine Kopfbewegung Richtung Mittagsstern, »und weil wir sie füttern, die beasts, oben, manchmal, und mit ihnen kommunizieren, soweit das geht … soweit uns Miss Burkhard und ihre Deutschen und der Chinese gezeigt haben, wie das geht. Aber wir haben die Kraken nicht gezüchtet, das war sie, deine … die Frau aus East Germany, na ja, I know, ursprünglich West Germany. Anyway, communist. Sie und ihr Chinese. Und was die Diamanten da oben angeht, wir haben sie als … they’re our HQs, the Colonel’s residence, where he also works with his closest staff, aber … wozu sie originally da sind, abgesehen von den … Effekten, all the weird stuff, localized and … das, was Miss Burkhard testet … wir wissen nichts über die Builders, nichts über die Funktion, den Zweck … wir wissen nicht, was das eigentlich ist. So ein Diamant. Wozu die hier im Himmel hängen.«
Das Vertrauen, das der Soldat ihm mit dieser Erklärung entgegenbringt, belohnt Christian mit einer überraschenden Auskunft: »Was das angeht, hab ich eine … sagen wir, eine Vermutung.«
»Do you?« Es klingt belustigt, aber nicht spöttisch. Der Amerikaner schaut wieder aufs Meer dabei und sieht den letzten Kraken beim Auftauchen aus den jetzt wilder bewegten, von Winden beunruhigten und teils bis zu zwei Metern hohen Wellen zu.
Christians Gesicht verändert sich kaum merklich. Ein neuer, schelmischer Zug umspielt die Lippen, die Augen wirken heiterer, als er sagt: »It’s a dram tree. Had one of ’em where I’m from. Up in North Carolina. Cape Fear.«
Der Soldat lächelt: »So you do speak English after all, huh?«
»Yes, aber ich ziehe das Deutsche vor. Das zweite Leben ist einem ja immer näher als das erste, wenn man zweimal leben darf.«
»Fair enough. Also … was ist ein dram tree? Or am I supposed to know that?«
»Wahrscheinlich nicht. Kommen Sie von der Küste?« Die formelle deutsche Anrede, fällt Christian hier wieder einmal auf, hat große Verbindlichkeitsvorteile.
»Nah, I’m about as dry as they come. New Mexico. Actually, not far from where your friend Liz came from. Das heißt also, dram trees gibt’s nur am Meer?«
»Ich bin mir nicht mal sicher, ob’s mehr als einen gibt, ob das nicht eine echte … lokale Besonderheit meiner Heimatstadt ist. Also, die Mündung und der Hafen dort …«
»Excuse me … I don’t know that word. Min…?«
»Mündung. Estuary.«
»Oh.«
»Yeah, well … die Stadt liegt sozusagen zwischen Fluss und Meer, nach Osten zum Meer hin einfach begrenzt durch den Atlantik, eine Küste, Beaches, der Wrightsville Beach zum Beispiel, schöne Restaurants in der Nähe vom Johnny Mercer Pier …«
»Johnny Mercer. Great Musician.«
»Right. Und die Westgrenze der Stadt, also … Water Street, Hotels und so was, da fließt der Cape Fear River. Wie das bei Mündungen so vorkommt, fließt der Fluss ab und zu in die falsche Richtung, bei Flut … gut, und an diesem Fluss, da gibt es auf der Höhe des alten Hafens dann diesen Knick, diese scharfe Biegung, und da stand … also da gab es über Jahrhunderte diese Gewohnheit, dass die Schiffe, wenn sie … da kamen sie an dieser alten Zypresse vorbei, ein wunderschöner Baum, ancient, pure southern gothic, moosbehangen, und das war eben der dram tree für die Seeleute, denn … ein dram, das ist einfach ein Drink, ein Schluck. Das ist der erste Schluck aus der Flasche, wenn’s auf See geht, wenn man den Fluss verlässt ins Offene, in die Gefahr, die Tiefe und die Stürme und das Abenteuer, und es ist der letzte Schluck, bevor man in den sicheren Hafen einkehrt, vor dem Landgang.«
»So what you’re saying is, these … aliens built this thing as a signal for … wenn jemand ins Sonnensystem fliegt oder es verlässt. Die Neptunbahn als Grenze.«
Christian nickt: »Ja, aber nicht nur die eigentliche Neptunbahn, nicht nur der Rand der Ekliptik, sondern die Kugel, die man sich denken kann, wenn man die Neptunbahn als Umfang nimmt und die Sonne als Mittelpunkt. Und … that’s not just a flight of fancy. Ich hab mir das, diese Grenzvorstellung, nicht bloß in Erinnerung an den dram tree ausgedacht. Am Anfang standen die Messungen. Die Daten.«
Barrow kann dem Gedanken folgen: »Your probes. You sent probe bots outside, and you sent probes inside that sphere. And you compared …«
»Klassische Versuchsanordnungen, klassische Naturkonstanten, h quer, Lichtgeschwindigkeit, Feinstrukturkonstante … Abweichungen, Irregularitäten across the board. Winzig, und mit Technik wie der, die man im zwanzigsten Jahrhundert hatte, gar nicht feststellbar, aber … es gibt ein Feld, es gibt etwas, das hier auf Neptun seinen Ursprung hat und das Sonnensystem einhüllt und abgrenzt von allem, was nicht zum Sonnensystem gehört. Die Gesetze, die, von der Erde aus gesehen, auch bei allen Beobachtungen gelten, die weit Entferntes erfassen, andere Sterne, andere Galaxien, sind erdnah stabiler als außerhalb der Neptunbahn. Was Hubble misst, würde Hubble anders messen, wenn man Hubble auch nur ein paar Kilometer außerhalb der Kugel schicken würde, die …«
»Yeah, well, we know this. Both of us. Wir haben dieselben Tests gemacht, und es sieht so aus … a clear distribution of anomalies along a form shaped like a …«
»Ein Trichter. Von der Zone aus, in der die Sternsteine …«
»Yes, it’s shaped like a funnel, widening outward to become this … sphere. Und in dieser … Sphäre ist dann alles noch halbwegs regulär, gelten die Gesetze, die wir kennen, in allen möglichen Bereichen der Physik, in optics, fluid dynamics, relativity, thermodynamics, quantum mechanics … so it’s … ein bisschen so, als ob es diese drei Sternsteine sind, die das machen, die das zumindest stabilisieren, das Naturgesetz…hafte. Und wenn man von außen käme, aus diesem irregulären Medium, diesem Chaos, dann wäre die Stelle mit dem … der Ursprung von diesem … Trichter …«
»So etwas wie die Hafeneinfahrt.«
»And so you thought of your port city. And your dram tree.«
»Ich habe Alexandra Burkhard davon erzählt. Von dieser Theorie, dass die Steine Maschinen sind, mit denen … und sie sagt, sie hat eine ähnliche Theorie und sogar ein Wort dafür, was die Maschinen mit dem Sonnensystem machen. Sie sagt, Masvidal stimmt mit der Einschätzung überein, aber er benutzt das Wort nicht, nur im Gespräch mit ihr, unter vier Augen, denn er will …«
»He does not want to acknowledge her … acuity. He does not want to lend legitimacy to her speculations, weil … es sonst so aussieht, als wäre sie … in charge. So what is that word?«
»Sie nennt es … also, diese Gesetze kommen von hier, vom Neptun, und das ganze Sonnensystem wird unter diese Gesetze gestellt von den Maschinen, wird dem Neptun angeglichen, daher … sie nennt es: Neptunation.«
Christian spricht das als deutsch-lateinisches Fremdwort aus, und der Amerikaner wiederholt es, wie man es aussprechen würde, wenn es ein englisches Fremdwort wäre: »Neptunation. Catchy.«
Christian zuckt mit den Schultern: »Yeah, maybe it should be pronounced as if it were an English word. She might have gotten it from a song, as a rhyming thing which … es gibt ein Lied, das in einer Botschaft von ihr, einer Sendung zur Erde … der Song heißt ›Daydream Nation‹, das war ein Hit in ihrer Jugend, glaube ich.«
Barrow, der das Stück nicht kennt, nickt trotzdem: »So sind wir Menschen, ja. Alle unsere Maßstäbe sind somewhat … provinziell. Nimm nur diesen Ort hier. Wiesental. Sie nennt das so, weil …«
»Ich weiß. Ihre Herkunft.«
»Yeah. Und wir … it’s caught on. We’re translating it, Masvidal authorized it, we’re calling the island ›Field Valley‹ now, ’cause he’s saying, Wiese, that’s a field, that’s a lot of grass.« In kaum verhohlenem Staunen hellt sich Christians Gesichtsausdruck auf, als sich ein Rätsel für ihn klärt, auf dem er seit Monaten herumkaut: »Ah, that’s what that means … ich … ich hatte mich schon gefragt, was dieses ›Fiwahi‹ ist, von dem immer alle reden bei euch, oder ›Fedwali‹ …«
»Yeah, die Aussprache ist nicht immer sauber. Ich würde mich kaum wundern, wenn das so käme wie bei vielen Legenden und Ortsnamen auf der Erde, wo das allmählich unscharf wird, ver… verwaschen, you know, so that people … some people might not even know in your town what that word ›dram‹ meant, die Namen bleiben, die Bedeutung löst sich auf, und irgendwann denkt hier niemand mehr an eine Wiese, ein Tal oder einen Ort in Süddeutschland, sondern nur noch an Fiwahi oder Fedwali oder Feldewal oder irgendwas, und schon jetzt ist es ja so, dass … I mean, even you guys, the communists and the Germans, say ›auf Wiesental‹ if they talk about what’s happening on the island, which is kind of bad grammar, isn’t it?«
Das stimmt, denkt Christian, es sollte eigentlich anders heißen, »im Wiesental«, wie da, wo Jochen und Alexandra herkamen, aber dann braucht man, weil man hier oben, auf der Klippe über der Vierfachbucht, sich ja in keinem Tal befindet, dafür einen eigenen Namen, für diesen Ring. Barrow wechselt das Thema: »Sie sind fast alle oben«, er meint die Kraken. »Bleiben Sie noch hier, oder begleiten Sie mich beim … Wandern, sagt man nicht so? Ich wollte den weiten Weg zurück, langsamer, just … taking in the sights. Wir könnten auch bei unseren Nachbarn vorbeischauen, dem Russen und der Deutschen … I saw ’em earlier today when I did my thing on the beach, saw them on their porch. We might join them, what do you say?«
Christian sagt: »Sure, why not?«