4 | In die Tiefe

Taisa steht auf dem Dach von Alexandra Burkhards Villa. Sie ist glücklich.

Sie wollte, als sie sich wie üblich eine halbe Stunde vor ihrer Gastgeberin mit einer verschlafenen Geste aus den Traumranken befreite, aufstand, frühstückte und dann die runde Treppe zu ihrem Lieblingsaussichtspunkt auf Wiesental emporstieg, nicht mehr als den viele Kilometer entfernten Nebelring im

Die sieht Taisa jetzt, mit Augen, die schärfer sehen als die meisten Menschen selbst mit Fernglasunterstützung, und in gehobener Stimmung, wie selbst eben aus dem Meer aufgetaucht, aus dem Schlaf der vielen verwirrenden Träume, die Taisa meist erst loswird, wenn sie ihren Kopf gereinigt hat, bei einem Spaziergang etwa oder irgendeiner körperlichen Tätigkeit – Holz hacken, schwimmen – oder einem Blick auf etwas Großes, Freies, ihrem eigenen Schicksal, ihren Nöten gegenüber Gleichgültiges, wie die großen Himmel, blass hellblau, mit Wolken, die Milchflocken oder abblätternder Birkenrinde gleichen.

Taisa weiß, dass die weiche Luft, die ihre Wangen und ihre Stirn kühlt, wie der schöne Ausblick von Menschen ermöglicht wurde. Sie weiß alles über die Ursachen und Folgen der Naturerscheinungen, in denen sie für ein paar Augenblicke den kommenden Kampf vergessen kann, die alten Wunden.

Ihr gefallen die blaugrasbewachsenen Steigungen, die welligen Wände der Insel, bei denen sie immer an Staudamm-wälle denken muss, auch wenn sie nie einen Staudamm gesehen hat, anders als alle andern Zweibeiner auf Wiesental – es sind keine im All geborenen Leute hier außer ihr. Sie ist die Einzige, die niemals auf der Erde herumgelaufen ist.

Ihr erster Planet heißt Neptun.

So blickt Taisa jetzt auf kleine Gruppen von winterharten

 

Taisa bewegt den Kopf nach oben und sieht in weiter Ferne diesen zwischen seidigem Grünspan und Skarabäusglitzern changierenden Regen, der aussieht, als wäre er mehr Schaum als Tropfenmenge, Schaum, der in einem Schwerefeld an einer Glasscheibe herunterrutscht. Taisa sucht Worte und findet keine.

Sie nimmt sich vor, es bleibenzulassen, diese Wortfindungsbemühungen, sie wird das einfach mal Winseck fragen, der gut darin ist, sich dergleichen auszudenken. Bis sie ihn fragen kann, will Taisa still genießen, dass der erste Planet, den sie betreten hat, so schön ist: das Leuchten dort im Kriechregen, die Strontium- und Galliumblitze an der Grenze des Korridors, in dem das Licht der drei Sternsteine auf die Insel fällt, und alles, was in ihrer Zone lebt und denkt, der grüne Schimmerschleier dahinter, teils hell wie Kupfercarbonat, teils dunkler, Kupferchlorid, Kräusel von Salzlichtern.

Sie nimmt an, dass diese stille Freude am Größeren und Dauernden, am immer Wiederkehrenden und vom Kampf der intelligenten Geschöpfe mit ihrem politischen Dauernotstand ganz Unbeeindruckbaren etwas mit dem Bedürfnis der Erdleute nach Religion zu tun hat. So jedenfalls legt sie das aus, was ihr Turan, den sie vermisst, über den Islam erzählt hat. Dieser Ingenieur auf der FIRAT gehörte zu einer kleinen

Taisa vermisst Turan und einige andere mehr als den Rechner, in dem sie einander alle so genau kennenlernen durften, als hätten sie Jahrhunderte im Gespräch verbracht, sie vermisst seine Witze und die Offenheit, mit der er sie und andere Kinder der Dysoniki von Anfang an, lange vor dem Rechner, schon auf dem Flug nach Ceres nach dem Andocken des Dysoniki-Schiffs an die alte PODKAYNE FRIES, behandeln konnte; vielleicht weil er, als Angehöriger einer religiösen und ethnischen Minderheit, besser wusste, wie unproduktiv und schädlich Ausgrenzung und Misstrauen sind, wenn man mit anderen, die man nicht gleich auf den ersten Blick, den ersten gesprochenen Satz, die erste beobachtbare Handlung hin versteht, zusammenleben und an einer gemeinsamen Aufgabe arbeiten muss.

Der Ort hier, der Ausblick auf dem Dach erinnert sie an ihn und daran, dass sie sehr bedauert, ihn nicht herbringen zu können, damit sie sich’s zusammen anschauen können. Orte können demnach, wundert sie sich und nimmt sich vor, das nicht zu vergessen, Erinnerungen an Leute wecken, die diese Orte nie betreten haben und nie betreten werden. Richtig, das ging ja auch Christian Winseck so, als er diese Villa hier das erste Mal sah: »Mein Vater. So hat mein Vater gewohnt.« Das klang, als wollte er sagen: die ganze lange Reise, und am Ende der Ausgangspunkt.

Alexandra Burkhard, die ihn im blauweißen Zweisitzer hergebracht hatte, entzauberte den merkwürdigen Moment sofort, mit einem kurios konspirativen Blick Richtung Taisa: »Ich hab da gewohnt, damals, mit deinem Vater, und fand’s so

 

»Wie lange hat es … gedauert … bis das gebaut war?«, fragte Christian, noch wie in Trance. Alexandra erwiderte mit einer Geste der Rechten, die so viel sagen sollte wie: Bleib nicht hier auf der Schwelle stehen, komm ruhig rein: »Drei Jahre, glaube ich. Genau weiß ich es nicht mehr, es verschwimmt in der Erinnerung, das erste beschleunigte Wachstum der Insel, die Zeitrafferzeit der Korallen, die wissenschaftliche Arbeit, das war uns alles eins.«

Dieses Abwiegeln, manchmal leicht ironisch, ist seitdem in allen Gesprächen zwischen Christian Winseck und Alexandra die Grundtonart der Gastgeberin. Taisa kann sich mühelos erklären, woran das liegt: Alexandra hat schnell gemerkt, was auch Taisa nicht verborgen geblieben ist, nämlich dass Christian Winseck, den sie von seiner Mondstation geholt und damit vor dem Tod gerettet hat, seinen Schock darüber seither auf eine Weise verarbeitet, deren Natur ihm wohl selbst nicht gleich klar war, inzwischen aber von niemandem mehr

Oben, im Erröten, löst der Nebelring vor der Steilwand an der Küste sich jetzt allmählich auf. Taisa hört Schritte hinter und unter sich, auf der breiten Treppe. Als ob damit ein sehr schneller Countdown begonnen hätte, der ihre kurze Zeit des Friedens, der Einigkeit mit sich selbst beenden wird, sammelt Taisa noch einmal die Eindrücke: den Kitzel auf der Haut, die Frische, das schöne Licht.

Dann steht Alexandra neben ihr und sagt freundlich: »Guckst du den Ballons zu?«

»Mir gefällt die Aussicht. Die Hänge, das Gras, das Tal, die Bäume und Büsche und Häuser. Wenn ich mich umdrehe, was ich gerade vorhatte, sehe ich den Brunnen, und der gefällt mir auch. Der stille See.« Als Taisa das sagt, bewegen sich bei ihr weder Stimmbänder noch Zunge oder Zähne. Denn das alles hat sie nicht. Stattdessen kommt der leicht blecherne, etwas verzerrte Schall ihrer Rede aus einem silbernen Kasten, der etwa einen halben Zentimeter weit aus der Stelle ihres Gesichtes herausragt, an der bei einem Menschen der Mund wäre und den die Technikerin unter Masvidal, die sie hergestellt hat, einfach »speech box« nennt, während Semjon Diduk nicht besonders sensibel, aber auch nicht ganz unzutreffend von »Taisas Mundharmonika« redet, auch wenn das, was rauskommt, wie Taisa selbst sagt, »nicht immer besonders harmonisch« ist.

»Freut mich«, sagt Alexandra Burkhard, »dass dir das immer noch so gut gefällt. Ich hatte es zwischenzeitlich ziemlich satt, aber irgendwann entdeckt man die Gegend, auch wenn man

Sie spricht von Gott, den Turan ihr einmal erklärt hat, auch wenn Alexandra ihn nicht Allah nennt wie Turan. Es ist, denkt Taisa, als könnte die Gastgeberin, dem strengen Verbot des Herrschers im weißen Sternstein zum Trotz, wonach man auf Wiesental nur mittels fürs menschliche Ohr hörbaren Schallwellen und fürs menschliche Auge sichtbaren Lichtwellen kommunizieren soll, irgendwie doch wissen, was in Taisa vorgeht und dass sie heute an Turan gedacht hat. Das sagt Taisa lieber nicht, und Alexandra fährt mit einer anderen Frage fort: »Wenn du zu den Kraken guckst, da drüben und hier und dort vorn«, sie zeigt mit dem Zeigefinger am ausgestreckten Arm in alle Richtungen, die sie meint, »erkennst du dann die Tentakel? Sind deine Augen so scharf?«

»Es sieht aus wie Wollknäuel, an denen unten lange Fussel hängen«, bestätigt Taisa, und Alexandra lacht leise, bevor sie sagt: »Ich bin froh, dass die Dinger hergebracht wurden. Sie machen sich sehr gut, im Ozean und in der Luft – als hätten sie sich lange drauf vorbereitet. Ich meine, es gibt ja nicht viele fossile Zeugnisse, weil’s Weichtiere sind, die sich schlecht halten. Aber die ersten Spuren der Familie Oktopus auf der Erde reichen zweihundertneunzig Millionen Jahre zurück – jedenfalls ist das der Stand, den ihr mitgebracht habt, mit den Datenbanken der FIRAT, von den Amis nicht verändert. Allerdings gibt’s in der Fachwelt Streit drüber, ob diese Spuren richtig gedeutet wurden. Und dann kommt eine Riesenlücke, und das nächste Tier ist dann eindeutig eins aus dieser Familie, acht Arme, entsprechende Haltung, vor hundertvierundsechzig Millionen Jahren im Abdruck konserviert. Dreihundert Arten gibt’s inzwischen, falls es sie noch alle gibt. Hier nur eine.«

»Die du gezüchtet hast, mit dem Chinesen, der oben wohnt«, sagt Taisa. Es klingt neutral, aber das liegt am Synthesizer. Es

»Zehn Finger, acht Tentakel. Schwierig«, sagt Taisa, einer von ihren lakonischen Witzen, hinter denen mehr steckt, als dem konfliktfreien Umgang mit den verschiedenen Menschengruppen zuträglich wäre, wüssten alle davon. Taisa hat, noch auf der FIRAT, kaum verstanden, wie betreten Filipa zuerst reagierte, als Taisa ihr verriet, dass sie, angeregt durch die Ähnlichkeit der physischen Erscheinung zwischen ihr und Andrej Sirilko, sich ein paar Arbeitsstunden in den Biolabors verschafft und dort geklärt hatte, dass der inzwischen leider tote Physiker und sie tatsächlich verwandt waren, sogar recht nah: »Ist doch schön! Ich glaube«, erklärte sie, damals noch ohne Mundharmonika, der Deutschen per TS, »dass das eine Art Belohnung sein sollte für diejenigen, die im Verborgenen und meistens ohne nennenswerten Dank über Jahre und Jahrzehnte dafür gesorgt haben, dass die JEFREMOW vorbereitet wird und dass sie starten kann – man wollte diese Leute, darunter Andrejs Mutter, von der auch ich stamme, ehren, soweit sie nicht mitkommen konnten, indem man wenigstens ihr genetisches Material auf die Reise zu den Sternen geschickt hat.«

»Das verstehe ich ja«, antwortete Filipa, nicht auf dem schnellen Weg, sondern mit ihrer Stimme, die dabei erregt klang, »und Meinhard hat mir auch erzählt, Cordula hätte ihm mal die Augen eines robotischen Dysoniki-Kämpfers gezeigt, das … wären die Augen von einem Russen gewesen, also nicht seine, sondern aus seinem Genzeugs geklonte, und von daher überrascht mich das jetzt auch nicht so. Aber ich denke, trotzdem«, bei dem Wort hob sie die Stimme und sah aus wie jemand, der einem Kind etwas sehr Ungehöriges und für bestimmte Erwachsene skandalös Verletzendes getan oder gesagt hat, »solltest du damit jetzt nicht einfach zu Andrej rennen und, na, ihm um den Hals fallen, Bruder und so.«

»Ich hatte das nicht vor«, beendete Taisa damals das Thema

Was von dem kurzen Wortwechsel bei ihr zurückblieb, war ein Eindruck, den sie seither durch historische Studien in den Datenbanken erst der FRIES, dann der FIRAT, aber auch durch Gespräche und Beobachtungen im Kreis lebendiger irdischer Menschen zu ihrem wachsenden Kummer immer wieder bestätigt fand und der auch jetzt durch die Bescheidenheit, ja Scheu Alexandras bekräftigt wurde, sich zu ihrer Rolle bei der Züchtung der Kraken im Meer um Wiesental zu bekennen: Sie gehen den halben Weg, erschrecken, fallen zurück, verheddern sich in der Erbschaft unklarer Zeiten, unwissender Vorfahren – sie hat das einmal Cordula Späth anvertraut, am Rand einer Besprechung auf Aiguo Suns Brücke, und verblüffenderweise hatte diese Frau ihr per Textübertagung geantwortet, während sie gleichzeitig aus einem mündlichen Gespräch mit Aiguo und einem Techniker aus dessen chinesischem Stab keine Sekunde ausstieg: »Unsere Traditionen sind so, es klebt überall noch der Schleim und Dreck älterer Metaphysik dran, weil wir ja mit unseren Argumenten andere Menschen gewinnen wollen und müssen, mit ihnen deshalb in ihrer Sprache reden und diese Sprache und dieses Reden und das davon konfigurierte Denken uns dann eben im Alten und Blöden festhält – das ist der Nachteil an dem, was die Menschen unter ›Denken‹ verstehen, dass es eben im Sozialen entsteht, das selbst der innere Monolog an Gesprächen gebildet wird, Denken ist uns Sprache, Sprache ist sozial, und Wesen, die so zu sich kommen, haben unglaubliche Schwierigkeiten, Ideologien zu überwinden, die sie mit der Sprache aufgesogen haben. Selbst Marx und Engels mit ihrer konfusen Erwiderung auf das Schwein Malthus sind so, sie sehen gar nicht, was bei diesen Halbwahrheiten von dem Kerl die wahre Hälfte ist, oder Lenin, wenn er sich plötzlich positiv auf den Ideologiebegriff bezieht, das hat er aus dem neunzehnten Jahrhundert, das hinkt bei ihm nach, bei dem

Taisa dachte einen Augenblick über diese Mitteilung nach, dann textete sie zurück: »Das sind sehr allgemeine Ausführungen, bei denen mir nicht klar ist, wie sie genau zu meinem Problem passen. Es besteht ja darin, dass ich das Gefühl habe, es herrscht eine Scheu bei euch, in die eigene Biologie einzugreifen, die weit über die Fortschrittsträgheit und Neigung zum Schuldgefühl hinausreicht, die du mir beschrieben hast. Als ich mit anderen, besonders Deutschen, hier auf dem Schiff geredet habe, ist mir immer wieder ein Erschrecken begegnet, wenn es um das Thema ging, und ein Strauß von Assoziationen derart, dass man alles, was mit Menschenzüchtung zu tun hat, mit genetischen und sonstigen Manipulationen, für tendenziell bösartig hält, vom Nationalsozialismus war die Rede, Eugenik, Lebensborn, Nietzsche als Quelle solcher Ideen. Der Bezug ist ganz formal, auch kontingent, scheint mir, etwa so, wie man sagen könnte, Pillen nehmen wir nicht, denn mit Pillen sind Leute vergiftet worden, das heißt, es ist deinen Deutschen hier auf der PODKAYNE FRIES überhaupt nicht klarzumachen, dass das instrumentelle Denken nicht plötzlich dämonisch wird, wenn es von der sonstigen physikalischen und physikochemischen Welt ins Organische und schließlich Lebendige erweitert wird. Ich habe mit Heike Breuer drüber geredet, und sie hat mich auftrumpfend herausgefordert, eine einzige progressive Stimme zu nennen, eine einzige, wie sie sagte, nicht faschistische Person in den letzten hundert Jahren, die sich für Bio- und Reproduktionstechnik ausgesprochen habe oder für eine Politik, in der menschliche Populationen insgesamt Gegenstand von Planung wurden. Das war nicht schwer, von Margaret Sanger angefangen über die einschlägigen Chinesen bis zu Octavia Butler. Aber es hat sie alles nicht beeindruckt, im Gegenteil, sie wurde sehr ärgerlich mit mir und hat schließlich das Gespräch ganz abgebrochen, unter Vorwänden, die

Die Antwort kam erneut verblüffend schnell, kaum anderthalb Minuten nach Taisas Sendung, was der Dysoniki-Frau verriet, dass Cordula Späth mit diesem Kommunikationsmedium anders umging als alle Irdischen, denen man mühsam beibrachte, an Buchstaben und andere Zeichen auf einem imaginären Keyboard zu denken und damit Texte zu komponieren, wie man sie per Fingertippen in traditionelle Textgeneratormedien eingab – für Cordula war das Texten offenbar wirklich so etwas wie Sprechen, sie musste Abkürzungen kennen, die der Unmittelbarkeit entsprachen, mit der jemand wie Taisa das Medium nutzte: »Erstens, meine Liebe, lass Octavia Butler aus dem Spiel. Bloß, daraus, dass sie in der Xenogenesis-Sache die Züchter sozusagen ins Recht setzt, folgt nicht, dass die Verfasserin sich als Fürsprecherin der Züchtung von Intelligenzwesen verstanden wissen wollte – so primitiv funktioniert Kunst nicht, das sind keine Leitartikel und keine Flugblätter, und dass man auf den Asteroiden die ästhetische Erziehung von Kindern wie dir derart vernachlässigt hat, dass du jetzt offensichtlich nicht weißt, was ein Roman ist und wie man das lesen muss, wird sich an Baklanows Staat, überhaupt an der ganzen Asteroidenzivilisation noch mal bitter rächen. Aber zu deinem Problem mit den Deutschen: Erstens, das sind Westdeutsche. Nicht Deutsche überhaupt. Du würdest wahrscheinlich bei Alexandra Burkhard auf ganz ähnliche Haltungen und Verklemmtheiten treffen, wenn du ihr begegnen würdest, wer weiß, vielleicht passiert das ja mal. Ich nenne ihren Namen, weil du es bei ihr immerhin wirklich mit einer soliden Linken, vielleicht sogar tatsächlich einer Kommunistin zu tun hättest, aber das dürfte an der sensiblen Stelle, von der wir reden, keinen Unterschied machen. Es hängt mit der spezifischen öffentlichen Bildungs- und Nachrichtensphäre der alten

Dazu kam es nie, wegen all der Abenteuer.

 

»Wollen wir los?« Alexandra wirft Taisa nicht unsanft aus ihren Erinnerungen.

»Ja, gehen wir.« Die Treppe hinab durchs schneeweiße Haus schweigen die beiden Frauen. Stumm gehen sie an den Aquarien vorbei, in denen exotische Muränenkreuzungen und bunte Zierfische ihr Fressen-und-gefressen-Werden leben, als zahme Vorankündigung der bizarren Fauna, die Taisa und Alexandra gleich im Brunnen und unter der Insel wiedersehen werden.

Im Erdgeschoss liegt neben dem Treppenabsatz eine schmutzig blaue, schrabbelige Sporttasche, in der Alexandra gelegentlich kleinere Gerätschaften vom Haupthaus in den Garten oder eins der Labors und zurücktransportiert.

Auf Tauchgänge hat sie’s in Taisas Beisein noch nie mitgenommen, aber was es damit auf sich hat, fragt die Dysoniki-Frau nicht, als die Deutsche das Ding, das offenbar nicht ganz leicht ist, aufhebt und rechts schultert.

Es wird sich spätestens an Bord des U-Boots zeigen, was drin ist.

Auch auf dem ausgetretenen ochsenblutroten Erd- und Korallenstaubweg hin zum See sprechen die beiden kein Wort. Jede ist mit ihren eigenen Eindrücken und Gedanken beschäftigt: Taisa grüßt stumm die Palmen, streift mit der rechten Hand auf dem vertrauten Pfad die Buchenfarnspitzen, erspäht in Büschen Springkrautblüten, erkennt die Rücken von Hasen im hohen Gras der Wiese, sieht eine Haubenmeise ihr Gefieder putzen, auf einem hohen Ast am Rand des Fichtenwäldchens

Alexandra, die denselben froschgrünen Overall trägt wie ihre Begleiterin, weil die Soldateska des strengen Colonels an dieser Montur das wissenschaftliche und technische Personal, auf das sie nicht schießen und das sie nicht alle fünf Minuten kontrollieren soll, schon von weitem erkennt, sieht die Nager im Gras auch, die Zwitscherbällchen auf den Zweigen derselben Fichten, Schwarz- und Grauerlen, denselben Himmel mit seinem fernen schaumigen Regen, seinen bläulich-elektrischen Schleiern und bleichen Blitzen, spürt denselben mild kühlen Wind im Gesicht, am Hals, an den Händen. Aber ihre Freude daran ist wehmütiger, ein Abschied: Sie weiß, dass sie morgen diesen Weg nicht wieder gehen wird, den sie so gut kennt, der so ausgetreten ist heute und der so neu war, als Alexandra ihn sich selbst im damals ebenfalls noch ganz neuen, frisch aus dem Boden entsprossenen blauen Gras bahnte, Schritt für Schritt, und dass sie ihn vielleicht nie wiedersehen wird, wie die ganze Insel, wie das ganze fleißige, lehrreiche, beschauliche Leben hier.

Die Dinge mussten reifen, sagt sie sich. Jetzt sind sie reif.

Als Alexandra und Taisa den See erreichen, sind die drei Wartungsroboter am Pier mit dem Tauchboot in seiner Stahlgerüstaufhängung noch nicht fertig.

Einer nimmt gerade feinmechanische Korrekturen im Gelenk eines der sechs Backbordsteuerpaddel vor, der zweite setzt die Hauptbatterie im Bauch des Fahrzeugs wieder ein, und der dritte putzt die kuppelförmige Heckscheibe mit blasenwerfendem Seifenwasser.

»Lass mal«, winkt Alexandra den Scheibenputzer beiseite, der mit seinem elektronischen Gehör und Gesichtssinn die Anweisung wahrnimmt und sofort befolgt, während Taisa dem Batteriehelfer beim Verschließen der Doppelklappe hilft und

 

Fünf Minuten später rutscht das kleine Unterwasserfahrzeug die sanfte Abwärtskurve entlang, die zwischen Zentrum und Ufer des Sees eine Art Sicherheitsring um den eigentlichen Brunnen schließt. Alexandra Burkhard kontrolliert die Navigationsfelder der Konsole, während Taisa hinter ihr die Mess- und Fangvorrichtungen, die Sensoren und Aktuatoren überprüft. Der Bauch des Bootes schleift nicht allzu holprig am fast dellenfrei glatten Boden entlang, dann reißt das Geräusch ab, und die Frauen wissen, dass sie die obere Öffnung der viele Kilometer tiefen Röhre in der Inselmitte erreicht haben.

Augenblicklich beginnt der von Düsen und Wasserwiderstand kaum gebremste Sturz in die Tiefe. Die ersten sechs Minuten umgibt das mutwillig sinkende Schiff nichts als Schwärze. Dann kommt im senkrechten Tunnel ein dunkelbraunes Flattern auf, das von den Fächern rührt, die hier im Nichtgestein wachsen, und das in Wuseln übergeht, als in größerer Tiefe zitternde und tanzende Fäden wie Peitschen oder dünne Drähte aus dem Fächerwald ragen und von der Strömung bewegt werden, schon heller braun, hier und da fast rot im Licht der zwölf Scheinwerferkegel, die von den Lampen rings ums Bootchassis ausgehen.

Die Innenwandung der Röhre hellt sich immer weiter auf.

Langsam ist nicht mehr zu übersehen, dass selbstleuchtende Äderchen sie netzartig überziehen, gläsern schimmernde Stoffwechsel- und Datenbahnen, ein komplizierter Organismus von Tausenden von Kilometern Umfang, festgesaugt am Grundsubstrat von Wiesental, am Trichter, durch den Alexandra und Taisa sinken, das vierte Mal erst gemeinsam. Bei den allermeisten dieser Tauchgänge sitzt Alexandra alleine im Boot, selten mit einem von Masvidals Soldaten. Das hatte

Taisa beugt sich im Sitz nach vorn, nähert ihr Gesicht der Scheibe, schaut aufs Glühende und darunter aufs Rote.

»Kalk«, sagt Alexandra leise, das Gesicht über die Bildschirme gebeugt und damit von unten fahl erleuchtet, und Taisa fragt nach: »Kalk? Was meinst du?«

»Du hast rausgeguckt auf die Röhre, und du hast ausgesehen, als ob du denkst: Wände! So ein bisschen klaustrophobisch, nach der frischen Luft vorhin. Da sage ich: Ja, diese Wände sind Kalk. Nun ja, Metakalk. Transbaryonenkalk. Von kleinen Tierchen, den Korallen, sehr viel schneller produziert als auf der Erde. Als ich jung war, bin ich in den Kalkalpen auf der Erde rumgeklettert, mit Christians Vater, ein Sechshundert-Kilometer-Gebirgszug mitten in Europa, vor undenklich langer Zeit von solchen Biestern hinterlassen.«

Taisa schweigt dazu, was, wie Alexandra weiß, nicht bedeutet, dass es sie nicht interessiert. Im Gegenteil, die Erfahrung mit der Dysoniki-Frau hat Alexandra gelehrt, dass sie weiterreden soll, bis sie unterbrochen wird oder nichts mehr zu sagen hat, und so fährt sie fort: »Ich wollte dich noch mal mitnehmen. Auf diese Unterseite der Kunstwelt, die wir gebaut haben. Die Uhr ist nämlich abgelaufen, Taisa. Ich habe die Ergebnisse beisammen, und Song Jian hat die Oktopoden instruiert, und die von uns programmierten Roboter haben die anderen

Taisa weiß nicht genau, was Alexandra mit der abgelaufenen Uhr meint, mit den Ergebnissen, mit der Sabotage, aber sie kann es sich ungefähr denken, kann es raten, weil sie in den Monaten, die sie auf Wiesental verbringen durfte, mit genau der Aufmerksamkeit und Intelligenz ihre Umgebung beobachtet hat, mit der Alexandra bei ihr rechnet. Was Alexandra mit dem »Lupfer« meint, ist Taisa dagegen völlig klar, auch wenn der Dialektausdruck nicht zu der Sorte Deutsch gehört, die sie im Asteroidengürtel gelernt hat – es ist der Ruck, der das Boot aus dem Zylinder entlässt und den Alexandra mit ein paar schnell getippten Stabilisierungsbefehlen beantwortet, während sie sagt: »Mir geht’s immer noch so, jedes Mal wenn ich hier in diesen … verrückten Garten springe, nach dem Sinken, dass ich meinen Orientierungssinn ganz neu … na, selbst die horizontale Bewegung jetzt, erst mal weg vom Riff, fühlt sich wie eine Abwärtsspirale an, nicht?«

Ein paar Meter rechts und oberhalb vom Boot, auch ziemlich nah links davon und etwas weiter weg dahinter, brennen die lebenden Lichter, die Alexandra meint, wenn sie vom »verrückten Garten« spricht: Eine Kolonie aus blauen Gasflämmchen mit roten Pünktchen drin, einer Trompete gleich, schwebt als halbstarre, wabbelnde Planktonjägerin ins Sichtfeld, durch die, mit der breiten Einströmöffnung ununterbrochen aufgenommen und die enge Spitze ausgeschieden, stetiger Durchfluss wie Luft durch eine Turbine getrieben wird. Es zieht sich zusammen, es dehnt sich aus, es lebt und kräuselt sein Licht, das wie eine Positionslampe für die herantrudelnde Seewespe wirkt, deren dreißig Zentimeter langer, gewittrig blitzender Würfelkörper ein halbes hundert Giftfäden hinter sich herzieht, deren kürzeste zwei Meter lang sind, gefährlich für Fische, Garnelen und andere Geschöpfe, die daher Abstand

Mal plump, mal pfeilspitz wuseln die Tiere ungestört, picken an der Säule, der das U-Boot gerade entsprungen ist, oder umringen die Cantei, die mit ihrer einzigen Bewegungsschnur hauchdünne Leiber immer wieder Richtung Riff, Richtung Wärme zurücktreiben, wenn sie abdriften, Cousinen der irdischen Rippenquallen mit Taschen und Stachelknuppeln in Grellrot auf Orange, denen Taisa entrückt nachschaut, weil ihre bewusstlose Existenz so viel Grazie zeigt, im Leben und Schweben.

»Sieht aus wie diese Mikroskopaufnahmen von bizarren Mikroben und Bazillen und was nicht alles, wie in unserem Inneren, nur viel größer«, sagt Alexandra und steuert wie die Cantei auf die große Röhre, den Stängel der Insel zu dabei, »als ob das alles extrem abwegige Geräusche macht, die man nur nicht hören kann. Aber man stellt sie sich unwillkürlich vor, oder? Ich dachte das schon bei meinem ersten Ausflug in die Tiefe, die gar nicht so tief war wie hier, damals vor der afrikanischen Küste, wo wir trainiert haben, in Tauchanzügen, für die JEFREMOW, ich bin da mit Cordula Späth unterwegs gewesen, in einem Boot wie diesem … das hat sie damals gern gemacht und das Boot wohl auch behalten, später um- und aufgerüstet, das weiß ich von Filipa, die ist mit ihr durch die Tiefsee getuckert. Ich sollte sie mal fragen, ob sie sich da auch Musik eingebildet hat – Orgeltöne oder Synthesizer, ganz frühe, experimentelle elektronische Musik vielleicht.«

Taisa hört keine Musik und findet den Vergleich mit der Mikroskopie des menschlichen Innenlebens nicht überzeugend.

Sie selbst denkt beim Anblick der wunderlichen Schönheiten in diesem Meer allerdings auch an Ästhetisches, hat sie doch nach Cordula Späths kurioser Ermahnung damals, als die Urheberin mehrerer technisch extrem aufwendiger

So denkt sie jetzt an die Farben abstrakter Expressionisten, an Blumen von Georgia O’Keeffe, Spinnen und Wirrwesen von Louise Bourgeois, an die feinhaarigen oder dichtschuppigen, glatten oder gepanzerten Geschöpfe in der Naturprotokollgraphik von Ernst Haeckel, Cominigio Merculiano oder Vincenzo Serino. Nichts davon teilt sie Alexandra mit, die jetzt aus ihrem Sitz steigt, die Tasche aus dem Haus vom Tragenetz nimmt und dann Taisa bittet, ihren Oberkörper etwas nach hinten sinken zu lassen, erst gestisch, dann mit Worten: »Entschuldige, kannst du mal eben ein bisschen zurück? Ich muss da vorbei …«

Taisa nickt und tut, wozu sie aufgefordert ist. Alexandra steigt im engen Raum an ihr vorbei, öffnet dabei den Reißverschluss der Sporttasche und stellt diese dann neben den hexagonalen Ladekasten für den Steuerbordgreifarm des Bootes ab. Sie geht daneben in die Knie, tippt auf die Klappenentriegelung der Ladekästen und nimmt dann erst ein Handtuch, danach drei eiförmige schwarzglänzende Gegenstände, jeder etwa so groß wie eine Menschenfaust, aus der Tasche, wo sie auf weitere Handtücher gebettet und vom ersten zugedeckt waren. So einsilbig Taisa sonst ist, fragt sie doch, als Alexandra Burkhard beginnt, die Eier in die Ladekästen zu legen und diese dann einen nach dem andern zu versiegeln: »Was ist das? Ich habe das noch nie gesehen.«

Alexandra antwortet leise: »Das will ich hoffen. Wenn irgendjemand außer Aiguo, der mir geholfen hat, die Dinger zu bauen, sie schon mal gesehen hat, bin ich in Schwierigkeiten.«

»Was anderes«, sagt Taisa, um damit auszudrücken, dass sie es gerne genauer hätte.

Alexandra nickt, schaut zum letzten der drei schwarzen Eier im dritten Ladekasten, bevor sie auch dessen Klappe schließt, und spricht aus, was das für Gegenstände sind: »Bomben, Taisa. Aiguo und ich haben Bomben gebaut. Ich werde sie in den Inselstamm stecken, und den Rest … den Rest erledigt die Zeit, bis morgen, nachts.«