Taisa steht auf dem Dach von Alexandra Burkhards Villa. Sie ist glücklich.
Sie wollte, als sie sich wie üblich eine halbe Stunde vor ihrer Gastgeberin mit einer verschlafenen Geste aus den Traumranken befreite, aufstand, frühstückte und dann die runde Treppe zu ihrem Lieblingsaussichtspunkt auf Wiesental emporstieg, nicht mehr als den viele Kilometer entfernten Nebelring im Wannenrand, der nach kühleren Nächten manchmal ein in allen Himmelsrichtungen perfekter Torus ist, dabei beobachten, wie er im frühen rosa Licht zunächst die Farbe frisch gepflückter Baumwolle bekommt, dann oben wie von Kirschblütenpuder errötet, unten aber marineblau und in Lapislazulischatten schimmert, bevor er zerfällt, was gleichzeitig der Moment ist, in dem hoch über ihm, wo der Wannenrand der Insel den Himmel berührt, die ersten orangen-, bernsteinfarbenen und rötlichen Punkte mit langen Fäden daran in die Höhe schweben. Das sind die Kraken.
Die sieht Taisa jetzt, mit Augen, die schärfer sehen als die meisten Menschen selbst mit Fernglasunterstützung, und in gehobener Stimmung, wie selbst eben aus dem Meer aufgetaucht, aus dem Schlaf der vielen verwirrenden Träume, die Taisa meist erst loswird, wenn sie ihren Kopf gereinigt hat, bei einem Spaziergang etwa oder irgendeiner körperlichen Tätigkeit – Holz hacken, schwimmen – oder einem Blick auf etwas Großes, Freies, ihrem eigenen Schicksal, ihren Nöten gegenüber Gleichgültiges, wie die großen Himmel, blass hellblau, mit Wolken, die Milchflocken oder abblätternder Birkenrinde gleichen.
Taisa weiß, dass die weiche Luft, die ihre Wangen und ihre Stirn kühlt, wie der schöne Ausblick von Menschen ermöglicht wurde. Sie weiß alles über die Ursachen und Folgen der Naturerscheinungen, in denen sie für ein paar Augenblicke den kommenden Kampf vergessen kann, die alten Wunden.
Ihr gefallen die blaugrasbewachsenen Steigungen, die welligen Wände der Insel, bei denen sie immer an Staudamm-wälle denken muss, auch wenn sie nie einen Staudamm gesehen hat, anders als alle andern Zweibeiner auf Wiesental – es sind keine im All geborenen Leute hier außer ihr. Sie ist die Einzige, die niemals auf der Erde herumgelaufen ist.
Ihr erster Planet heißt Neptun.
So blickt Taisa jetzt auf kleine Gruppen von winterharten Palmen, die bei jedem Wetter überleben können, das die drei Sterne der Insel zumuten, hübsche Hanfpalmen, von denen vier zusammen beim Steinweg stehen, der von Alexandras Villa in die eigentliche Omphalos-Talsenke hin zum Brunnen führt, große Gewächse mit sehr dunklen, lax faserigen Blattbasen und offen-lockeren Kronen aus Blättern, fünfzig bis sechzig sattgrünen jeweils, die immer aussehen, als hätte sie der Regen gerade gewaschen, der aber, als Dauerguss, ganz woanders steht, überm Wannenrand, weit draußen, wo die hohen Wellen sind, ja, »steht« ist das richtige Wort, dieser Regen fällt nicht.
Taisa bewegt den Kopf nach oben und sieht in weiter Ferne diesen zwischen seidigem Grünspan und Skarabäusglitzern changierenden Regen, der aussieht, als wäre er mehr Schaum als Tropfenmenge, Schaum, der in einem Schwerefeld an einer Glasscheibe herunterrutscht. Taisa sucht Worte und findet keine.
Sie nimmt sich vor, es bleibenzulassen, diese Wortfindungsbemühungen, sie wird das einfach mal Winseck fragen, der gut darin ist, sich dergleichen auszudenken. Bis sie ihn fragen kann, will Taisa still genießen, dass der erste Planet, den sie betreten hat, so schön ist: das Leuchten dort im Kriechregen, die Strontium- und Galliumblitze an der Grenze des Korridors, in dem das Licht der drei Sternsteine auf die Insel fällt, und alles, was in ihrer Zone lebt und denkt, der grüne Schimmerschleier dahinter, teils hell wie Kupfercarbonat, teils dunkler, Kupferchlorid, Kräusel von Salzlichtern.
Sie nimmt an, dass diese stille Freude am Größeren und Dauernden, am immer Wiederkehrenden und vom Kampf der intelligenten Geschöpfe mit ihrem politischen Dauernotstand ganz Unbeeindruckbaren etwas mit dem Bedürfnis der Erdleute nach Religion zu tun hat. So jedenfalls legt sie das aus, was ihr Turan, den sie vermisst, über den Islam erzählt hat. Dieser Ingenieur auf der FIRAT gehörte zu einer kleinen Gruppe von Muslimen, die auf deutscher Seite an der FRIES- und SMITH-Mission teilnahmen. Auf der FRIES waren es zum Zeitpunkt, da die SMITH zerstört wurde, nur sieben Leute, von denen einige dann Kinder bekamen, andere starben, so dass sich bei Ankunft der FIRAT im System elf Muslime an Bord befanden, eine Minderheit, die es jetzt nicht mehr gibt.
Taisa vermisst Turan und einige andere mehr als den Rechner, in dem sie einander alle so genau kennenlernen durften, als hätten sie Jahrhunderte im Gespräch verbracht, sie vermisst seine Witze und die Offenheit, mit der er sie und andere Kinder der Dysoniki von Anfang an, lange vor dem Rechner, schon auf dem Flug nach Ceres nach dem Andocken des Dysoniki-Schiffs an die alte PODKAYNE FRIES, behandeln konnte; vielleicht weil er, als Angehöriger einer religiösen und ethnischen Minderheit, besser wusste, wie unproduktiv und schädlich Ausgrenzung und Misstrauen sind, wenn man mit anderen, die man nicht gleich auf den ersten Blick, den ersten gesprochenen Satz, die erste beobachtbare Handlung hin versteht, zusammenleben und an einer gemeinsamen Aufgabe arbeiten muss.
Der Ort hier, der Ausblick auf dem Dach erinnert sie an ihn und daran, dass sie sehr bedauert, ihn nicht herbringen zu können, damit sie sich’s zusammen anschauen können. Orte können demnach, wundert sie sich und nimmt sich vor, das nicht zu vergessen, Erinnerungen an Leute wecken, die diese Orte nie betreten haben und nie betreten werden. Richtig, das ging ja auch Christian Winseck so, als er diese Villa hier das erste Mal sah: »Mein Vater. So hat mein Vater gewohnt.« Das klang, als wollte er sagen: die ganze lange Reise, und am Ende der Ausgangspunkt.
Alexandra Burkhard, die ihn im blauweißen Zweisitzer hergebracht hatte, entzauberte den merkwürdigen Moment sofort, mit einem kurios konspirativen Blick Richtung Taisa: »Ich hab da gewohnt, damals, mit deinem Vater, und fand’s so geräumig und schön, dass ich’s mir hier einfach nachgebaut habe, ohne besondere nostalgische Hintergedanken. Ich mochte die Loggien, die Bestandstreppe, das Schwimmbad innen, das vom Wetter unabhängig macht, Nebenräume oben für viele Gäste, Panoramafenster, dass man den Brunnen sieht, den Omphalos. Und die technische Seite war damals sehr fortschrittlich, das Wärmedämmverbundsystem, umgesetzt entlang den Radien und Schrägen der Bauelemente, ökologisch. Die Eltern von Jochen waren schon in den Siebzigern große Ökos, später auch politisch, allerdings nicht bei den Grünen. Der Vater hat sich in dieser ÖDP engagiert, rechtsgrün, christlich. Keine Asketen, wie der Bau zeigt – neunhundertsiebenundneunzig Quadratmeter Wohnfläche, neunhundertvierzig Quadratmeter Nutzfläche, zum Grundstück im engeren Sinn, wenn man die kleinen Labors mitzählt, gehören sechstausendneunhundert Quadratmeter, das ist alles ziemlich großzügig.«
»Wie lange hat es … gedauert … bis das gebaut war?«, fragte Christian, noch wie in Trance. Alexandra erwiderte mit einer Geste der Rechten, die so viel sagen sollte wie: Bleib nicht hier auf der Schwelle stehen, komm ruhig rein: »Drei Jahre, glaube ich. Genau weiß ich es nicht mehr, es verschwimmt in der Erinnerung, das erste beschleunigte Wachstum der Insel, die Zeitrafferzeit der Korallen, die wissenschaftliche Arbeit, das war uns alles eins.«
Dieses Abwiegeln, manchmal leicht ironisch, ist seitdem in allen Gesprächen zwischen Christian Winseck und Alexandra die Grundtonart der Gastgeberin. Taisa kann sich mühelos erklären, woran das liegt: Alexandra hat schnell gemerkt, was auch Taisa nicht verborgen geblieben ist, nämlich dass Christian Winseck, den sie von seiner Mondstation geholt und damit vor dem Tod gerettet hat, seinen Schock darüber seither auf eine Weise verarbeitet, deren Natur ihm wohl selbst nicht gleich klar war, inzwischen aber von niemandem mehr übersehen werden kann, der diese beiden Menschen zusammen erlebt: in Schwärmerei, Verliebtheit, also indem er von Alexandra mit jeder Frage, jedem Witz mal indirekt, mal schon ziemlich direkt mehr Zuwendung und persönliches Interesse erbittet, als sie ihm gewähren mag oder darf, aus Gründen, über die Taisa sich nicht restlos sicher ist, unter denen aber ein ganz besonderer zu den Vermutungen gehört, deren Bestätigung sie sich früher oder später von Alexandra wünscht.
Oben, im Erröten, löst der Nebelring vor der Steilwand an der Küste sich jetzt allmählich auf. Taisa hört Schritte hinter und unter sich, auf der breiten Treppe. Als ob damit ein sehr schneller Countdown begonnen hätte, der ihre kurze Zeit des Friedens, der Einigkeit mit sich selbst beenden wird, sammelt Taisa noch einmal die Eindrücke: den Kitzel auf der Haut, die Frische, das schöne Licht.
Dann steht Alexandra neben ihr und sagt freundlich: »Guckst du den Ballons zu?«
»Mir gefällt die Aussicht. Die Hänge, das Gras, das Tal, die Bäume und Büsche und Häuser. Wenn ich mich umdrehe, was ich gerade vorhatte, sehe ich den Brunnen, und der gefällt mir auch. Der stille See.« Als Taisa das sagt, bewegen sich bei ihr weder Stimmbänder noch Zunge oder Zähne. Denn das alles hat sie nicht. Stattdessen kommt der leicht blecherne, etwas verzerrte Schall ihrer Rede aus einem silbernen Kasten, der etwa einen halben Zentimeter weit aus der Stelle ihres Gesichtes herausragt, an der bei einem Menschen der Mund wäre und den die Technikerin unter Masvidal, die sie hergestellt hat, einfach »speech box« nennt, während Semjon Diduk nicht besonders sensibel, aber auch nicht ganz unzutreffend von »Taisas Mundharmonika« redet, auch wenn das, was rauskommt, wie Taisa selbst sagt, »nicht immer besonders harmonisch« ist.
»Freut mich«, sagt Alexandra Burkhard, »dass dir das immer noch so gut gefällt. Ich hatte es zwischenzeitlich ziemlich satt, aber irgendwann entdeckt man die Gegend, auch wenn man sie mitgestaltet hat, immer wieder neu – vielleicht geht es zu Hause auf der Erde ja dem lieben Gott auch so, nach ganz anderen Zeiträumen.«
Sie spricht von Gott, den Turan ihr einmal erklärt hat, auch wenn Alexandra ihn nicht Allah nennt wie Turan. Es ist, denkt Taisa, als könnte die Gastgeberin, dem strengen Verbot des Herrschers im weißen Sternstein zum Trotz, wonach man auf Wiesental nur mittels fürs menschliche Ohr hörbaren Schallwellen und fürs menschliche Auge sichtbaren Lichtwellen kommunizieren soll, irgendwie doch wissen, was in Taisa vorgeht und dass sie heute an Turan gedacht hat. Das sagt Taisa lieber nicht, und Alexandra fährt mit einer anderen Frage fort: »Wenn du zu den Kraken guckst, da drüben und hier und dort vorn«, sie zeigt mit dem Zeigefinger am ausgestreckten Arm in alle Richtungen, die sie meint, »erkennst du dann die Tentakel? Sind deine Augen so scharf?«
»Es sieht aus wie Wollknäuel, an denen unten lange Fussel hängen«, bestätigt Taisa, und Alexandra lacht leise, bevor sie sagt: »Ich bin froh, dass die Dinger hergebracht wurden. Sie machen sich sehr gut, im Ozean und in der Luft – als hätten sie sich lange drauf vorbereitet. Ich meine, es gibt ja nicht viele fossile Zeugnisse, weil’s Weichtiere sind, die sich schlecht halten. Aber die ersten Spuren der Familie Oktopus auf der Erde reichen zweihundertneunzig Millionen Jahre zurück – jedenfalls ist das der Stand, den ihr mitgebracht habt, mit den Datenbanken der FIRAT, von den Amis nicht verändert. Allerdings gibt’s in der Fachwelt Streit drüber, ob diese Spuren richtig gedeutet wurden. Und dann kommt eine Riesenlücke, und das nächste Tier ist dann eindeutig eins aus dieser Familie, acht Arme, entsprechende Haltung, vor hundertvierundsechzig Millionen Jahren im Abdruck konserviert. Dreihundert Arten gibt’s inzwischen, falls es sie noch alle gibt. Hier nur eine.«
»Die du gezüchtet hast, mit dem Chinesen, der oben wohnt«, sagt Taisa. Es klingt neutral, aber das liegt am Synthesizer. Es ist als Lob gemeint. Bescheiden erwidert die Gastgeberin: »Ich hatte meine Finger drin, ja.«
»Zehn Finger, acht Tentakel. Schwierig«, sagt Taisa, einer von ihren lakonischen Witzen, hinter denen mehr steckt, als dem konfliktfreien Umgang mit den verschiedenen Menschengruppen zuträglich wäre, wüssten alle davon. Taisa hat, noch auf der FIRAT, kaum verstanden, wie betreten Filipa zuerst reagierte, als Taisa ihr verriet, dass sie, angeregt durch die Ähnlichkeit der physischen Erscheinung zwischen ihr und Andrej Sirilko, sich ein paar Arbeitsstunden in den Biolabors verschafft und dort geklärt hatte, dass der inzwischen leider tote Physiker und sie tatsächlich verwandt waren, sogar recht nah: »Ist doch schön! Ich glaube«, erklärte sie, damals noch ohne Mundharmonika, der Deutschen per TS, »dass das eine Art Belohnung sein sollte für diejenigen, die im Verborgenen und meistens ohne nennenswerten Dank über Jahre und Jahrzehnte dafür gesorgt haben, dass die JEFREMOW vorbereitet wird und dass sie starten kann – man wollte diese Leute, darunter Andrejs Mutter, von der auch ich stamme, ehren, soweit sie nicht mitkommen konnten, indem man wenigstens ihr genetisches Material auf die Reise zu den Sternen geschickt hat.«
»Das verstehe ich ja«, antwortete Filipa, nicht auf dem schnellen Weg, sondern mit ihrer Stimme, die dabei erregt klang, »und Meinhard hat mir auch erzählt, Cordula hätte ihm mal die Augen eines robotischen Dysoniki-Kämpfers gezeigt, das … wären die Augen von einem Russen gewesen, also nicht seine, sondern aus seinem Genzeugs geklonte, und von daher überrascht mich das jetzt auch nicht so. Aber ich denke, trotzdem«, bei dem Wort hob sie die Stimme und sah aus wie jemand, der einem Kind etwas sehr Ungehöriges und für bestimmte Erwachsene skandalös Verletzendes getan oder gesagt hat, »solltest du damit jetzt nicht einfach zu Andrej rennen und, na, ihm um den Hals fallen, Bruder und so.«
»Ich hatte das nicht vor«, beendete Taisa damals das Thema und unterrichtete den sowjetischen Wissenschaftler dann tatsächlich nie über ihre Abstammung.
Was von dem kurzen Wortwechsel bei ihr zurückblieb, war ein Eindruck, den sie seither durch historische Studien in den Datenbanken erst der FRIES, dann der FIRAT, aber auch durch Gespräche und Beobachtungen im Kreis lebendiger irdischer Menschen zu ihrem wachsenden Kummer immer wieder bestätigt fand und der auch jetzt durch die Bescheidenheit, ja Scheu Alexandras bekräftigt wurde, sich zu ihrer Rolle bei der Züchtung der Kraken im Meer um Wiesental zu bekennen: Sie gehen den halben Weg, erschrecken, fallen zurück, verheddern sich in der Erbschaft unklarer Zeiten, unwissender Vorfahren – sie hat das einmal Cordula Späth anvertraut, am Rand einer Besprechung auf Aiguo Suns Brücke, und verblüffenderweise hatte diese Frau ihr per Textübertagung geantwortet, während sie gleichzeitig aus einem mündlichen Gespräch mit Aiguo und einem Techniker aus dessen chinesischem Stab keine Sekunde ausstieg: »Unsere Traditionen sind so, es klebt überall noch der Schleim und Dreck älterer Metaphysik dran, weil wir ja mit unseren Argumenten andere Menschen gewinnen wollen und müssen, mit ihnen deshalb in ihrer Sprache reden und diese Sprache und dieses Reden und das davon konfigurierte Denken uns dann eben im Alten und Blöden festhält – das ist der Nachteil an dem, was die Menschen unter ›Denken‹ verstehen, dass es eben im Sozialen entsteht, das selbst der innere Monolog an Gesprächen gebildet wird, Denken ist uns Sprache, Sprache ist sozial, und Wesen, die so zu sich kommen, haben unglaubliche Schwierigkeiten, Ideologien zu überwinden, die sie mit der Sprache aufgesogen haben. Selbst Marx und Engels mit ihrer konfusen Erwiderung auf das Schwein Malthus sind so, sie sehen gar nicht, was bei diesen Halbwahrheiten von dem Kerl die wahre Hälfte ist, oder Lenin, wenn er sich plötzlich positiv auf den Ideologiebegriff bezieht, das hat er aus dem neunzehnten Jahrhundert, das hinkt bei ihm nach, bei dem Mann, der selbst hervorragende Sachen zum Nachhinken des Überbaus hinter der Basis gedacht und geschrieben hat, oder der depperte Lamarckismus eines so aufgeklärten Menschen wie Sigmund Freud oder dass Stalin sich nur allzu bereitwillig von dem Scharlatan Lyssenko hat einwickeln lassen, weil eben Menschen es einfach plausibel finden, dass erworbene Eigenschaften vererbt werden, da es bei ihrer Software ja wirklich so ist. Furchtbar, und dann passieren ebendiese halben Fortschritte. Leute tun was, aber sie haben ein schlechtes Gewissen dabei, und wenn es dann aus tausend möglichen Gründen schiefgeht, dann schreit alles in ihnen, hättest du das doch bloß nicht gemacht, das ist jetzt die Strafe, du hast dich zu viel getraut, die Natur und Gott erlauben das eben nicht – das haben sie in ihren Familien gelernt und in ihren ersten Sozialverbänden, dass Niederlagen als Strafen aufgefasst werden müssen für Ungehorsam statt als Hinweise darauf, dass man die Lage falsch eingeschätzt hat, dass man einen neuen Wert in den Bayes einsetzen muss und so weiter. Es ist, als würden sie über eine Straße gehen – du hast das Bild vor Augen, ja? Zwei Richtungen, Autos, gut – also, sie schauen ganz richtig erst mal nach links, da kommen die Autos her, dann rennen sie rüber, wenn keins kommt, und dann stehen sie auf dem Mittelstreifen und sehen vor sich, huch, jetzt kommen die Autos von rechts, was ist denn jetzt los, dann war ja alles falsch, was ich bis jetzt gemacht habe, da hätte ich doch besser gar nichts gemacht, da hätte ich – und das ist jetzt der erste richtig falsche Gedanke: Da hätte ich am besten gar nicht erst anfangen sollen, diese Straße zu überqueren, und dann kommt der zweite richtig falsche Gedanke, der schlimmere, der ganz fatale: schnell zurück, und sie drehen sich um und gucken wieder nach links, weil sie das beim ersten Mal getan haben, weil sie verwirrt sind, warum auch immer, und rennen los und werden dann genau auf der Straßenseite doch noch überfahren, die sie anfangs sogar völlig korrekt und heil überquert haben. Tragisch und lächerlich, aber die ganze Fortschrittsaufgabe besteht wirklich nur darin, ihnen diesen Blödsinn abzugewöhnen.«
Taisa dachte einen Augenblick über diese Mitteilung nach, dann textete sie zurück: »Das sind sehr allgemeine Ausführungen, bei denen mir nicht klar ist, wie sie genau zu meinem Problem passen. Es besteht ja darin, dass ich das Gefühl habe, es herrscht eine Scheu bei euch, in die eigene Biologie einzugreifen, die weit über die Fortschrittsträgheit und Neigung zum Schuldgefühl hinausreicht, die du mir beschrieben hast. Als ich mit anderen, besonders Deutschen, hier auf dem Schiff geredet habe, ist mir immer wieder ein Erschrecken begegnet, wenn es um das Thema ging, und ein Strauß von Assoziationen derart, dass man alles, was mit Menschenzüchtung zu tun hat, mit genetischen und sonstigen Manipulationen, für tendenziell bösartig hält, vom Nationalsozialismus war die Rede, Eugenik, Lebensborn, Nietzsche als Quelle solcher Ideen. Der Bezug ist ganz formal, auch kontingent, scheint mir, etwa so, wie man sagen könnte, Pillen nehmen wir nicht, denn mit Pillen sind Leute vergiftet worden, das heißt, es ist deinen Deutschen hier auf der PODKAYNE FRIES überhaupt nicht klarzumachen, dass das instrumentelle Denken nicht plötzlich dämonisch wird, wenn es von der sonstigen physikalischen und physikochemischen Welt ins Organische und schließlich Lebendige erweitert wird. Ich habe mit Heike Breuer drüber geredet, und sie hat mich auftrumpfend herausgefordert, eine einzige progressive Stimme zu nennen, eine einzige, wie sie sagte, nicht faschistische Person in den letzten hundert Jahren, die sich für Bio- und Reproduktionstechnik ausgesprochen habe oder für eine Politik, in der menschliche Populationen insgesamt Gegenstand von Planung wurden. Das war nicht schwer, von Margaret Sanger angefangen über die einschlägigen Chinesen bis zu Octavia Butler. Aber es hat sie alles nicht beeindruckt, im Gegenteil, sie wurde sehr ärgerlich mit mir und hat schließlich das Gespräch ganz abgebrochen, unter Vorwänden, die ganz kleinlich und arbiträr waren, tief unter ihrem Niveau. Ich bin bestürzt, und deine philosophische Erklärung hilft nichts dazu, diese Bestürzung in Verständnis umzuwandeln.«
Die Antwort kam erneut verblüffend schnell, kaum anderthalb Minuten nach Taisas Sendung, was der Dysoniki-Frau verriet, dass Cordula Späth mit diesem Kommunikationsmedium anders umging als alle Irdischen, denen man mühsam beibrachte, an Buchstaben und andere Zeichen auf einem imaginären Keyboard zu denken und damit Texte zu komponieren, wie man sie per Fingertippen in traditionelle Textgeneratormedien eingab – für Cordula war das Texten offenbar wirklich so etwas wie Sprechen, sie musste Abkürzungen kennen, die der Unmittelbarkeit entsprachen, mit der jemand wie Taisa das Medium nutzte: »Erstens, meine Liebe, lass Octavia Butler aus dem Spiel. Bloß, daraus, dass sie in der Xenogenesis-Sache die Züchter sozusagen ins Recht setzt, folgt nicht, dass die Verfasserin sich als Fürsprecherin der Züchtung von Intelligenzwesen verstanden wissen wollte – so primitiv funktioniert Kunst nicht, das sind keine Leitartikel und keine Flugblätter, und dass man auf den Asteroiden die ästhetische Erziehung von Kindern wie dir derart vernachlässigt hat, dass du jetzt offensichtlich nicht weißt, was ein Roman ist und wie man das lesen muss, wird sich an Baklanows Staat, überhaupt an der ganzen Asteroidenzivilisation noch mal bitter rächen. Aber zu deinem Problem mit den Deutschen: Erstens, das sind Westdeutsche. Nicht Deutsche überhaupt. Du würdest wahrscheinlich bei Alexandra Burkhard auf ganz ähnliche Haltungen und Verklemmtheiten treffen, wenn du ihr begegnen würdest, wer weiß, vielleicht passiert das ja mal. Ich nenne ihren Namen, weil du es bei ihr immerhin wirklich mit einer soliden Linken, vielleicht sogar tatsächlich einer Kommunistin zu tun hättest, aber das dürfte an der sensiblen Stelle, von der wir reden, keinen Unterschied machen. Es hängt mit der spezifischen öffentlichen Bildungs- und Nachrichtensphäre der alten Bundesrepublik zusammen. Es galt da als links, die sogenannte instrumentelle Vernunft abzulehnen, Technik, Ingenieurswissen, Alloplastik, die Umgestaltung der Natur nach menschlichen Vorgaben, und man erzählte dazu allerlei Zeug vom Weg der Vernunft in der Geschichte, der in Auschwitz und Stalins Straflagern endete – es war im Wesentlichen eine Variante der Totalitarismuslehre, Faschismus ist gleich Sozialismus. Diese Theorie war eine memetische Nische für Linke, die staatsloyal sein wollten. Sie durften den Nationalsozialismus nachträglich beschimpfen, wenn sie dafür die Sowjetunion mitbeschimpften, aber das Ganze ist nur einerseits absurd in dem Sinne, dass nun ja gerade die rechteste deutsche Tradition nicht gerade viel für Technik und Ingenieure und exakte Wissenschaften übrighatte, jedenfalls nicht für deren politische Umsetzung, vom Kampf der frühen Reaktion auf die Französische Revolution in Deutschland gegen das Impfen und dem Herrn Hamann, der schon gegen ›Kopier- und Rechenmaschinen‹ schimpfte, über Heideggers ›Gestell‹ und andere Zerrbilder der Technik bis zu den Nachkriegstagebüchern von Carl Schmitt, wo der alte Faschist seinen erbittertsten Hass ausdrückt gegen Ideen einer naturwissenschaftlich orientierten Verwaltung, also Pascual Jordan und Einstein kommen bei ihm fast noch schlechter weg als die Bolschewiken. Und diese ganze Überlieferungslinie wird also einerseits, und perverserweise unter dem Signet des Antifaschismus und der Gegnerschaft gegen den deutschen Dreck, von Horkheimer und Adorno, den ersten und für alles weitere prägenden Lehrern der westdeutschen Linken, gerade weitergeschrieben mit ihrem Madigmachen des Exakten als Positivismus und instrumentelle Vernunft und so, was dann eben die 68er, die von allen späteren westdeutschen Linken an diesem Punkt ungebrochen fortgesetzt wurden, dazu erzogen hat, in dieser Sache ihren blödesten Affekten nachzugeben und sich in dieses Spiel ›halb über die Straße gehen‹ einzureihen, von dem ich dir schon getextet habe, bis zur Ökobewegung der achtziger Jahre, aus deren politischem Arm, den Grünen, ja dann die Leute hervorgingen, die den Rollback organisierten, die Zerstörung aller zivilisatorischen Fesseln, die sich das deutsche Kriegführen und Armeleuteverprügeln nach dem Zweiten Weltkrieg hatte gefallen lassen müssen – diese Grünen, die als Erste wieder deutsche Soldaten in die Welt schickten, auch noch ausgerechnet gegen Serbien, und die Hartz-IV-Gesetze möglich machten, die Zerstörung des leidlich menschenwürdigen Sozialkassensystems der westlichen Nachkriegszeit. Das ist aber nur die eine Seite, die irrationale, diejenige, auf der etwas Altes, Dummes, Deutsches von der neuen, angeblich intelligenten westdeutschen Linken einfach fortgeschrieben wurde. Da darf man aber nicht so undialektisch denken, wie Horkheimer und Adorno selbst und alle anderen Antipositivisten und Antiinstrumentalisten immer denken – es ist irrational, ja, aber gesellschaftlich wirksam wird so eine Irrationalität immer nur, wenn ihr auch irgendwas Rationales anhaftet. Für den Staat und das Kapital ist es klar, dass das gut ist, den Linken, den Aufständischen den Verzicht auf Kalkül, Empirie, abgesicherte Hypothesenbildung samt Gegenproben, kurz einfach den Verzicht auf Wissenschaft und Technik zu predigen, und das darf dann ruhig im linken Mäntelchen passieren, das ist ebenso willkommen wie entsprechende Predigten aus der christlichen oder buddhistischen oder sonst wie asketischen Ecke und so weiter. Aber das Vertrackte ist, auch für die Aufständischen hat’s was Wahres, gibt’s eine Resonanz mit ihrer Erfahrung, jedenfalls in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Denn sie wurden da ja täglich mit Planung auf Geheiß des Kapitals konfrontiert, und die sozusagen hemdsärmelige Idee der alten Arbeiterbewegung, die man bei Marx und Engels finden kann, wenn man die beiden grob genug missversteht, nämlich dass der Kapitalismus die Mittel der rationalen Unterwerfung der Natur schon schön entwickelt und das Proletariat sie sich dann nur noch aneignen, einfach dem Kapital entreißen und in den eigenen Dienst einspannen muss, die ist einfach Käse, weil Mittel nie gleichgültig sind gegen die Zwecke, für die sie eingesetzt werden, und Zwecke nie unabhängig von den Mitteln wirklich vorkommen – wenn auch: gedacht werden können, aber das ist dann eben falsches Denken –, die man zu ihrer Verwirklichung einsetzt. Beispiel, schon sehr nah am Biotischen, damit es zu deiner Frage passt: Stoffwechsel, Ernährung – weil ja Marx an seinen klügsten Stellen zum Thema genau die dumme alte bürgerliche, im Grunde aber ja biblische Formulierung von der ›Unterwerfung der Natur‹ fallenlässt und lieber, sehr viel vernünftiger, vom ›Stoffwechsel mit der Natur‹ schreibt. Auf diesem Ernährungssektor ist es ja wohl bei euch Dysoniki so geregelt, dass ihr Pläne habt, dass eure medizinische Selbsterziehung und Selbstkontrolle abgeglichen wird mit dem, was ernährungshalber einerseits notwendig, andererseits abwechslungsreich ist, in deinem Fall ja alles als Mischung aus Energieübertragungen chemisch-elektrischer Art und dann als flüssige Nahrung, die aber sogar Geschmackserfahrungen möglich macht, im Kopf halt, nicht im Mund, und so fort. Das könnte man jetzt als Zukunftsaussicht auch für die Erde projizieren, man könnte sagen, da soll es hin, dass es gesund ist, schmeckt und man nicht entmündigt wird, sondern sich sein Menü auch selber zusammenstellt, die ideale Zukunft, und die könnte man abbilden auf das, was im Monopolkapitalismus schon an Mitteln dafür da ist, nämlich einerseits die Agrarindustrie und andererseits die Konzerne, die dann Marktforschung treiben und biologische Forschung, die ermitteln, was wird gebraucht, und dann entspricht dem das, wie sie sagen, Produktdesign, und sozialistische Träumerei könnte jetzt träumen, wenn wir ihnen das wegnehmen, wenn wir das enteignen, dann haben wir die Instrumente beisammen, die man braucht, um es bei uns auch so einzurichten, wie es bei den Dysoniki schon eingerichtet ist. Aber das wär wirklich zu instrumentell gedacht, das würde den sozusagen rekursiven Niederschlag der falschen Zwecke in den monopolistischen Mitteln ignorieren – die sind gar nicht dazu da zu ermitteln, was schmeckt und gesund ist und effizient hergestellt werden kann und Abwechslung bringt. Kapitalistische Mittel der Bedarfsermittlung ermitteln niemals den Bedarf, sie ermitteln nicht mal das, was die Kapitalisten Nachfrage nennen, sie ermitteln etwas ganz anderes, die zahlungskräftige Nachfrage. Sie ermitteln nicht, was gebraucht wird und was gefällt, sondern was gekauft wird, und die Überschneidungen zwischen einerseits dem, was gebraucht wird, andererseits dem, was gefällt, und drittens dann noch dem, was gekauft wird, sind nicht so groß, wie die Werbung behauptet, nämlich lügt. Das Zeug wird salziger, süßer und fetter, als den Menschen guttut, weil die Scheißbiologie, und da kommen wir in den tiefsten Widerspruch, uns dumme Viecher so eingerichtet hat, dass wir Salz, Süßigkeit, Fett mögen, wovon es in der Natur ja viel weniger gibt, weswegen wir diesem Mist nachjagen wie Bekloppte. Dieser Gebrauch vernünftiger Mittel für verbrecherische Zwecke, der lässt sich dann eben tatsächlich auch unter Hitler finden, weil das ja eben auch ein kapitalistisches System war, dieser Nationalsozialismus, nämlich einfach den Privatbesitz an Produktionsmitteln für die entsprechend definierten Staatsbürger – also zum Beispiel nicht die Juden – intakt ließ. Wenn man so was macht, also die Bürgerrechte effektiv aufhebt, abschafft – denn sie für einen Teil der Leute abschaffen heißt ja sie ganz abschaffen, sie sind ja per definitionem unteilbar –, dann kann man trotzdem einen bürgerlichen Staat, einen mit ansonsten bürgerlichen Rechtsformen nämlich, zum Beispiel Teilen des bürgerlichen Besitzrechtes, irgendwie führen, man hat dann halt, wie Reinhard Kühnl so richtig gesehen hat, einen bürgerlichen Staat ohne bürgerliche Rechte, es gibt aber ja auch Vögel, die nicht fliegen können und die trotzdem Vögel sind. Was ich mit all dem sagen will: Du verstehst die Haltung der Westdeutschen zur Gentechnik und dergleichen nicht, wenn du nicht verstehst, wer diese Westdeutschen sind, auch wenn sie links stehen in irgendeiner Form, wer sie historisch sind, wer sie politisch sind. Wie gesagt, selbst bei Alexandra Burkhard würde dir das begegnen – so viel erst mal, wir setzen das mündlich fort.«
Dazu kam es nie, wegen all der Abenteuer.
»Wollen wir los?« Alexandra wirft Taisa nicht unsanft aus ihren Erinnerungen.
»Ja, gehen wir.« Die Treppe hinab durchs schneeweiße Haus schweigen die beiden Frauen. Stumm gehen sie an den Aquarien vorbei, in denen exotische Muränenkreuzungen und bunte Zierfische ihr Fressen-und-gefressen-Werden leben, als zahme Vorankündigung der bizarren Fauna, die Taisa und Alexandra gleich im Brunnen und unter der Insel wiedersehen werden.
Im Erdgeschoss liegt neben dem Treppenabsatz eine schmutzig blaue, schrabbelige Sporttasche, in der Alexandra gelegentlich kleinere Gerätschaften vom Haupthaus in den Garten oder eins der Labors und zurücktransportiert.
Auf Tauchgänge hat sie’s in Taisas Beisein noch nie mitgenommen, aber was es damit auf sich hat, fragt die Dysoniki-Frau nicht, als die Deutsche das Ding, das offenbar nicht ganz leicht ist, aufhebt und rechts schultert.
Es wird sich spätestens an Bord des U-Boots zeigen, was drin ist.
Auch auf dem ausgetretenen ochsenblutroten Erd- und Korallenstaubweg hin zum See sprechen die beiden kein Wort. Jede ist mit ihren eigenen Eindrücken und Gedanken beschäftigt: Taisa grüßt stumm die Palmen, streift mit der rechten Hand auf dem vertrauten Pfad die Buchenfarnspitzen, erspäht in Büschen Springkrautblüten, erkennt die Rücken von Hasen im hohen Gras der Wiese, sieht eine Haubenmeise ihr Gefieder putzen, auf einem hohen Ast am Rand des Fichtenwäldchens in der Senke, um das der Weg herumführt wie eine Schnürsenkelschlaufe, und bekommt bei all dieser anschaulichen Naturkunde immer bessere Laune.
Alexandra, die denselben froschgrünen Overall trägt wie ihre Begleiterin, weil die Soldateska des strengen Colonels an dieser Montur das wissenschaftliche und technische Personal, auf das sie nicht schießen und das sie nicht alle fünf Minuten kontrollieren soll, schon von weitem erkennt, sieht die Nager im Gras auch, die Zwitscherbällchen auf den Zweigen derselben Fichten, Schwarz- und Grauerlen, denselben Himmel mit seinem fernen schaumigen Regen, seinen bläulich-elektrischen Schleiern und bleichen Blitzen, spürt denselben mild kühlen Wind im Gesicht, am Hals, an den Händen. Aber ihre Freude daran ist wehmütiger, ein Abschied: Sie weiß, dass sie morgen diesen Weg nicht wieder gehen wird, den sie so gut kennt, der so ausgetreten ist heute und der so neu war, als Alexandra ihn sich selbst im damals ebenfalls noch ganz neuen, frisch aus dem Boden entsprossenen blauen Gras bahnte, Schritt für Schritt, und dass sie ihn vielleicht nie wiedersehen wird, wie die ganze Insel, wie das ganze fleißige, lehrreiche, beschauliche Leben hier.
Die Dinge mussten reifen, sagt sie sich. Jetzt sind sie reif.
Als Alexandra und Taisa den See erreichen, sind die drei Wartungsroboter am Pier mit dem Tauchboot in seiner Stahlgerüstaufhängung noch nicht fertig.
Einer nimmt gerade feinmechanische Korrekturen im Gelenk eines der sechs Backbordsteuerpaddel vor, der zweite setzt die Hauptbatterie im Bauch des Fahrzeugs wieder ein, und der dritte putzt die kuppelförmige Heckscheibe mit blasenwerfendem Seifenwasser.
»Lass mal«, winkt Alexandra den Scheibenputzer beiseite, der mit seinem elektronischen Gehör und Gesichtssinn die Anweisung wahrnimmt und sofort befolgt, während Taisa dem Batteriehelfer beim Verschließen der Doppelklappe hilft und Alexandra um das Boot herumgeht, damit sie dem letzten der drei Apparate dabei zusehen kann, wie er seine Aufgabe zu Ende bringt.
Fünf Minuten später rutscht das kleine Unterwasserfahrzeug die sanfte Abwärtskurve entlang, die zwischen Zentrum und Ufer des Sees eine Art Sicherheitsring um den eigentlichen Brunnen schließt. Alexandra Burkhard kontrolliert die Navigationsfelder der Konsole, während Taisa hinter ihr die Mess- und Fangvorrichtungen, die Sensoren und Aktuatoren überprüft. Der Bauch des Bootes schleift nicht allzu holprig am fast dellenfrei glatten Boden entlang, dann reißt das Geräusch ab, und die Frauen wissen, dass sie die obere Öffnung der viele Kilometer tiefen Röhre in der Inselmitte erreicht haben.
Augenblicklich beginnt der von Düsen und Wasserwiderstand kaum gebremste Sturz in die Tiefe. Die ersten sechs Minuten umgibt das mutwillig sinkende Schiff nichts als Schwärze. Dann kommt im senkrechten Tunnel ein dunkelbraunes Flattern auf, das von den Fächern rührt, die hier im Nichtgestein wachsen, und das in Wuseln übergeht, als in größerer Tiefe zitternde und tanzende Fäden wie Peitschen oder dünne Drähte aus dem Fächerwald ragen und von der Strömung bewegt werden, schon heller braun, hier und da fast rot im Licht der zwölf Scheinwerferkegel, die von den Lampen rings ums Bootchassis ausgehen.
Die Innenwandung der Röhre hellt sich immer weiter auf.
Langsam ist nicht mehr zu übersehen, dass selbstleuchtende Äderchen sie netzartig überziehen, gläsern schimmernde Stoffwechsel- und Datenbahnen, ein komplizierter Organismus von Tausenden von Kilometern Umfang, festgesaugt am Grundsubstrat von Wiesental, am Trichter, durch den Alexandra und Taisa sinken, das vierte Mal erst gemeinsam. Bei den allermeisten dieser Tauchgänge sitzt Alexandra alleine im Boot, selten mit einem von Masvidals Soldaten. Das hatte immer bloß den Zweck, ihr klarzumachen, dass der Kommandant ihr nicht traut. Weitere zehn Minuten lang sinkt das U-Boot, das Alexandra hat bauen lassen, bevor die Amerikaner herkamen, in die tiefe Stille, beschleunigt nun, von Düsen im Dach, deren Ausstoß das Sinken endgültig zum Fallen macht. Dann wird die Röhre etwas breiter, und die Dysoniki-Abgesandte weiß, dass sie jetzt bald den Ausgang erleben wird, das Hinausgespültwerden ins freie Meer, nun ja: in die Zone der Neptunsuppe, deren von den Sternsteinen manipulierte Druckverhältnisse für ebenfalls von den Sternsteinen veränderte Masse, die leben will, gerade noch erträglich sind.
Taisa beugt sich im Sitz nach vorn, nähert ihr Gesicht der Scheibe, schaut aufs Glühende und darunter aufs Rote.
»Kalk«, sagt Alexandra leise, das Gesicht über die Bildschirme gebeugt und damit von unten fahl erleuchtet, und Taisa fragt nach: »Kalk? Was meinst du?«
»Du hast rausgeguckt auf die Röhre, und du hast ausgesehen, als ob du denkst: Wände! So ein bisschen klaustrophobisch, nach der frischen Luft vorhin. Da sage ich: Ja, diese Wände sind Kalk. Nun ja, Metakalk. Transbaryonenkalk. Von kleinen Tierchen, den Korallen, sehr viel schneller produziert als auf der Erde. Als ich jung war, bin ich in den Kalkalpen auf der Erde rumgeklettert, mit Christians Vater, ein Sechshundert-Kilometer-Gebirgszug mitten in Europa, vor undenklich langer Zeit von solchen Biestern hinterlassen.«
Taisa schweigt dazu, was, wie Alexandra weiß, nicht bedeutet, dass es sie nicht interessiert. Im Gegenteil, die Erfahrung mit der Dysoniki-Frau hat Alexandra gelehrt, dass sie weiterreden soll, bis sie unterbrochen wird oder nichts mehr zu sagen hat, und so fährt sie fort: »Ich wollte dich noch mal mitnehmen. Auf diese Unterseite der Kunstwelt, die wir gebaut haben. Die Uhr ist nämlich abgelaufen, Taisa. Ich habe die Ergebnisse beisammen, und Song Jian hat die Oktopoden instruiert, und die von uns programmierten Roboter haben die anderen Roboter zur Sabotage programmiert – man könnte sagen, fast alle Dominosteine sind aufgestellt. Vorsicht, Moment, jetzt kommt der Lupfer, den du schon kennst …«
Taisa weiß nicht genau, was Alexandra mit der abgelaufenen Uhr meint, mit den Ergebnissen, mit der Sabotage, aber sie kann es sich ungefähr denken, kann es raten, weil sie in den Monaten, die sie auf Wiesental verbringen durfte, mit genau der Aufmerksamkeit und Intelligenz ihre Umgebung beobachtet hat, mit der Alexandra bei ihr rechnet. Was Alexandra mit dem »Lupfer« meint, ist Taisa dagegen völlig klar, auch wenn der Dialektausdruck nicht zu der Sorte Deutsch gehört, die sie im Asteroidengürtel gelernt hat – es ist der Ruck, der das Boot aus dem Zylinder entlässt und den Alexandra mit ein paar schnell getippten Stabilisierungsbefehlen beantwortet, während sie sagt: »Mir geht’s immer noch so, jedes Mal wenn ich hier in diesen … verrückten Garten springe, nach dem Sinken, dass ich meinen Orientierungssinn ganz neu … na, selbst die horizontale Bewegung jetzt, erst mal weg vom Riff, fühlt sich wie eine Abwärtsspirale an, nicht?«
Ein paar Meter rechts und oberhalb vom Boot, auch ziemlich nah links davon und etwas weiter weg dahinter, brennen die lebenden Lichter, die Alexandra meint, wenn sie vom »verrückten Garten« spricht: Eine Kolonie aus blauen Gasflämmchen mit roten Pünktchen drin, einer Trompete gleich, schwebt als halbstarre, wabbelnde Planktonjägerin ins Sichtfeld, durch die, mit der breiten Einströmöffnung ununterbrochen aufgenommen und die enge Spitze ausgeschieden, stetiger Durchfluss wie Luft durch eine Turbine getrieben wird. Es zieht sich zusammen, es dehnt sich aus, es lebt und kräuselt sein Licht, das wie eine Positionslampe für die herantrudelnde Seewespe wirkt, deren dreißig Zentimeter langer, gewittrig blitzender Würfelkörper ein halbes hundert Giftfäden hinter sich herzieht, deren kürzeste zwei Meter lang sind, gefährlich für Fische, Garnelen und andere Geschöpfe, die daher Abstand halten, so gut sie können, und selbst viel farbiger sind, als man in diesen lichtlosen Tiefen für möglich halten sollte, kussmundrot und kanariengelb, flechtengrün mit Sepiamaserung.
Mal plump, mal pfeilspitz wuseln die Tiere ungestört, picken an der Säule, der das U-Boot gerade entsprungen ist, oder umringen die Cantei, die mit ihrer einzigen Bewegungsschnur hauchdünne Leiber immer wieder Richtung Riff, Richtung Wärme zurücktreiben, wenn sie abdriften, Cousinen der irdischen Rippenquallen mit Taschen und Stachelknuppeln in Grellrot auf Orange, denen Taisa entrückt nachschaut, weil ihre bewusstlose Existenz so viel Grazie zeigt, im Leben und Schweben.
»Sieht aus wie diese Mikroskopaufnahmen von bizarren Mikroben und Bazillen und was nicht alles, wie in unserem Inneren, nur viel größer«, sagt Alexandra und steuert wie die Cantei auf die große Röhre, den Stängel der Insel zu dabei, »als ob das alles extrem abwegige Geräusche macht, die man nur nicht hören kann. Aber man stellt sie sich unwillkürlich vor, oder? Ich dachte das schon bei meinem ersten Ausflug in die Tiefe, die gar nicht so tief war wie hier, damals vor der afrikanischen Küste, wo wir trainiert haben, in Tauchanzügen, für die JEFREMOW, ich bin da mit Cordula Späth unterwegs gewesen, in einem Boot wie diesem … das hat sie damals gern gemacht und das Boot wohl auch behalten, später um- und aufgerüstet, das weiß ich von Filipa, die ist mit ihr durch die Tiefsee getuckert. Ich sollte sie mal fragen, ob sie sich da auch Musik eingebildet hat – Orgeltöne oder Synthesizer, ganz frühe, experimentelle elektronische Musik vielleicht.«
Taisa hört keine Musik und findet den Vergleich mit der Mikroskopie des menschlichen Innenlebens nicht überzeugend.
Sie selbst denkt beim Anblick der wunderlichen Schönheiten in diesem Meer allerdings auch an Ästhetisches, hat sie doch nach Cordula Späths kurioser Ermahnung damals, als die Urheberin mehrerer technisch extrem aufwendiger Weltraummissionen die Dysoniki dafür gescholten hatte, dass sie die schöngeistige Erziehung ihrer biologischen und biotechnischen Nachkommenschaft vernachlässigten, eine autodidaktische Reise durch die Ton-, Bild- und Textarchive an Bord der FRIES beziehungsweise FIRAT auf sich genommen, die ihr mehr als jede Filmaufnahme von den Naturwundern der Erde eine Art Heimweh nach dem Unbetretenen einflößte.
So denkt sie jetzt an die Farben abstrakter Expressionisten, an Blumen von Georgia O’Keeffe, Spinnen und Wirrwesen von Louise Bourgeois, an die feinhaarigen oder dichtschuppigen, glatten oder gepanzerten Geschöpfe in der Naturprotokollgraphik von Ernst Haeckel, Cominigio Merculiano oder Vincenzo Serino. Nichts davon teilt sie Alexandra mit, die jetzt aus ihrem Sitz steigt, die Tasche aus dem Haus vom Tragenetz nimmt und dann Taisa bittet, ihren Oberkörper etwas nach hinten sinken zu lassen, erst gestisch, dann mit Worten: »Entschuldige, kannst du mal eben ein bisschen zurück? Ich muss da vorbei …«
Taisa nickt und tut, wozu sie aufgefordert ist. Alexandra steigt im engen Raum an ihr vorbei, öffnet dabei den Reißverschluss der Sporttasche und stellt diese dann neben den hexagonalen Ladekasten für den Steuerbordgreifarm des Bootes ab. Sie geht daneben in die Knie, tippt auf die Klappenentriegelung der Ladekästen und nimmt dann erst ein Handtuch, danach drei eiförmige schwarzglänzende Gegenstände, jeder etwa so groß wie eine Menschenfaust, aus der Tasche, wo sie auf weitere Handtücher gebettet und vom ersten zugedeckt waren. So einsilbig Taisa sonst ist, fragt sie doch, als Alexandra Burkhard beginnt, die Eier in die Ladekästen zu legen und diese dann einen nach dem andern zu versiegeln: »Was ist das? Ich habe das noch nie gesehen.«
Alexandra antwortet leise: »Das will ich hoffen. Wenn irgendjemand außer Aiguo, der mir geholfen hat, die Dinger zu bauen, sie schon mal gesehen hat, bin ich in Schwierigkeiten.«
Dann schaut sie Taisa direkt an und sagt: »Ich hatte eine … utopische Idee, am Anfang. Ich wollte, dass der Neptun belebt sein soll. Die Meere zuerst, und dass es dann Festland geben sollte, auch voller Leben, und gleichzeitig … gleichzeitig ging es mir nicht darum, irgendeine trübe Idylle, irgendeine von Technik unverseuchte Natur herzustellen, was Regressives. Es sollte Energietechnik geben und Informationstechnik, aber … raffiniert, sanft, nicht mit diesen … groben elektronischen Rechnern und Robotern, die wir mitgebracht haben, und als mir dann … im weißen Sternstein … klarwurde, dass diese Technik, diese … diese Sachen, die unserem Menschenkram so unendlich überlegen waren und sind … dass das in gewisser Weise … lebt, dass es denkt und lebt, da … da dachte ich, gut, dann sollen die Computer hier lebendig sein, die Kraftwerke auch, alles, sogar der unterste … das Substrat des Ganzen, die Korallenarbeit … und dann haben wir das gemacht, mit Hilfe der Diamanten am Neptunhimmel. Denen kam das entgegen, die wollten ja … also, soweit ich, soweit wir je etwas über ihren Willen erfahren haben, soweit es da Kommunikation gab … sie wollten ohnehin das alles nicht, die Elektronik, die Wellen, Radiowellen, Laser, Funk, die schnelle Übertragung, sie zogen langsame Datenübertragungsraten vor, unsere ersten Interfaces mit ihnen liefen über … es war wie die Ranken, die Pflanzen hier, wir fanden uns nach der … Entrückung … aus dem Orbit … in dieser großen Haupthalle wieder, im weißen Sternstein. Da lösten sich diese Schlingschlangen aus den Wänden, aus dem Boden, aus den Deckenträgerbögen und näherten sich uns wie Fühler. Da habe ich beide Arme ausgestreckt, das wussten sie, ich bin bereit, und ich war die Erste, die sie, wie soll ich sagen, verkabelt haben. Es wurde eine schöne … sie haben mir, haben uns das alles gezeigt, die Neptunation, vom Planeten aus, die aufgespannte … das … und dann haben sie uns geholfen, die Insel zu … pflanzen, zu setzen, muss man wohl sagen, und bei der Aufzucht, und einige von uns haben sich da niedergelassen, in diesem Garten. Und da gelebt, lange und gut gelebt, viel gelernt … Aber dann kamen die Räuber. Die haben das gekapert, mit ihren Waffen und mit ihrer … es war eben wieder die grobe, die militärische, die klobige Technik, die bulk technology, und wir hatten keine Mittel, keine Waffen dagegen, außer eben meine biologischen. Da musste ich lernen, noch was anderes aus der Biologie zu holen als Rechner und Kraftwerke.«
»Was anderes«, sagt Taisa, um damit auszudrücken, dass sie es gerne genauer hätte.
Alexandra nickt, schaut zum letzten der drei schwarzen Eier im dritten Ladekasten, bevor sie auch dessen Klappe schließt, und spricht aus, was das für Gegenstände sind: »Bomben, Taisa. Aiguo und ich haben Bomben gebaut. Ich werde sie in den Inselstamm stecken, und den Rest … den Rest erledigt die Zeit, bis morgen, nachts.«