5 | Die Kunst des Krieges

Nesseln, denkt Aiguo, dann: Fesseln. Vom deutschen Reim abgesehen weiß er, dass das ungerecht ist. Er streift die Ranken heute Morgen mit einem unwilligen Grunzen ab, wie man sich einer schweren Zudringlichkeit erwehrt, und meint danach, eine Art Brennen um die Hüften und am Bauch zu fühlen, dort, wo die Pflanzenkabel sich auf seiner Haut gekreuzt haben. Der Blick im Spiegel auf die zugequollenen Augen – das rechte tränt, das Säckchen darunter ist noch einmal etwas dicker geworden – verrät ihm, dass er sehr schlecht geschlafen haben muss, auch wenn er sich an die Träume – ein Berg, blutende Hände beim Klettern, ein Sturz, was war das noch? – kaum mehr erinnert.

Er duscht wärmer als sonst, braucht länger für seine

Längst nicht mehr zur Selbstberuhigung, wie noch vor Monaten, als er das erste Mal das Rätsel gelöst zu haben meinte, in das ihn Alexandra Burkhard von der FIRAT gezogen hat, sondern inzwischen nur noch zur Reorientierung, zur Positionsbestimmung im komplizierten Pfeilregen der Vektoren, die als strategische und taktische Impulse sein eigenes Schicksal von überallher treffen und mal hierhin, mal dahin stoßen, sagt sich Aiguo, was er sich mit dem schönsten logischen Recht sagen darf, wenn seine Vermutungen über die gegebenen Kausalzusammenhänge stimmen: Ich werde nicht sterben, auch wenn heute der Tag ist, an dem alles kippt. Ich werde hier und jetzt nicht sterben, sondern lange leben.

Vielleicht länger, als ich will.

Durchs große Wohnzimmer geht er in seinen hellen Leinensachen, barfuß, auf die reduzierte Veranda. Eigentlich sind’s nur ein paar Betonplatten, die von der abgerissenen ersten Laboranlage auf genau halbem Weg zwischen seinem und Alexandra Burkhards Haus stammen. Er setzt sich auf einen Trümmerrand, um seinen Stein- und Moosgarten zu betrachten. Dabei sieht er Alexandra und Taisa gerade hinter der Villa verschwinden, von wo aus sie vermutlich talwärts gehen, Richtung Omphalos und Brunnen.

Aiguo streckt die Arme in den Himmel, schaut zu den Wolken hoch, ins Erröten des Himmels bei allmählicher Erwärmung des rosa Sternsteins. Ein paar Krakenpunkte macht er aus und blinzelt. Sind das weniger als sonst, gleich viele, mehr?

 

Er entriegelt sein Schloss, eine eigentlich unnötige Maßnahme, insofern man hier wie überall, wo Militär das Sagen hat, vor Einbrüchen leidlich sicher ist, wenn nicht gerade das Militär selbst einbricht.

Die Tür lässt sich dank Servomotor trotz Masse sehr leicht öffnen. Filipa steht vor Aiguo, mit nassen Haaren und aufgeregter Röte im Gesicht. Er sagt: »Was ist passiert?«, und denkt zugleich: Es ist so weit. Aber ich werde nicht sterben, ich kann nicht sterben, nicht hier und nicht jetzt. Sie holt Atem und sagt dann: »Alles. Angeblich. Mir sagt sie ja nichts. Jedenfalls nichts Konkretes.«

Aiguo bittet sie mit einer verbindlichen Geste ins Haus: »Liz Parker? Du hast sie allein gelassen?« Er führt sie an die kleine Trennmauer, etwas unter Brusthöhe, zwischen dem Wohnzimmer und dem Foyer, neben der Tür zur ausladenden Küche mit ihren drei Herden, zwei Kühlschränken und der großzügigen Holzplatte für die Zubereitung der auf ganz Wiesental geschätzten Mahlzeiten, die Aiguo, der sich hier zusätzlich zu seiner wissenschaftlichen Arbeit zum Koch gemausert hat, bei seinen Mittags- und Abendgesellschaften serviert.

Sie setzt sich auf einen Barhocker, er stellt mit einem

»Allein gelassen, am Arsch. Die grinst sich das Gesicht in zwei Teile, seit sie aufgewacht ist heute. Sie sagt, sie hätte irre viel zu denken und zu rechnen, auch wenn sie es morgen wieder vergessen hat – sie will mir nachher alles diktieren, ich soll es ihr dann morgen früh gleich zeigen, wenn sie wieder bei null anfängt. Nach der Party. Es soll nämlich eine Party geben, eine Dinnerparty, bei der sie wie üblich als Klotz in der Ecke steht. Hier bei dir oder bei Alexandra. Sie hat mir eine ewig lange Scheißliste vorgesagt, und ich durfte erst losrennen, als ich sie auswendig wiederholen konnte, dreimal hintereinander. Wer alles kommen soll. Heute Abend, und du sollst kochen. Angeblich wird uns Alexandra da auf irgendeinen neuesten Stand bringen, uns und offenbar auch ein paar von den Amis, denn es ist natürlich keine geschlossene Gesellschaft, weil ja schon zehn von unseren und Alexandras Leuten auf der Liste stehen, und wir wissen alle, dass der verpisste Colonel nicht zulässt, dass mehr als sechs Personen, die nicht zu seiner Truppe zählen, sich an irgendeinem Ort auf der Insel versammeln, ohne dass ein Anstandswauwau dabeisitzt. Klar, verhindert Missverständnisse, aber ich muss immer dran denken, was mir Alexandra mal erzählt hat, wie das bei den alten Römern war, die haben überall, wo sie ihre Römerlager aufgezogen haben, in allen unterworfenen Gebieten, von Nahost bis Germanien, die großen Feste der Einheimischen verboten – wusstest du, dass das einer der Gründe fürs Tabu ist, das in meiner Heimat auf dem Pferdefleisch liegt, also dass man kein Pferd isst? Das haben die Römer den Germanen nämlich verboten, die hatten vorher diese Gelage, wie in den Asterixgeschichten, aber da gab es nicht Wildschwein, sondern Pferd, und weil man so ein Pferd nur in ’ner größeren Gruppe vertilgen kann, waren das immer Riesenveranstaltungen, und dabei wurde dann natürlich auch,

Aiguo lächelt, weil er weiß, dass sie diesen vulgären Ton, am Arsch, verkackter Dreck, immer nur dann anschlägt, wenn Ereignisse stattgefunden haben oder bevorstehen, die anderen Leuten die Sprache verschlagen würden.

Das Schimpfen, hat er auf der gemeinsamen Reise gelernt, ist Filipas Art, keine Angst zuzulassen, weder bei sich noch bei anderen. Jede und jeder, weiß der alte Stratege, hat da ihre und seine eigene Methode, meine zum Beispiel ist, mich daran zu erinnern, dass ich hier und jetzt nicht sterben werde, noch lange nicht.

»Ja, also dann mal danke für die Brühe«, sagt Filipa, die höchstens drei Schluck vom Kaffee aus der taubengrauen Porzellanschale genommen hat.

»Ich werd dann gleich mal lostraben, am besten zuerst zu Alex und zu Taisa …«

»Die sind nicht da«, sagt der Stratege. Filipa, die schon vom Barhocker geklettert ist, schaut ihn misstrauisch an: »Nicht da, wieso? Alle sind doch immer da.«

»Ich habe sie gerade eben erst aus dem Haus gehen sehen, ich glaube, zum Omphalos, die werden tauchen, in den Brunnen.«

»Na toll.« Filipa verzieht das Gesicht, als hätte sie auf rostiges Metall gebissen. »Dann ist mein Plan ja gleich gefickt. Ich wollte rüber und die beiden, oder wenigstens eine davon, für die restlichen Botengänge … shit, jetzt kann ich gleich zur

Aiguo hebt abwehrend die Hand: »Entschuldige, Filipa, aber ich kann dich sowieso nicht einfach ziehenlassen, bevor du mir nicht noch mindestens zwei Fragen beantwortet hast, eine simple und eine etwas kompliziertere.«

»Pff«, macht Filipa, »ziehenlassen, bin ich ’n grüner Tee oder was? Frag halt.«

Sie lehnt sich wieder ans Mäuerchen, mit dem Ellenbogen auf der Platte, und schaut in die Kaffeeschale, als gäbe es da was Interessantes zu lesen. Aiguo lässt sich nicht provozieren: »Was hat sie gesagt, was ist der Zweck dieses Abendessens? Das ist die einfache Frage.«

»Keinen Schimmer.« Filipa verdreht genervt die Augen, dann spitzt sie spöttisch die Lippen und sagt: »Ich bin Liz, Pythia von Wiesental … sie hat lauter Zeug gesagt, das ich vor allem Alexandra Burkhard ausrichten soll, zum Beispiel: Wir feiern vor dem Krieg, nicht nach dem Sieg.«

 

Aiguo schließt die Augen, er hat’s befürchtet und denkt: Sieg, Krieg, ein Reim, Fesseln, Nesseln. Ein intelligenter, sehr raffinierter, fast tückischer Hinweis auf Winsecks in den Jahren des Flugs zum Neptun entwickelte, von ihrem Erfinder selbst sehr zu Unrecht für letztlich nutzlos gehaltene Theorie über das Verhältnis von Information und Rauschen in der Sprache, zwischen einer klaren, formallogischen Mitteilung auf der einen und dem Zungenreden und Babylallen auf der anderen Seite, und dazwischen all die Differenzen, die diskreten Sinnbesetzungen, unendlich subtil und verstiegen weiterentwickelt das Ganze aus den frühen Einfällen zum Wort bei de Saussure und zum Satz bei Tesnière, mit denen Christian vor dreißig, vierzig Jahren angefangen hat; aufgegriffen und von aller Metaphysik entgiftet durch Andrej Sirilko, nach der Zustands-Rauschen-Theorie in dem Paper, mit dem Cordula uns

Aiguo öffnet die Augen wieder, greift mit Händen, von denen er hofft, dass Filipa ihnen nicht ansieht, dass sie zittern, seine Kaffeeschale, trinkt lange, setzt sie ab und sagt: »Gut, dann ist es das Fest, von dem ich schon ahnte, dass ich es mal würde ausrichten müssen.«

»Geahnt haste das, ja? Ihr seid alle so schlau und verschworen.« Filipa winkt ab, räuspert sich und sagt: »Okay, was war die zweite Frage? Die schwierige?«

Ein winziges Geräusch, teils aus dem Mund, teils aus der Nase, wie eine seufzende Maus, verrät Filipa, dass es Aiguo nicht ganz leichtfällt, diese zweite Frage zu formulieren. Er versucht es, so gut er kann: »Das Gespräch war anders als sonst, nicht? Zielstrebiger, schneller?«

Er denkt an Kompression, an das Gegenteil von Randomness, wie sie bei Chaitin definiert ist, bei Kolmogorow, in den alten Texten, über die er mit Andrej so oft gestritten hat, und er denkt an die Frage: Was kam davor, was kommt danach, die

Filipa sieht aus, als wollte sie was Gereiztes erwidern, aber dann glätten sich ihre Züge, sie zuckt mit den Schultern und sagt: »Keine Ahnung, nein, ja, doch. Weiß nicht. Das heißt, ich bin nicht ganz … nicht ganz ehrlich, wenn ich … doch, ich weiß schon, was du meinst. Sie kann ja nicht wissen, wie oft ich ihr das schon alles sagen musste, wo wir hier sind, die Insel, die Veränderungen der Körper, die Nächte, die Pflanzen, die Korallen, die Wanne, die Bucht, die Häuser, der Omphalos, der Brunnen, die Kraken. Jedes Mal wieder setze ich sie wie die Versuchsmaus an den Eingang zu diesem Labyrinth, aber diesmal war’s …«

»Als ob sie schneller durchgefunden hat als je vorher. Du hattest das Gefühl, vielleicht hat sie dich die ganze Zeit über angelogen, nicht? Es ist dir heute ab und zu so vorgekommen, als ob sie eben doch noch … zumindest Teile eurer früheren Gespräche irgendwie erinnert, vielleicht nicht bewusst, aber als …«

»Als Hintergrundrauschen. Ist das … was Schlimmes?«

Filipa wirkt das erste Mal seit ihrer Ankunft wirklich beunruhigt, und Aiguo denkt: Ja, das ist was Schlimmes, falls man nicht ertragen kann, dass die Welt anders funktioniert, als unser Affenhirn sie sich denken muss. Aber er sagt es nicht, sondern nahezu das Gegenteil: »Ich bin nur neugierig, Filipa. Ich habe ja immer meine Theorien zu allem.«

»Klar, jeder muss sehen, wie er die Zeit rumkriegt«, sagt Filipa, und beide wissen, dass diese Flapsigkeit ein bisschen aufgesetzt ist, weil Filipa sich nicht in Aiguos Spekulationen ziehen lassen will.

»Leider nicht. Drei, vier Roboter für die Forschung und einen für den Haushalt, aber wenn die dich tragen, dauert’s länger, du kennst ja ihren trägen Gang.« Sie grunzt verächtlich, nickt ihm dann noch mal zu, als wollte sie sagen: Weitere Gründe, mich hier zurückzuhalten, hast du nicht? Er nickt ebenfalls, sagt: »Viel Glück«, und denkt, sie wird’s brauchen, ich nicht.

Ich werde hier nicht sterben.

Filipa geht. Aiguo kehrt zurück auf seine Betonplattenveranda, steckt sich die rechte Hand halb in den Mund, mit dem kleinen und dem Zeigefinger in den Mundwinkeln, und pfeift nach dem Roboter, der ihm helfen soll, das Dinner vorzubereiten, das er allerdings lieber in Alexandras Villa verlegen will, wenn wirklich mehr als zehn Leute kommen – nun ja, dafür, das zu klären, ist nachmittags noch genug Zeit, wenn Taisa und die Chefin der ersten Expedition, die hier zum Halten kam, aus der Tiefsee zurückgekehrt sind.

Während er der schwerfälligen, mit ihren vielfingrigen Händen aber sehr geschickten Maschine dabei zusieht, wie sie sich im vorsichtigen, langsamen Wiegeschritt von der Gartenschwelle zum Haus bewegt, geht er ein paar Rezepte durch, die zum Anlass passen könnten: Pferd und Rind bleiben außen vor.

Er denkt an viele Kleinigkeiten, mehrere Gänge, es könnte ja sein – er hat so eine Ahnung –, dass man einige Stunden miteinander verbringen wird, da braucht’s Abwechslung, also etwa ein Einstieg mit Lachs-Tataki im Sesammantel auf Wasabi-Limetten-Crème-fraîche mit einem netten Erbsen-Gurken-Salat oder ein paar Muscheln mit Spargel und Orangendressing, auch für Krabben fällt ihm das eine oder andere ein, aus der Praxis auf Wiesental wie aus den Archiven der FIRAT. Alles ist abrufbar, alles ist da, das Diskrete im Kontinuierlichen, dank der ungeheuren Speichervergrößerung, die das Wissen

Ich vermisse dich, mein Freund. Mein Gegenüber. Mein Schüler und Lehrer, denkt Aiguo dankbar und nimmt sich vor, dem Erbe des Ermordeten in den schweren Stunden, die kommen, keine Schande zu machen.