Der weiße Sternstein glüht nur mehr an den Rändern nach, während Taisa und Aiguo die letzten der mit frisch angesteckten Kerzen gefüllten Lampions an dünnen Drähten aus den oberen Fenstern von Alexandras Villa hängen.
Am Weg vom Hang her und unterhalb der breiten Aussichtsfensterfront, deren Scheiben sich in die Mauern zurückgezogen haben, brennen bereits Dutzende stattliche Pechfackeln, jede etwa anderthalb Meter hoch. Aiguo, Alexandra und Taisa haben sie vor zwei Stunden aufgestellt.
Die ersten beiden Gäste von der Küste, Christian Winseck und sein Nachbar, Lieutenant 1st Class Jordan Barrow, sitzen mit zwei Amerikanerinnen und Filipa Scholz schon neben dem zum Behelfsrollstuhl umkonfigurierten Bett, in dem Filipa ihre Mitbewohnerin Liz hergebracht hat, an einem der langen Holztische. Das sind jeweils ganze Baumhälften. Die Leute unterhalten sich, trinken Wein, Säfte, ab und zu ein Glas Obstwasser oder Whisky, und die Hungrigsten haben auch schon angefangen, sich bei der Muschel-Bouillabaisse zu bedienen, die Alexandra persönlich in einer großen Schüssel zum Gelage beigetragen hat, erst vor einer halben Stunde. Wer kostet, lobt, etwa Filipa: »Mensch, und die kleinen Jakobsmuscheln, super, und was da alles drin ist, Thymian, Lorbeerblätter, ich hab selber gesehen, wie sie ihren Wintergarten geplündert hat, Safranfäden, dann sogar Pfeffer, gemahlen, da wird sich Aiguo heute mehr Mühe geben müssen als sonst mit seinem Gemansche.«
»Ich will noch warten«, sagt Christian, »bis alles auf dem Tisch ist, so gut das riecht, was du da hast.« Dass er schon da ist, verdankt er Barrow, der ihn in seinem persönlichen Kopter hergeflogen hat, nachdem Filipa die beiden beim Mittagessen vor Barrows Haus angetroffen und eingeladen hatte.
Jetzt steht das Gerät auf der anderen Seite von Alexandras Villa, neben zwei weiteren, mit denen noch mehr Leute aus Masvidals kleiner Armee eingetroffen sind, die Barrow seinerseits verständigt hat, bei Zwischenlandungen, weil Filipas Einladung ausdrücklich »so vielen wie möglich« galt, »für mindestens zwanzig, fünfundzwanzig Leute ist Essen da. Ich sag’s unterwegs auch noch den restlichen DDRlern aus Alexandras alter Besatzung und bin dann wahrscheinlich die Letzte, die mit den Letzten kommt.«
Es stimmt nicht: Erwartet werden auch jetzt noch viele, über die Hügelwelle erkennen die Feiernden gerade schon drei, vier Köpfe von Leuten, die seit der ersten Besiedlung der Insel mit Alexandra dabei waren, und von den FIRAT-Überlebenden fehlen nach wie vor Diduk und Heike Breuer.
Barrow unterhält sich, den Whiskytumbler in der Hand, gerade mit Liz, die gelöst aussieht, sogar fröhlich – der Amerikaner kratzt sich am weißen Haarschopf, guckt skeptisch, kneift die Augen zusammen und sagt sehr langsam: »Soooo … let me get this straight, you’re basically saying our Miss Burkhard picked ’em to uplift ’cause they’re loners. That is to say, kinda not as social in their … insofar as their … developmental … road to intelligence … does not depend on social interaction as much as it is with us humans? If that were true, it would certainly suggest that …«
»Hey«, ruft Filipa und wirft tatsächlich ein Bröckchen Brot nach dem Soldaten, »sprich deutsch hier am Tisch! Das ist ein Abendessen und kein Briefing. Wenn ihr hier Ami redet, nur weil sie auch da herkommt, dann ist das …«, sie beugt sich Richtung Christian, der versucht, sich nicht anmerken zu lassen, wie peinlich er sie wieder mal findet, »na, wie heißt das englische Wort für unhöflich?«
»Impolite«, sagt Christian, und leiser: »wobei mich nicht wundert, dass gerade du dir gerade dieses Wort nicht merken kannst.«
Liz findet’s zum Lachen. Der Leutnant deutet eine ironische kleine Verbeugung Richtung Filipa an und brummt: »Mein Fehler, verzeihen Sie. Ich falle immer ins Englische, wenn es mir zu … sophisticated? Zu anspruchsvoll wird. Wir reden gerade über die …«
»Die Kraken. Er will wissen, warum sich Alexandra dafür entschieden hat, nicht, na … Delphine oder andere Tiere so hochzuzüchten, dass sie hier als Hilfskräfte bei der großen biologischen Informationsverarbeitungsanlage, die diese Insel ist …«
»Er sagt nicht hochzüchten«, mischt sich Alexandra ein, die eben aus der Küche kommt mit einer Platte, auf der eine Schale voller Zucchini-Spaghetti mit Meerespesto steht, die sie nach Aiguos Vorbereitung eben fertig zubereitet hat, »er sagt uplift. Und das trifft es auch ganz gut. Das Wort stammt von David Brin, nicht? Sie sind ein Science-Fiction-Freak, Lieutenant Barrow«, sie lächelt ihn an, während Christian ihr die Platte abnimmt und auf den Tisch stellt, »das ist mir öfters aufgefallen. Nothing beats Brin, Asimov, Clarke, Heinlein … the classics, right?« Er erwidert das Lächeln freundlich und setzt die Miene eines Ertappten auf, als er antwortet: »Stimmt, jedenfalls für mich, though … you’d have to add Niven and Pournelle to that list to make it complete …« Und weil ihn Filipas missbilligender Blick trifft, fährt er auf Deutsch fort: »Das liegt bei mir in der Familie. Science Fiction, comic books, die pop culture des zwanzigsten Jahrhunderts – ich komme aus einer langen … ich stamme von lauter Soldaten ab, unter anderem von einem Mann, der mit Tarbassian zusammengearbeitet hat, Operation Comix Relief, die haben dafür gesorgt, dass amerikanische Soldaten überall auf der Welt die Hefte bekommen mit den neuesten Geschichten über Superman und Daredevil … and all those guys, in Japan, Korea, auch Deutschland, Irak, Afghanistan, Haiti …«
»Anekdoten aus dem Imperium«, Filipa wischt das Thema mit einer ungeduldigen Handbewegung weg. »Aber was war das jetzt mit uplift und züchten und Oktopus? Das interessiert uns alle, das könnt ihr doch nicht in eurer Ami-Ecke da bequasseln, unter Ausschluss der … der andern hier halt.«
»Uplifting«, sagt Alexandra, die sich neben Christian auf einen freien Bankplatz gesetzt hat, und streicht sich dabei etwas Frischkäse auf ein Baguettestückchen, »ist bei David Brin ein Verfahren, mit dem hochintelligente Spezies weniger intelligente Spezies im Kosmos sozusagen … evolutionär upgraden, verbessern, erheben, upliften halt …«
»Yeah, also Außerirdische zum Beispiel, hypothetisch, die hätten das mit den Vorfahren von uns Menschen machen können, Neurotechnik …«
»Und in den Uplift-Romanen von Brin machen das die Menschen dann mit den Delphinen und den Affen oder so …«, sagt Alexandra, wozu Barrow nickt und sagt: »Yeah, like Heinlein said, pay it forward.«
»Nur dass es hier nicht so war«, sagt Liz, in einem Tonfall, als spräche nun die Erwachsene, nachdem die Kinder ihrem Enthusiasmus Luft gemacht haben: »Wir wissen nicht, ob uns wer … if we’ve been uplifted, jedenfalls scheinen doch die … Erbauer der Sternsteine, oder die Steine selbst, so to speak … kein Interesse dran zu haben, uns nennenswert zu verbessern, auch wenn sie natürlich Wünsche großzügig erfüllen, wie sie uns unsere maßgeschneiderten Körper hier geschenkt haben, mit dieser transbaryonischen Schwere … Man muss ihnen nur sagen, was sie tun sollen, welche Technik man braucht.«
Das Schweigen der anderen auf diesen Satz ist beredt. Sie wissen alle, was er impliziert: Da man nicht genau sagen kann, was nötig wäre, um Liz zu retten, die Zerstörung aufzuhalten, die sie jeden Tag an den Rand des Todes bringt und die ausgelöst ist durch andere Sternsteintechnik, missbraucht zu menschlich militärischen Zwecken, da also der Schaden, der ihr zugefügt wurde, von Menschen einfach nicht gut genug verstanden ist, kann man auch keinen Wunschzettel schreiben, auf dem die Apparate und Prozeduren stehen, die den schrecklichen Zustand beenden könnten.
Anstatt darüber zu reden, setzt Liz ihren Gedankengang ohne das geringste Anzeichen von Befangenheit fort: »Also, sie selber upliften nicht, aber sie haben dir«, sie lächelt Alexandra an, »nach deinen Spezifikationen die Instrumente zur Verfügung gestellt, um die Oktopoden zu un… unverzichtbaren? unersetzlichen Helfern bei der ganzen Bioinformatik hier zu züchten. Und Lieutenant Barrow und ich, wir haben uns gerade darüber unterhalten, was es wohl war, das dich … dazu … bewegt hat, ausgerechnet diese Spezies zu wählen, nicht Delphine oder … na, er sagt, die Arme. Dass sie mitarbeiten können, dass sie ihre Umwelt manipulieren.«
»Seems obvious«, bestätigt der Amerikaner, aber Liz widerspricht: »Not so obvious, since most of the work in the reef is of another nature entirely. Das Greifen, das handling, davon wird nicht viel … benötigt, sie sollen … they are observers, collectors of data, with their heightened senses, sie beobachten und denken. Es ist intellektuelle Arbeit.«
»Du hast also«, fragt Alexandra fröhlich nach, als wäre das ein besonders spannendes Gesellschaftsspiel, »eine andere Theorie? Nicht die Greifarme sind’s, sondern …?«
»Die Distanz zur Sprache«, sagt Liz, und die Art, wie Alexandra daraufhin die Augenbrauen hebt, verrät den anderen, die dem Gedanken nicht sofort folgen können, dass die Kosmonautin sehr genau versteht, was Liz meint.
»Distanz?«, fragt Filipa nach.
»Der Oktopus«, erklärt Liz geduldig, »wenn wir ihn in der Form nehmen, die er auf der Erde entwickelt hat, also an dem Ausgangspunkt, von dem aus Alexandra ihr Uplifting beginnen musste, ist ein sehr interessanter Fall. Entwicklungsgeschichtlich gab’s eine Trennung zwischen uns Wirbeltieren auf der einen Seite und Mollusken, inklusive Oktopus, und Arthropoden, also Ameisen und Hummern und so was, auf der andern Seite, vor sechshundert Millionen Jahren. Bei diesen Tieren auf der anderen Seite sticht der Oktopus hervor als … creature … with an especially highly developed central nervous system, sein Hirn, sein ganzes Nervensystem, das sind immerhin so fünfhundert Millionen Nervenzellen. Gut, Menschen haben hundert Milliarden, aber der Oktopus kann locker mit Hunden mithalten. Ein riesiger Unterschied zwischen den Hunden und unseren Achtbeinern ist aber, dass die Achtbeiner nicht sehr sozial sind, dass es sich um Einzelgänger handelt – und dass ihre Intelligenzentwicklung deshalb in sehr geringem Maß eine soziale war. Nicht wie bei uns, wo das alles mit und über Sprache lief, diese ganze kognitive … Explosion der Menschwerdung.«
»Weeeell«, erwidert Barrow gedehnt – nein, denkt Christian plötzlich selbst ein bisschen erschrocken von dem Einfall, nicht gedehnt, eher gestreckt, zum Sprung nämlich, und dann springt er: »I guess there’s an interesting gulf there between more sociable animals on the one hand and those arthropods and cephalopods and mollusks and what have you on the other, but the comparison with dogs or humans is also slightly unfair since, if we’re talking about the central nervous system, the ratio of brain size to body size has to be taken into account …«
Alexandra fällt ihm ins Wort: »No, no, that is a definite oversimplification here, listen …« Und weiter, auf Englisch, so schnell, dass die abermalige Ermahnung, gefälligst beim Deutschen zu bleiben, die Filipa, nach ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, bereits auf der Zunge liegt, nie ausgesprochen wird – der Respekt vor »Miss Burkhard«, wie die Amerikaner die Schöpferin von Wiesental nennen, ist selbst bei der rabiaten Deutschen zu groß, die also stattdessen zuhört, wie diese Züchterin einer Insel und einer Population von sehr gescheiten Oktopoden ihren Standpunkt darlegt: »It’s neither a thing of absolute mass nor simply an affair of the ratio you mentioned. You have to look at it structurally – if we would say about a brain: it’s a social brain, or about another brain: it’s more of a brain that’s adapted very well to deal with non-social matters, like states of affairs of things, like … how does that philosopher say, Wittgenstein?«, und Liz hilft ihr: »Alles, was der Fall ist?«
»Yes … also, wenn wir sagen …« Sie rollt mit den Augen, Christian findet es anziehend, er weiß, dass sie sich damit sammelt, um wieder ins Englische zu finden: »If, for a moment, for the sake of this argument, your argument«, sie deutet eine Verneigung vor Barrow an, ein winziges Kopfnicken, »that there’s some sort of … ratio, balance, something like a variable in organizing brains, then we could say brains with higher cognitive functions, self-aware brains could serve three ways of … What I’m saying is, there’s three approaches to … thinking, one is the subjective one, internal monologue, stream of consciousness and so forth, one is the objective one, like recognizing and processing … alles, was der Fall ist, as Wittgenstein says, and the third one would be intersubjective, like, what are others thinking … that’s what you’d call social. Now the difference between man and octopus, I should say, is one of degree, of emphasis with regard to those three. Neuro-anatomically speaking one would look for, let’s see, if there are very old parts of the brain, they would persumably …«
Barrows Gesicht hellt sich auf, er kann dem Argument folgen: »If you’d look at basic circuits, if it’s wired the way that … there’s excitation and inhibition, relatively straightforward by way of sense data, of signals, information from outside the organism, the Wittgenstein stuff.«
»But social matters are also der Fall, and self-awareness is der Fall as well«, erinnert ihn Alexandra und wirkt dabei zugleich so überlegen und so entgegenkommend, dass Christian seine Bewunderung von Schwärmerei wirklich nicht mehr unterscheiden kann. Die nussbraunen Locken oben und vorn, von denen ihr jetzt eine über die rechte Augenbraue fällt, scheinen ihm wie Bilder der Fülle und Vielfalt ihrer Einfälle, reich, aber nicht wild und nur da vorhanden, wo sie diese Haare haben will – im Nacken und über den Ohren ist ihr Kopf nicht nur kahl, sondern so glatt ausrasiert und vermutlich pharmakologisch versiegelt, dass nichts wächst, wo nichts wachsen soll.
Die Wimpern, die kleinen Lichter in den Augen, von den Fackeln, die großen, aber nicht zu großen Zähne (»Sie hat ein starkes, aber attraktives Pferdegebiss«, fand Semjon Diduk mal, der über Körperliches, wie alle Dysoniki, sehr unbefangen redet), die Glut der engagierten Rede auf den Wangen, das alles macht Christian, wie ein deutscher Ausdruck lautet, der sich jetzt ziemlich unerbeten im sozial vorgeformten und durchgebildeten Nichttintenfischhirn des Sprachwissenschaftlers meldet, »weiche Knie«.
Es beschleunigt seinen Puls, füllt sein Herz mit dem Wunsch, sie möge ihn so aufmerksam anschauen wie den Offizier, so dass er schließlich nicht mehr mitbekommt, was sie da eigentlich sagt – nur sehr am Rande nimmt er wahr, dass es um die Unterscheidung zwischen Sprache als Gedanke einerseits und Sprache als Kommunikation andererseits geht, dann aber vor allem um die Abhängigkeit oder eben Nichtabhängigkeit der subjektiven und der objektiven von der intersubjektiven Sprache, ein Gebiet, auf dem er eigentlich einiges beizutragen hätte, zumal sie einmal sogar andeutet, man könne sich fragen, ob das Objektive spreche, etwa in Gestalt von Regelmäßigkeiten, die sozusagen das, was der Fall ist, codieren, also behandeln wie eine Sprache ihren Redegegenstand, was ihm vage seine Zusammenarbeit mit Andrej Sirilko ins Gedächtnis ruft.
Aber er ist längst zu sehr in sich selbst zurückgesunken, in Verliebtheit, die ihn paradoxerweise der Redenden, die er liebt, gerade nicht näherbringt, sondern von ihr trennt, ja sogar in gewisser Weise, nämlich, weil er da etwas empfindet, was die Gruppe der Feiernden offiziell weder anerkennt noch überhaupt wissen soll, aus der Party an sich entfernt, ein Umstand, der irgendeinen seiner selbst nicht bewussten Schaltkreise von Erregung und Dämpfung im Primatenzentralnervensystem schließlich so sehr irritiert, dass sein Blick sich von der beeindruckenden Frau löst, an dem er eben noch so hilflos hing, und kurz die andern streift, als wollte er wissen: Hat’s wer gemerkt, stört’s wen?
Die zwei Amerikaner am Kopfende des Tisches (die Frau heißt Reynolds, oder? Den Namen des Mannes hat Christian vergessen) reden halblaut über etwas ganz anderes und beachten ihn nicht. Der alte Kaspar Emig daneben, ein Ingenieur aus Alexandras ursprünglicher DDR-Crew, schäkert mit einer jüngeren Russin.
Filipa lauscht konzentriert dem Trialog zwischen Liz, Alexandra und Barrow.
Taisa aber schaut Christian, als dessen Suchen bei ihr ankommt, direkt an, und das stößt ihn als kleines Schaudern sofort aus seiner wohlig-wehmütigen Verliebtenstimmung. Dieser Blick ist klar, wissend und, so scheint’s zumindest dem Verstörten, nicht ohne Mitgefühl: Sie weiß, was mit mir los ist, und bedauert mich, weil aus diesen Wünschen, dieser süßen Wirrnis nichts werden kann, nichts Gutes jedenfalls.
Deutet er’s nur so? Sie sieht ihn und blinzelt nicht, ein Lächeln ist unmöglich, die Mundharmonika kennt keins. Er sollte sich jetzt abwenden, weiß Christian, bevor’s ein Starren wird, und weiß nicht, ob er lächeln, nicken, den Kopf schief legen oder sonst ein Zeichen seiner Verbundenheit, Harmlosigkeit, Gutwilligkeit senden soll. Also senkt er den Blick bloß ein bisschen, so dass er auf Taisas Hände fällt, die ihn gleich noch mehr irritieren als ihre Augen: Die Handballen sind auf die Tischkante gestützt, die Hände ruhen somit auf dem Tisch, die obersten Fingerglieder aber haben sich von den Fingern gelöst, hängen noch an jeweils etwa fünf bis zehn Zentimeter langen Fasern, die Christian für Kabel halten muss, weil die Analogie zur Robotik seinem ziemlich technikfremden Denken so nahe liegt, und ruhen in zehn Mulden auf einem etwa drei Zentimeter hohen, fünfzehn Zentimeter langen und zehn Zentimeter breiten schwarzen, nun ja, Dominostein, denkt Christian, weil das Ding so dunkel ist (vielleicht auch nachtblau) und die Mulden weiß sind – er kennt das Objekt schon, Filipa hat es mal »Akku« genannt, die Dysonika zieht daraus also eine Art Nahrung, Stärkung, vielleicht auch Genuss. Es ist ihre Art, hier am Tisch mit den anderen zu essen oder zu trinken, und es stört niemanden außer Christian. Den stört es nicht deshalb, weil er dadurch daran erinnert wird, dass diese Frau im strengsten Wortsinn kein Mensch ist, sondern weil er spürt, dass selbst sie in ihrem offensichtlichen Anderssein, mit dieser seltsamen Vorrichtung, mehr zur Gruppe gehört, besser integriert ist als er, der schief und unpraktisch Verliebte.
Musik singt:
Send the moon thru the skylight
Bells together outrageously
Noiseball, flirtatious example
Er kennt das, hat es oft gehört auf der FRIES und der FIRAT, das war Teil seiner Recherche. Alex hat es wohl heute Abend hier ausgesucht, aber das Lied ist erst nach ihrem Abflug von der Erde aufgenommen worden, ein seltsamer Anachronismus.
Bless her soul to further degree
Theatre goddess, film destroyer
New York girls are sure to enjoy her
Wen meint das? Nun ja, die Theatergöttin, die Filme zerstört – war das nicht Cordula? Ja, es klingt, als ob Thurston Moore das, was er da singt, auf Cordula singt, wie ist das möglich? Der Tonfall passt zu ihr, warm und gleichzeitig gläsern hart.
Die Wahrnehmung und der Gedanke – ganz sicher ist er nicht, was davon er sich nur ausdenkt – überfordern Christian. Er entschuldigt sich murmelnd bei dem Mann zu seiner Rechten, einem von Alexandras Leuten, dessen Name ihm nicht einfallen will. Der Mann rückt ein Stück zur Seite, damit Christian aufstehen kann, der das tut, ohne schon recht zu wissen, wohin er will auf seinen schwächelnden Beinen.
Ins Haus, aufs Klo, in die Küche, auf die Wiese? Zum Wäldchen? Ein lauter, gutgelaunter Ruf vom Fackelweg her nimmt ihm die Entscheidung ab: »Boshe moi, halt dich doch gerade, Winseck! Fällst du schon besoffen um? Es ist noch nicht mal dunkel, ich dachte, wir wollten Wodka um die Wette trinken?«
Es ist Semjon Diduk, der sich so brüsk hören lässt und dazu eine schlanke Flasche Kartoffelschnaps ohne Etikett aus seiner eigenen Destille überm Kopf schwenkt.
Diduk kommt von der Küste, trifft eben erst ein, in Begleitung der kopfschüttelnden, aber offenbar amüsierten Heike Breuer, die sich mit ihrem linken Arm in seinem rechten untergehakt hat. Die gutwillige Anschnauzerei ist genau der Weckruf, den Christian in seiner Herzensverworrenheit gebraucht hat. Er findet seine Balance wieder und eilt den beiden entgegen, um sie vielleicht ein bisschen zu überschwänglich, aber doch aufrichtig erfreut zu begrüßen. Mit Gesten deutet er an, dass er sie zur großen Tafel führen möchte, an der die Oktopusdebatte mit unvermindertem Schwung weitergeht. Aber Heike möchte erst den Inhalt ihres Rucksacks, offenbar ein paar von ihr und Semjon zubereitete Speisen, in Alexandras Küche abladen, wohin Semjon und Christian sie also begleiten.
Unterwegs begegnet Christian in der Lobby, dem angrenzenden Wohnzimmer und auf der Treppe einem Teil der Party, den er bislang ignoriert hat, einem lockeren Beisammensein im Stehen, Sitzen, auch Liegen oder Fläzen auf den Sofas und Sesseln rund um den großen Farn im Kieskreis in der Mitte des Foyers, das ihm einladend vorkommt, weil sich hier tatsächlich die verschiedenen Segmente der Bevölkerung von Wiesental unbefangen mischen, zusammen trinken, reden, den Tieren in den Aquarien zuschauen und der Musik lauschen, die nicht allzu laut aus den Poren der Wände dringt.
Sobald Heikes Rübchen-Algen-Salat mit Chili, ihr Blumenkohlreis mit Salzaster und ihr Seemannsbrot im Kühlschrank oder auf den geeigneten Tischen und Stühlen abgestellt sind, geht die Frau, die das alles mitgebracht hat, nach draußen, während Christian sich mit Semjon unter die Foyerleute mischt, wo er die nächsten zwei Stunden mit einem guten Fünftel von Semjons Wodka verbringt, beim Plaudern, Zuhören, Driften von Grüppchen zu Grüppchen, bis Valentin Berger, einer aus Alexandras Anhang, außerdem Filipa und zwei Amerikaner das Bett mit Liz darin entlang der Fensterfront zum separaten Gästeflügel an der Talseite der Villa tragen. Christian sieht, dass das die vier Mühe kostet. Er stellt sein Schnapsglas auf einen schon ziemlich vollen Beistelltisch, geht rasch zu Filipa und fragt laut genug, um den Hintergrundlärm zu übertönen, aber nicht aufdringlich: »Braucht ihr Hilfe?«
»Nur, bis sie in dem Zimmer ist. Der Block kommt von alleine wieder«, erklärt Filipa, »die unterstützenden Geräte sind da, und den Schädelknacker zieh ich einfach raus.«
Sofort packt Christian mit an, selbst ein bisschen überrascht davon, wie klar im Kopf er ist, wie leicht ihm die körperliche Koordination fällt, dem Alkohol zum Trotz, und wirft beim Tragen nebenher einen Blick auf den Himmel hinter und über dem Wannenrand von Wiesental, weil da das blaue Abendsteinsternleuchten endet, weil die schwarzen Punkte der herabsegelnden Oktopoden das zunehmende Dunkel punktieren wie negative Sterne mit Härchen dran und weil es dort blitzt, weht, ein weit entferntes Unwetter, das dieses Tal, für das angenehme, laue Temperaturen und kein Regen zuverlässig vorhergesagt sind, wohl nicht erreichen wird. Als das Bett aufgestellt ist und Christian gerade Filipa fragen will, wie die erstaunliche Schallisolation des Raums erreicht wird, in dem man nach Schließen der Tür keine Stimmen, ja nicht einmal den Bass der Partymusik hört, bedankt sich Liz müde lächelnd mit matter Stimme und bleich: »Nett von … euch … wir … sehen uns morgen früh, wenn ich wieder … alles … vergessen … hab«, und Filipa setzt hinzu: »Den Umbau krieg ich alleine hin, danke.«
Zurück in der Villa, findet Christian zunächst keinen Anschluss mehr an irgendein Gespräch. Die Konstellationen und Themen sind ganz ausgewechselt, weswegen er einer spontanen Eingebung nach die Treppe hinaufgeht, an einzelnen Menschen, Paaren und kleinen Gruppen vorbei, um im ersten Stock in die Aquarien zu schauen.
Die langen, aber auch breiten grünen Blätter, die direkt aus einem Loch im hellbraunen Felsen als wildes Büschel herauswachsen, als spucke dieser Felsen sie in Zeitlupe aus, der spitze orange Fisch mit dem gelben Rückenkamm, der breite graue mit den pinken Rändern an den Flossen, die unfassbar flache Krabbe.
Das ist lebendig ohne Namen, es bannt die Wörter in Christians Kopf. Er kennt die Ausdrücke für dieses Leben nicht und ist seltsam froh darüber, könnte auch gar keine Sätze über seine Wahrnehmungen hier formulieren, nicht mal mit ausgedachten Wörtern, nicht mal in einer ausgedachten Syntax wie dem »Jumblesisch«, das sich einer seiner Lieblingsphilosophen, der arme Wilfrid Sellars, ausgedacht hat, um grundsätzliche Probleme des Benennens und Beschreibens und Erklärens zu erforschen. Wie lange ist das jetzt her, dass Andrej dem davon so elektrisierten Christian zeigte, dass man Jumblesisch nicht nur schreiben und sprechen, sondern auch rechnen kann, ja, dass es dank Chaitins algorithmischer Informationstheorie und Kolmogorows Komplexitätsdenken sogar eine Art gibt, in Zahlen in Zungen zu reden: arithmetische Glossolalie, Vernunft im Irrationalen, wie der Fisch im Wasser, wie die Glitzersteinchen am Beckenboden?
Ich bin betrunken, denkt Christian.
Hoffentlich nicht so schlimm wie der gute Sellars. Hieß es von dem nicht, er sei an den Folgen jahrelangen Alkoholmissbrauchs gestorben? Auf wie vielen Partys hat sich Sellars ans Aquarium gestellt, kann man die zählen, könnte man die berechnen? Andrej, der’s könnte, ist nicht da. Schräge Schwermut isoliert Christian. Pärchen und Einzelne rücken mehr und mehr, wie instinktiv, von ihm ab, verlassen die Treppe, bis er ihren oberen Absatz und den Aussichtspunkt am Aquarium ganz für sich allein hat.
Da seufzt er und legt die Hand aufs Glas, hinter dem etwas lebt, das er nicht benennen kann, wie um sich abzustützen, und der Kühle wegen, denn all das Denken an Wörtern vorbei macht ihn wieder fiebrig, wie vorhin, am Tisch, bei der Schönsten.
Was er spürt, hat er nicht erwartet: Das Wasser und die Tiere drin beben rhythmisch. Da ist ein Ruckpuls drin, der gegen ihn andrängt und sich dann wiederholt, einmal, zweimal, dreimal, rhythmisch, von der Scheibe übertragen, ein großer schwerer Herzschlag, wie nennt man das? Endlich findet Christian das Wort: Bass, so heißt das, und es kommt natürlich nicht aus dem Aquarium, es kommt von – er überlegt, nimmt die Hand weg, jetzt hört er es auch, wenngleich nur schwach überm Lärm von unten, dem Gesprächsschwappen, dem Gelächter, der Foyermusik – hier oben irgendwo, höher als die höchste der Treppenstufen, auf denen er steht, im ersten Stock. Da ist eine andere Musik, eine gröbere, eine wildere als die gemäßigt-gefällige unten. Er beschließt, der Musik nach oben zu folgen, und steigt den Rest der Zwischentreppe hoch. Christian stellt sein Sektglas, von dem er gar nicht weiß, woher er’s hat, einfach auf den Teppich an der Wand, geht um die Ecke, hier kennt er sich aus, wenn auch nur nach Gefühl, dunkel. Es ist lange her, aber er hat in diesem Haus gewohnt, nein: in dem Haus, nach dessen Vorbild dieses Haus gebaut wurde. Schritt für Schritt, barfuß – wann hat er sich die Schuhe ausgezogen, wo stehen sie? Er weiß es nicht – geht er auf den weichen Flusen den Gang hinunter, dahin, wo das große Schlafzimmer ist, von dem sein Vater ihm erzählt hat, dort hätten er und Alexandra Burkhard gewohnt – Schlafzimmer, denkt etwas unruhig Unklares in ihm, darf ich da hin, was mache ich, wenn ich irgendwen beim Sex überrasche, was war noch mal Sex, war das nicht privat, störe ich da?
Der Beat ist dumpfer im Näherkommen. Dafür hört Christian jetzt eine Frauenstimme singen, melancholisch-üppig:
Pride’s like a knife, it can cut deep inside
Words are like weapons, they wound sometimes
I didn’t really mean to hurt you
I didn’t wanna see you go
Irgendwas sagt ihm das, irgendwie kennt er das. Aber diese Ahnung holt er nicht mehr ein, denn jetzt steht er schräg vor der Flügeltür, die halb offen ist, und sieht etwas, das er überhaupt nicht kennt, das er überhaupt nicht einordnen kann: einen riesigen flachen Schirm an der Wand gegenüber, zwei Meter hoch mindestens, noch breiter, und auf diesem Schirm singt eine Frau in schwarzen Strümpfen, Strapsen, Lederjacke, mit Mikrophon, auf einem Kriegsschiff, angejohlt von Hunderten von Matrosen, ihr seltsames Lied, ihre reumütige Rockballade:
I know I made you cry, but baby
If I could …
Und dann der doppelte Schrei vom Bett, auf dem zwei Menschen stehen, tanzen, wippen, die Federung der Matratze bis zum Zerspringen belasten, mit ihren aufrechten Körpern, Alexandra und Taisa, Letztere in der Uniform der Forschung und Arbeit auf Wiesental, während Alexandra eine enge dunkelblaue Jeans und ein T-Shirt trägt, auf dem Christian eine brennende Vogelscheuche oder etwas Ähnliches zu erkennen meint – aber er hat keine Zeit, es zu untersuchen, sich an das Bild zu erinnern, das er kennt, denn zusammen mit der Sängerin auf dem Schirm singen, nein, brüllen die beiden auf dem Bett jetzt mit aller Kraft:
TURN BACK TIME !!!!
Beide lachen, weil sich das komplett unglaublich anhört, die Menschenstime in Johlen und Überschwang, die synthetische, aber ungeheuer fröhliche aus der Mundharmonika, und nun wieder die Sängerin:
If I could …
Da stimmen die zwei wackelnden und winkenden Frauen auf dem Bett wieder ein, enthemmt, verrückt lustig:
FIND A WAY !!!
Und jetzt sieht Alexandra ihn, winkt ihn her: »Komm, los, komm her, kennst du das?«, da ist die Sängerin schon weiter, bei
If I could …
Und so krakeelen die Frauen lauter als je zuvor, dass Christian fast in Ohnmacht sinkt, dem immerhin einfällt, wie die Sängerin heißt, stimmt, das ist doch Cher, egal, Orkan:
REACH THE STARS !!!!
Aber er kennt das Lied nicht, kennt den Text nicht und kann deshalb auch nicht Chers
I’d give them …
ergänzen wie Taisa und Alexandra, die schreien:
ALL TO YOU !!!
Die flehentlichen Liebesbekundungen der Sängerin, die darauf noch folgen, begleiten die Frauen auf dem Bett nicht mehr, sondern umarmen einander, kreischen, lachen und steigen dann, wankend und schwankend, von der gequälten Matratze auf den Teppich, um den beklommenen, benommenen, aber auch entzückten Christian in ihrer Mitte willkommen zu heißen. Umarmung, mehr Gelächter, ein Segen.
Es ist so ansteckend, dass Christian gar nicht anders kann, als mitzuhopsen, jetzt auf dem Teppich, den Kopf im Takt zu bewegen, yes, headbanging, so hieß das, und in die Wiederholungen des Refrains einzustimmen. Immer wenn Cher mit
If I could …
anfängt, grölen die drei entweder
TURN BACK TIME!
oder
REACH THE STARS!,
aber mehr kann Christian sich nicht merken, so dass er eher körperlich als stimmlich mitgeht, sich also von Taisa an der linken, von Alexandra an der rechten Hand nehmen lässt, woraufhin alle Hände hochgerissen werden und wieder runtergeworfen, hochgerissen und runtergeworfen, während Cher übers Deck storcht und jodelt, die Matrosen jubeln, die Lichter blitzen, und als es vorbei ist und der Krach ausblendet, das Bild in Zeitlupe übergeht und schließlich festfriert, fallen die drei gleichzeitig nach hinten aufs Bett, unter Kieksen – Alexandra – und Brummen – Taisa – und atemlosem Keuchen – Christian –, so dass er Luft holen muss mit dampfhämmerndem Herzen, der Ohnmacht nahe, nachglühend wie der Rest eines explodierten Feuerwerkskörpers, keuchend, japsend, im halbverschluckten Lachen und Glucksen.
»So«, sagt Alexandra schließlich, als alle drei wieder zu einem regelmäßigen Herzrhythmus und einer normalen Atmung gefunden haben. Christian ist gespannt, was aus diesem »So« folgen soll.
Aber statt dass Alexandra fortfährt, richtet sich Taisa als Erste in eine sitzende Position auf, lässt seine Hand los, schaut auf ihn und die Pionierin herunter und sagt: »Ihr habt etwas zu besprechen, glaube ich.«
Eine Explosion der Scham schickt Angst in jede Zelle von Christians Körper, und nur der freundliche, offene Blick der Dysonika hält ihn davon ab, sich vor ihrem seltsamen kleinen Kühlergrill im Gesicht zu fürchten, der wie ein Kampfgrinsen aussähe, wenn Christian nicht wüsste, dass sie weder ihm noch Alexandra etwas Böses will. Trotzdem, denkt er und kämpft gegen ein Schwindelgefühl an, das den Raum um ihn dreht, als läge er auf einem Plattenteller, das hätte sie jetzt nicht tun dürfen, nur weil unsere Blicke sich vorhin gekreuzt haben, nur weil sie mich durchschaut – aber dann spricht Alexandra, und er erkennt, dass er gar nicht der Adressat von Taisas Bemerkung war: »Ja, haben wir wohl. Geschäftlich.«
Das letzte Wort klingt leicht ironisch, und Taisa nickt beiden noch einmal zu, bevor sie wortlos aufsteht und rasch den Raum verlässt. Sogar die beiden Flügeltüren schließt sie hinter sich, und Christian denkt: Es ist ernst, aber ist es ernster als meine Not mit meiner Liebe? Alexandra lässt seine Hand jetzt auch los, setzt sich auf.
Er schließt die Augen, wie einer, der träumt und weiß, dass er träumt, die Augen öffnet, um dem Traum zu entkommen. Aber da hört er sie atmen, und das ist anstrengender, intimer als ihr Anblick, also öffnet er die Augen wieder, richtet seinen Oberkörper mit etwas Mühe – er muss sich auf die Matratze stützen dabei, die ist weicher als erwartet – ebenfalls auf und rückt dabei, bis er schließlich die gewünschte aufrechte Sitzhaltung erreicht, etwa fünfzehn zusätzliche Zentimeter von ihr ab, als wollte er ihr einerseits Raum geben für das, was sie zu sagen hat, und andererseits sich selbst in Sicherheit bringen.
Er darf ihr, denkt er, nicht in die Augen schauen, in dieses Grün, aber auch nicht an ihr vorbei, und bevor er sich heillos in Widersprüchen wie diesen verheddert, fordert ihn Alexandra leise, aber mit klarem Blick auf: »Möchtest du was sagen? Bevor wir zur … Tagesordnung kommen. Da wollte ich dich eigentlich nicht reinziehen, weil du das, was du beitragen kannst, schon beigetragen hast, mit Andrej Sirilko – es tut mir immer noch leid, dass ich zu spät gekommen bin. Dass er gestorben ist und dass du dabei sein musstest. Alles, was jetzt kommt, bringt dich nur in Gefahr, und du bist kein … Krieger. Ich meine das als Kompliment. Aber du … du wirst nicht mehr gefragt. Du wirst dich irgendwie durchschlagen müssen, und das tut mir auch leid, sogar sehr. Deswegen, dachte ich, frage ich dich noch mal, bevor ich dir erzähle, was jetzt kommt. Ob du was auf dem Herzen hast. Du sollst zu Wort kommen, das, mindestens, schulde ich dir.«
Jedes Wort, das sie sagt, bringt ihn nur noch mehr durcheinander, und daraus folgert er ganz richtig, dass er nicht warten darf, bis er weiß, was er ihr genau zu sagen hat, sondern reden muss, bevor er gar nicht mehr kann.
Vorsichtig, aber nicht länger peinlich gehemmt, fängt er also an: »Als du mich da rausgeholt … als du mich gerettet hast, auf diesem Mond … ich habe dich gehasst. Du wolltest mich nicht … ich dachte: Sie hat mich dran gehindert, Andrej zu helfen. Sie ist schuld. Dann habe ich … als wir unterwegs waren, in dieser, in deiner kleinen Kapsel, und du hast mich immer wieder angesprochen, ob alles okay ist, ob ich verletzt bin, ob ich Schmerzen habe, und dann, dass ich keine Angst haben soll … ich war ganz verbissen, ich habe den Mund nicht aufgekriegt, trotzig, auf dieser Liege, und ich dachte, nein, die kriegt kein Wort aus mir raus. Die nicht. Diese … ich dachte, ich kenne dich. Ich dachte, ich kenne dich länger und besser, als du mich kennen kannst. Wegen der Fotos, der Geschichten, und mein Vater hatte auch zwei Videos von dir, VHS.«
Sie wundert sich: »VH… was waren das für …?«
»Eine Geburtstagsparty«, sagt er und zuckt mit den Schultern, »und irgendwas in der Straßenbahn in … Westberlin, sagte man damals wohl noch.«
»Ah ja«, ihr Gesicht hellt sich im heiteren Wiedererkennen auf, »das war bei der Demo, vor der Demo … 1988, glaube ich …«
»Diese Zeit, ja. Und ich dachte … aber, siehst du, es stimmt eben nicht. Ich kannte dich nicht. Ich hatte so eine Privatgeschichte mit dir, Patentante, Freundin meiner Mutter, Geliebte meines Vaters, und dann die Dokumente … das war abstrakt, auch wenn es sich, weil es so sentimental war, ganz konkret angefühlt hat. Dann hier, du … wie du arbeitest, wie du ohne Klagen diese ganzen Kleinlichkeiten der Besatzer … du lässt dich nie provozieren, du hörst jeder und jedem zu, du rettest, wen und was du retten kannst, du hast alles riskiert mit deiner Rettungsaktion, gegen Masvidals Willen, und hast ihn dann doch rumgekriegt, hast erreicht, dass auch unsere Körper … die der Leute von der FIRAT … du lässt dich nie gehen, und das war erst einschüchternd, aber dann … dann dachte ich: Jetzt endlich verstehe ich, was Cordula will. Sie redet ausführlich davon, bei jeder Gelegenheit, aber es sind halt Vorträge, während du … du lebst das. Und plötzlich verstehe ich, warum es für so viele so anziehend ist, warum so viele … eigentlich alle bei meiner Mission … Cordula folgen, ihr helfen wollen. Ich wollte das nie, ich bin aus meinem Privatkram mit, aus meinem Familienroman, aber durch dich …«
Er seufzt, nicht gequält, eher erleichtert, und sie sieht ihn verwundert an und erfreut, wie man guckt, wenn ein etwas schläfriges Haustier, das man sehr mag, plötzlich anfängt, philosophisch gehaltvolle Spekulationen über den ontologischen Status der Infinitesimalrechnung zu extemporieren.
Er sagt: »Du hast die ganze Distanz vom ersten Wiesental, wo mein Vater gewohnt hat, zum zweiten, hier, zurückgelegt und willst immer noch weiter. Cordula hat mich mal im Raumanzug aus dem Schiff geschmissen, um mir zu zeigen, was das ist, weiterwollen: raus aus den Spielchen, weg von denen, die immer diese Menschenspielchen spielen, also biologische Spielchen der Spezies zuerst, dann Familienspielchen, da wird es außer biologisch dann psychologisch, als Nächstes wirtschaftliche Spielchen, dann politische, immer neue Regeln, statt die Freiheitsgrade und Spielräume auszunutzen, die weiten, die von den Gesetzen der Physik gesteckt sind, um sich zu entwickeln, allseitig, reich, frei … und du … du bist von der Erde weg wegen der Spielchen, und dann sind die nicht mehr mitgekommen, die lieber Dysoniki-Spielchen spielen wollten, die zweite Sowjetunion auf den Asteroiden, das war schon viel weiter und größer als auf der Erde alles, aber dir noch zu eng und zu klein. Du bist weitergeflogen, und dann hast du hier das größte und weiteste Spielchen erkannt, die Neptunation. Und die willst du auch noch abstreifen, aber erst verstehen, wie das Cordula eben immer sagt: das Spiel verstehen, dann drüber hinausgelangen, das Unrecht oder die unnötige Beschränkung studieren und dann überwinden. Die Spielchen der Sonnenintelligenzen, der Diff, der Dysoniki, alles noch Sonnensystem, alles noch begrenzt durch die Sphäre Neptunation … du bist eigentlich noch gar nicht losgeflogen. Du nimmst noch Anlauf.«
Er spürt, dass er mit seiner Liebeserklärung etwas in ihr anspricht, das sie lange nicht mehr genau angeschaut hat, ihre Motive, und ihr Staunen darüber, das ihr Gesichtsausdruck ihm nicht verbergen kann, macht ihn auf eine Weise glücklich, für die er keine Worte hat.
»Weiter«, sagt er, um zusammenzufassen, was er an ihr bewundert.
»Weiter«, sagt sie leise und schließt die Augen kurz, wie um das auszukosten, die Erinnerung an ihre Ziele, ihr Leben, ihren Aufbruch damals, 1989, auf einem Bahnhof in London.
Er hört sie atmen und kann den Atem riechen, ein bisschen Whisky, ein bisschen Honig, richtig, denkt er, Hot Toddy, Cordulas Lieblingsmix, und ohne darüber nachzudenken, ob das willkommen ist, ob das geht, ob er das darf, küsst er sie auf die Lippen, die so duften.
Dann sind sie weich, warm, ein sanfter Gegendruck, ein erwiderter Kuss, aber zu kurz, zu wenig, zu spät. Sie zieht den Kopf zurück, nicht heftig, nicht ruckartig, aber als er die Augen öffnet, lässt ihr Blick keine andere Deutung zu als: Nein, das geht wirklich nicht.
Er schämt sich wieder, bitterer und stechender als zuvor. Aber sie fängt das auf, voll Zuneigung: »Lieber, das wird nichts. Zu kompliziert. Ich dachte auch …«
Sie zögert sehr kurz, denkt nach, dann, noch freundlicher, wärmer: »Ich dachte, dass du schon alle Gründe kennst, warum das nicht geht. Dass du sie dir … du bist ja sehr clever, ich dachte, du bist schon dahintergekommen. Ich glaube, ich hab das gedacht, weil ich das wollte: weil’s mir ziemlich unangenehm ist, wenn ich dir was sagen muss, was ich lieber … es wäre für mich einfacher gewesen, wenn wir gar nicht drüber reden müssen, wenn’s zwischen uns einfach selbstverständlich ist. Und ich muss dir sowieso noch so viel sagen. Nicht nur Persönliches, jetzt, hier, alles das, was Taisa gemeint hat, als sie raus ist, unser nötiges Gespräch, aber jetzt müssen wir natürlich zuerst …«
Sie schüttelt den Kopf und lacht, leicht überfordert.
Da endlich fällt bei ihm der Groschen. Er sagt: »Es war nicht so, wie sie es erzählt hat. Meine … Mutter … sie … es war umgekehrt, oder? Nicht du hast ihr beigestanden, sondern sie dir, weil nicht sie … sondern …«
Alexandra muss nicht einmal nicken, er spürt ihre Zustimmung einfach, ihr Geständnis, und ist sprachlos. Sie legt ihm die Hand aufs rechte Knie, eine Geste, deren hilflose Anteilnahme ihn fast zu Tränen rührt, weil ihm ganz unmöglich ist, sie noch misszuverstehen – seine täppische Verliebtheit ist nicht einfach verschwunden, sondern wie ein Blutstropfen im Neptunmeer in etwas Riesigem aufgenommen und aufgelöst worden, ohne Widerstand, ohne Zweifel. Alexandra sagt: »Ich bin also nicht halb so mutig, wie du mich siehst. Abenteuer … immer weiter … später, ja. Nachdem ich rausgekriegt hatte, dass er mit ihr auch noch … denn der Teil stimmt, es war nur … chronologisch später. Nur, als ich schwanger wurde, da … da war ich noch so abhängig davon, seelisch, was mein Vater und meine Familie und vielleicht sogar die Gemeinde von mir denken … er wollte … sie sagten, das geht nicht, wenn das die Leute mitkriegen, dann ist die Familie Burkhard in der Kirche erledigt, und da hat er … da bin ich mit einer Klasse von älteren Kindern mit, Jugendlichen, meine ich, die … ich wäre erst im Jahr drauf dran gewesen, mit dem Schüleraustausch, aber mein Vater hatte Einfluss an der Schule, es war …«
Sie sieht zu Boden, beschämt, er legt die Hand auf ihre, um zu sagen: Niemand verurteilt dich, und es ist wirklich lange her. Sie schaut ihn wieder an: »Ich bin mitgefahren und habe mich ein Jahr in Amerika versteckt. Dann haben sie das ausgeknobelt, dass die Frau, die … rechtlich … deine Mutter wurde, sowieso schon heiraten sollte und … ja. So ist das gewesen, und dann hat Cordula dich hierhergeschickt …«
Er staunt, er schüttelt den Kopf, ungläubig, und sagt: »Also hatte es nichts mit meiner Arbeit zu tun, es war nur … es war der Familienroman, sie wollte damit irgendwie …«
Alexandra widerspricht: »Das ist nicht wahr. Das ist … sie tut nie irgendwas nur aus einem einzigen Grund oder nur aus zehn Gründen, und deine Arbeit … Andrej Sirilko und du, ohne euch konnten wir nicht mal den Versuch riskieren, die Neptunation zu befreien …«
»Befreien?«
»Tja klar.« Sie zuckt mit den Schultern. »Befreien, ich meine halt: davor zu beschützen, dass sie missbraucht wird, dass sie zur Waffe wird für irgendein idiotisches Spiel, eins dieser Spielchen, von denen du geredet hast, so ein typisches, irdisches, albernes … Spiel. Wir müssen zum Sternstein. Wir müssen … verbinden. Liz weiß was, ich weiß was, der Sternstein weiß was, das sind drei Teile der Wahrheit, die Masvidal nicht aushält. Die Oktopoden werden uns verbinden, wenn wir es nach oben schaffen … Schwerkraft. Geometrodynamik. Very tricky. Du musst dir nur merken: Die Mission ist die Verbindung. Kontakt. Mit den Tentakeln als … Kabel, wie hier die Ranken … es gäbe so viel zu erklären, zu erzählen, aber ich weiß nicht, wie viel Zeit bleibt, also lass mich’s dir wirklich einschärfen«, sie schaut ihn an, besorgt und liebevoll, als wollte sie ihm mitgeben, was ihn und die Welt zugleich retten kann, »Kabel, Connection, Funktoren zwischen Kategorien von Kategorien, zwischen höheren Topoi, Massen von Transformationen in einem Moment, einer stehenden ewigen Zeit, nunc stans, haben sie im Mittelalter gesagt, die Möglichkeitsbedingung für Ursachen und Wirkungen, das Äon, das Pleroma, der Horizont für Prometheus … Funktoren, die das Wahre leiten, die wahren Sätze, wie Kabel den Strom, wie Glasfaser das Licht … du musst uns helfen, die Verbindung herzustellen. Nur Leute wie du können so was stiften, freie Leute, weißt du, nein, das weißt du gar nicht, du und Cordula, ihr habt das gemeinsam, diese Freiheit, mir fehlt sie, weil ich …«
Zwei Schläge erschüttern den Satz, das Zimmer, den Moment, der nicht nunc stans heißt.
Die Schläge kommen von unten. Der Krach klingt, als wäre der Fußboden die Decke und ein riesiger Stier hätte zweimal mit ganzer Kraft mit den Hufen aufgestampft.
Die Mutter sieht den Sohn an und der Sohn die Mutter.
Beide wissen, ihre Zeit zum Reden ist um.