Aiguo ist gerade damit beschäftigt, einen Haufen Zwiebelfetzen für Suppennachschub in heißem Kokosöl goldbraun anschwitzen zu lassen, als Filipa mit Barrow in die Küche einfällt wie ein Spezialkommando und aus heiserer Kehle bellt: »Scotch! Wo ist hier der Scotch, wo hast du den versteckt?«
Der gemütliche Rüdiger von der EOLOMEA, der Aiguo am Herd hilft, zuckt zusammen, als Filipa ihm die Hand wie eine Bärentatze auf die rechte Schulter haut und ihm ins Ohr brüllt: »Hey und guten Abend auch, du alter Schleimer! Weißt du, wo Alexandra den Whisky versteckt hat? Ich will nämlich jetzt Hot Toddys mixen!«
Sie lässt den verängstigten Mann los und wendet sich Aiguo zu, der sie verbindlich anlächelt, als sie brüllt: »Und zwar für die ganze Party, für alle«, was Aiguo mit einem Nicken beantwortet, das wohl so viel wie »löblich, löblich« bedeuten soll. Filipa nimmt das gar nicht wahr, weil sie, leicht trudelnd, schon damit begonnen hat, von Wandhängeschrank zu Wandhängeschrank eine »Kontrolle!«, wie sie lustig ruft, in Angriff zu nehmen: Flügel aufreißen, Inhalt begutachten, Flügel wieder zuschlagen – großes Geschirr, darunter ein Römertopf, nein, falsch, mehrere Flaschen Essig und Öl, auch nicht, Mehl- und Zuckertüten, ganz verkehrt. Barrow lehnt derweil lässig am Waschbecken, was Filipa ihm erst mit einem strafenden Seitenblick, dann mit Anraunzen übelnimmt: »Hey, you lazy bastard, could you help me look?« Aiguo geht zum Suppentopf am zweiten Herd und streift dabei beinahe den Amerikaner, ohne ihn anzusehen.
Als Barrow ironisch-behaglich schmatzt und sich nach rechts dreht, wo weitere Schränke hängen, sagt Rüdiger in leicht quengelndem Ton zum ehemaligen Kapitän der PODKAYNE FRIES: »Ich hör die Musik nicht mehr richtig«, weil Filipa die Küchentür nach dem Eintreten hinter sich zugeworfen hat, »können wir die Tür wieder aufmachen? Oder gibt’s irgendeine … kann man irgendwie die Wände hier so einstellen, dass sie die Musik auch übertragen?« Aiguo lässt sich nichts anmerken, hofft er, nimmt den Kochlöffel und rührt in der Suppe, während er sagt: »Du kannst die Tür ja wieder aufmachen«, und denkt, dass er nervöse Menschen in Gefahrensituationen noch nie leiden konnte – was Rüdiger eigentlich wissen will, ist ja, ob man hier drin wohl das verabredete Signal verpasst, von dem alle FIRAT- und alle EOLOMEA-Leute wissen. Es ist ein akustisches, eins, das Alexandra, die sich um die Partybeschallung kümmert, geben wird – Aiguo war bei der Besprechung unter sechs Augen zwischen Semjon, Alexandra und ihm selbst vehement dagegen gewesen, »alle, nicht nur die persönlich Vertrauenswürdigen, nachweislich Motivierten« einzuweihen, aber Semjon und Alexandra hatten ihn überstimmt, weil dem Dysonik das Argument der Architektin von Wiesental schlüssig erschienen war, »dass sie uns dann im Weg rumstehen. Ich will dich nicht beleidigen, Aiguo, aber du hast keine militärische Ausbildung – du hast Kampferfahrung, das nun leider ja, du warst im Gefecht, als der Irre von den Asteroiden euch beschossen hat, und du hast deine Leute gut geführt. Aber Semjon und ich, wir sind militärisch ausgebildet, und wir wissen beide etwas, woran du nicht denkst: An der Front gibt’s keine Unbeteiligten. Wir müssen es allen sagen, es darf keine Frau, kein Mann auf dem Fest sein, ohne zu wissen, was verlangt ist.« Bei dieser Diskussion vor sechs Monaten war »das Fest« noch eine rein hypothetische Idee, nicht einmal der eigentliche Gegenstand dieser Besprechung, bei der man sich vielmehr über Alexandras Fortschritte bei der Nutzung der Winseck-Sirilko-Formel für die Vertiefung der klandestinen Kommunikation mit den Oktopoden unterhalten hatte, deren Kulminationspunkt im beabsichtigten Pakt zwischen den Menschen in Alexandras Partei und jenen Tieren sie als »absehbar« bezeichnet hatte – »ein paar Monate vielleicht noch, wir und sie müssen einiges rechnen, aber ich sehe keine prinzipiellen Hindernisse mehr«.
Jetzt hängt alles davon ab, denkt Aiguo, dass alle sich mehr oder weniger so verhalten, wie das der kleine Dreierrat und die verlässlichsten Kader des geplanten Aufstands, zum Beispiel Filipa, antizipiert haben.
Lieutenant Barrow aber tut das nicht – anstatt, wie Filipa wollte, mit ihr die Hängeschränke zu inspizieren, um herauszufinden, ob da schottischer Whisky zu finden ist, greift er neben sich und zieht eine Schublade auf, obwohl auch er wohl weiß, dass man Whiskyflaschen, die ja zu den seltensten und wertvollsten Gütern hier gehören, nicht in Schubladen legt.
Ein Mensch, der sich in Strategie und Taktik schlechter auskennt als Aiguo, könnte in diesem Moment auf einen panischen Gedanken verfallen wie den, der Amerikaner müsse Hellseher sein oder trage sich bereits mit einem zutreffenden Verdacht gegen die Gastgeberin. Aber Aiguo weiß, dass es zur Denkweise von konflikt- und intrigenerprobten Leuten höherer Dienstränge in hierarchischen Organisationen gehört, unberechenbar zu bleiben und auf Angebote oder Aufforderungen anderer nie ganz genau so zu reagieren, wie jene sich das vorstellen – dumm nur, dass Barrow keineswegs bloß einer Gewohnheit der Unberechenbarkeit folgt, sondern außerdem intelligent ist, weshalb er die mehrerlei Löffel und Gabeln, die er in der Schublade findet, einen Augenblick länger betrachtet, als das jemand getan hätte, der darin nur das in einer Küchenschublade Allererwartbarste hätte erkennen können.
Es ist zu spät, es ist passiert, es geht los, denkt Aiugo, als der Amerikaner kaum hörbar sagt: »Mmmmh. No knives. No knives at all. I wonder where they could have …«
Weiter kommt er nicht, denn eins der gesuchten Messer steckt jetzt in seinem Hals. Filipa hat es hinter ihrem Rücken aus ihrem Gürtel gezogen und geworfen. Rüdiger schreit auf, es klingt wie: »Iiiaaeeh!«
Der Soldat greift reflexhaft an seinen Hals, rechts, an die Austrittsstelle, wo die Spitze der Klinge ist. Offenbar spürt er links, wo die Waffe hineingestochen hat, weniger Schmerz – die Hand, ungeschickt und fahrig, fasst in die Spitze, die ihm den Handballen aufschneidet. Der Mann mit dem Messer im Hals öffnet den Mund wie ein Karpfen. Aber Aiguos Faust fährt hinein, bevor ein Geräusch herauskommen kann. Es knackt, zwei Zähne reißen aus dem Fleisch, Barrows Kopf wird gegen die weiße Kommode direkt hinter ihm gestoßen.
Ein Brett bricht. Geschirr klirrt.
Die Konditionierung, die Barrow zum Kämpfer macht, lässt die verletzte Hand nach der Schusswaffe im Gürtelholster greifen. Aber als er sie zu fassen kriegt, während seine Augen im Schädel rollen, als fahre ein Stromstoß durch ihn, trifft ihn ein Tritt von Filipa an der Hüfte, so dass er das Gleichgewicht verliert und im Sturz die heißen Pfannen mit dem freien linken Arm vom Herd reißt.
Fett spritzt Aiguo auf den rechten Arm, den Hals, die rechte Gesichtshälfte. Er schreit auf, als Barrow die Waffenhand hochreißt und zweimal in die Decke schießt, bevor Filipa auf ihn springt, ihm die bewaffnete Hand mit links zur Seite, gegen die Wand schlägt, mit der rechten Hand seine Kehle umgreift und zudrückt, so kraftvoll sie kann. Ein letzter Schuss löst sich aus der Pistole und schlägt durch Aiguos linken Oberschenkel.
Der Stratege bricht zusammen, rutscht an der Kühlschranktür zu Boden, während die Tür zwischen Foyer und Küche aufgerissen wird. Carol Bould, eine von Masvidals besten Leuten, hält ihre Waffe mit beiden Händen und schießt Rüdiger, bevor der aus seiner Schockstarre zu irgendeiner sinnvollen Handlung erwachen kann, den Hinterkopf weg, weil er der Erste ist, den sie im Raum sieht. Obwohl Barrow mit dem Tod ringt und sich aufbäumt, reißt ihm Filipa das Wurfmesser aus dem Hals und stößt sich mit beiden Beinen vom Herdsockel ab, schnellt so zur Tür und rammt dort das Messer der Angreiferin in den Bauch, während hinter ihr bereits der nächste Amerikaner eintritt, der aber mit seiner kleinen Maschinenpistole zu hoch zielt, um irgendwen zu treffen. Die Kugeln zerschmettern nur Hängeschranktüren und zerschlagen Geschirr. Aiguo hat sich an der rechten Wand mit den Muskeln des gesunden Beins wieder in die Höhe gedrückt und sein eigenes Messer gezogen, das er nach dem Schützen wirft, den er aber verfehlt und damit dessen Feuer auf sich lenkt. Eine der Kugeln trifft seine rechte Schulter, eine streift sein Kinn, eine weitere zerbricht eine Rippe und tritt, ohne lebenswichtige Organe zu treffen, durch den Rücken wieder aus. Aiguo lässt das Messer fallen. Filipa zieht ihres im weichen Bauch der sterbenden Amerikanerin nach rechts, dann hoch, nach links, reißt es heraus und schlägt derweil mit der freien Hand den Schützen Vance gegen den Brustkorb, der im selben Moment von hinten gegen den Kopf getroffen wird, weil ein Partygast aus Alexandras EOLOMEA-Mannschaft einen Zimmerpalmentopf vom Teppichboden hochgehoben und als stumpfe Schlagwaffe benutzt hat.
Filipa rammt dem Taumelnden das linke Knie in den Schritt und entwindet ihm mit zwei schmerzhaften Handgriffen die Maschinenpistole. Ein flüchtiger Blick nach rechts bestätigt, was sie schon vermutet hat: Die Deckenschüsse, die Barrow abgegeben hat, ersetzen das verabredete Musiksignal.
Überall schlagen, stechen und schneiden Aufständische die Besatzer, die sich mit Schusswaffengebrauch und Nahkampftechnik wehren, aber gegen den Mut der Verzweiflung und das Überraschungsmoment und das zahlenmäßige Verhältnis von drei zu eins von Anfang an einen schweren Stand haben, zumal die Raumsituation im Gebäude ihre erworbene Scheu vor dem Schießen in Gesellschaft der eigenen Leute aus Angst vor friendly fire verstärkt.
Filipa tritt mit der Schnellfeuerpistole aus der Küche. Nichts hält sie zurück, weder die Sorge um Aiguo, der sich um sich selbst kümmern muss, noch die Furcht um ihr Leben, hier im schlechten Licht. Seit der ersten Übungsstunde mit Meinhard Budde in der chinesischen Wüste war das, was jetzt geschieht, genau das, worauf sie sich vorbereitet hat. Ihren Frieden mit dem Töten und Sterben hat sie längst gemacht, vor Jahren. Um nicht zu viele der eigenen Leute zu treffen, schießt sie das kleine Magazin Richtung Boden leer: auf Getroffene, zu Boden Gesunkene unter den klar als feindlich Erkennbaren.
Dann benutzt sie die Waffe als Schlagwerkzeug, lässt sie auf einen Nacken, dann eine Stirn krachen. Schließlich wirft sie sie weg.
Filipa bückt sich neben dem Sofa, auf dem einer liegt, den sie mit der Pistole erschlagen hat, und zieht das kleine Feuerholzhackbeil aus dem Stiefel, das sie vor Monaten mitgenommen hat, im großen Zusammenhang der Umverteilung von Haushalts- und Küchenwerkzeugen zum Schneiden, Hacken, Stechen, die Alexandra über einen langen Zeitraum stillschweigend und geduldig organisiert hat, damit alle bewaffnet sind, die jetzt gegen die Besatzer kämpfen. Als Filipa sich wieder aufrichtet, sieht sie rechts vor sich Heike Breuer durch die Außengrenze des Foyers, wo heute die Fensterfront fehlt, zweimal Maß nehmen mit einem langen Dolch, genau wie wir’s gelernt haben, denkt sie: Ellenbogen vor, Hand gerade hoch, Blick geradeaus, dann schleudert die Technikerin die Stichwaffe einem Soldaten in den Rücken, der eben Karla Mohn, einer Pilotin der EOLOMEA, ins Gesicht geschossen hat. Der Mann fällt nach vorne, auf die Treppe, wo Alexandra, die gerade, ein Messer in jeder Hand, mit Christian Winseck von oben in den Krieg herabsteigt, mit dem rechten Fuß den Kopf des Stürzenden gegen die Wand tritt.
Aus der Küche hört sie Schüsse. Weitere Angreifer sind dort eingedrungen. Filipa hofft, dass Aiguo noch lebt. Christian, bemerkt sie jetzt, hat wie sie ein Beil in der Hand, aber das wirkt, als wäre es eine Fackel, an der er sich zu verbrennen fürchtet und die er lieber sofort als später wieder fallen lassen würde. Sie verzieht den Mund, spürt einen Luftzug rechts von sich, sieht einen Amerikaner, der eben noch am Boden hinterm Sofa mit einem jetzt toten Russen gerungen hat, sich aufrichten und schwingt ihre kleine Axt aus, stößt sie nach vorn, spaltet dem Mann die Schädelkuppe, greift mit der Linken seine Stirn und zieht Schneide und Blatt mit einem Ruck und einem Blutstoß wieder heraus.
Sie tritt den Leblosen weg und schaut zurück zur Treppe, wo Alexandra von einem unbewaffnet Rasenden attackiert wird, sich aber mit ihren Messern ohne viel Mühe wehrt, während Christian Filipa damit überrascht, dass er nicht schreiend wieder nach oben davonläuft, sondern von der Treppe in die Halle tritt, dann den linken Fuß vorstellt, sein Körpergewicht verlagert, den Oberkörper vorbeugt, den rechten Arm streckt und dann nach vorn und abwärts sausen lässt, also das Beil schleudert und damit tatsächlich eine Frau in der Halsbeuge trifft, die eben ihre Pistole auf Semjon Diduk richtet, der Heike zu Hilfe kommen wollte, die ein anderer Amerikaner angeschossen hat. Eine Kugel scheint ihren Kopf getroffen zu haben, die Wange wohl, wenn Filipa das im Halbdunkel richtig erkennt. Semjon packt den Schützen am Uniformkragen und schleudert ihn gegen die linke Flurwand, tritt nach, schlägt zu, zieht ein Messer und stößt es ihm in die Brust.
Heike wankt, wischt nach dem Mann, den Alexandra gerade mit zwei Messerstichen losgeworden ist, trifft ihn an der Schläfe, er geht in die Knie. Alex wirft sich auf ihn. Filipa klettert aufs Sofa, um einen Überblick zu gewinnen, und tritt dabei einen verletzten Besatzer von der Liege. Sie tritt abwärts nach, steigt wieder hoch, sieht, dass im Hof, bei den Tischen, der Kampf in ein Ringen, ein Sichwälzen im Gras übergegangen ist, dass dort nicht mehr geschossen wird, nur noch geschlagen, gestochen, gewürgt, und ist auf eine Art, die sie zugleich ekelt, sehr erleichtert darüber: Schüsse kann man von weitem hören, Mündungsfeuer kann man von weitem sehen, und hier ist bloß ein Sechstel der Besatzer, die andern könnten was merken, das soll nicht sein, dann fliegen sie her, dann schießen sie uns ab »like a bunch of fish in a barrel«, wie Liz sagte, als sie mit ihr die Taktik für den Aufstand durchgesprochen hat.
Damit draußen nicht doch noch ein Schuss abgefeuert wird, springt Filipa von der Couch und kämpft sich durch die Lobby zu den Tischen, um dort die eigenen von den feindlichen Kämpfenden zu trennen, die einen zu retten, die andern zu töten, nach den Regeln, die ihr Meinhard vor Jahren schon beigebracht hat: Wenn es gegen eine Übermacht geht, kannst du niemanden gefangen nehmen, niemanden verletzt liegenlassen. Jede Waffe, die irgendwer hat, der nicht mehr kämpfen kann, musst du nehmen und gebrauchen.
Die widerliche Arbeit dauert zwanzig endlose Minuten, dann endlich rührt sich niemand mehr unter den Gästen der Aufständischen. Filipa, verwundet nur am linken Handrücken und am linken Ohr, wo ein schwerer Schlag mit einem Gewehrkolben sie halb taub gemacht und eine wachsende, pochende Beule überm Unterkiefer verursacht hat, geht über Leichen und Verletzte zur Küche, wo Alexandra damit beschäftigt ist, Aiguos Wunden zu säubern und zu verbinden.
»Ich habe …«, sagt er gepresst, »ihn erschießen müssen … Barrow …«
Filipa nickt: »Ich hatte ihn schon, aber ich konnte ihn nicht … ich musste die andern angreifen, als die reinkamen, sonst hätten sie uns …«
»Nein, nein, natürlich«, sagt Aiguo, der auf dem Rücken liegt, mit blutverschmiertem und verschwitztem Gesicht, »es ist … kein Vorwurf … nur … aus nächster Nähe …« Er schließt die Augen. Sein Adamsapfel hüpft, als würge der Mann etwas viel zu Großes herunter, und Filipa begreift, dass er die Sauerei meint, das Entsetzen: Der Mann, von dem er geredet hat, und der zu den verständigsten und freundlichsten unter Masvidals Leuten gehörte, liegt neben ihm, in unnatürlicher, wie mitten durchgebrochener Körperhaltung, das obere Drittel des Kopfes fehlt, es liegt versprüht am Boden, klebt am Kühlschrank, das hat Aiguo gemeint, denkt Filipa, gegen aufkommende Übelkeit ankämpfend, das war der Sinn, aus nächster Nähe, ja. Filipa muss den Blick abwenden, um sich zu fassen. Die Tür dort ist nicht mehr da, man hat sie aus den Angeln gebrochen, sie liegt im Foyer, als Waffe benutzt, blutig wie alles hier, wie alle.
Christian Winseck erscheint im Türrahmen.
Filipa denkt: Ich bin froh, dass er noch lebt, aber wie kann das sein, wie kann der noch leben, dieser Träumer, den Alexandra nicht einmal in die Aufstandsplanung hat einweihen wollen, »ich werd’s ihm auf der Party selbst erst sagen, sonst wird er irgendeine Dummheit machen, vielleicht versuchen, uns daran zu hindern, uns irgendwie verraten« – keine falsche Einschätzung, dachte Filipa damals, vor fast einem Jahr, als diese Worte ausgesprochen wurden, denn Christian ist kein Verschwörer, kein Krieger und kein Parteimann, nur Gelehrter, Deuter, und doch steht er jetzt da und sieht ganz unverletzt aus. Er sagt mit raspelnder, überanstrengter Stimme: »Verbandszeug. Habt ihr noch mehr? Habt ihr irgendwo was, ist was versteckt?«
Filipa nickt ihm zu: »Ich helf dir, komm mit«, und führt ihn durch die Lobby, in der Leute leiden, anderen Leuten helfen oder über Tote klagen, nach draußen, ums Gebäude und zum kleinsten der Gewächshäuser, wo, wie sie erklärt, »noch einiges vergraben« ist.
Auf dem dunklen Weg liegen im schwachen Kantenlicht der Sternsteine, verstärkt von der heruntergefahrenen künstlichen Beleuchtung der Gewächshausreihe, mehrere Leichen, alle Angehörige der Besatzungskräfte: sechs Männer, drei Frauen, deren Arme und Beine teils in merkwürdigen Winkeln vom Leib abstehen.
Christian und Filipa ahnen, wie diese Entstellungen und Verstümmelungen zustande gekommen sind und wer sie den Toten zugefügt hat. In der rechten Glaswand des von der Villa her ersten Pflanzenforschungslabors steckt eins der blauweißen Zweisitzerfluggeräte, wohl von derselben Person abgeschossen, die auch die Zerschlagenen zwischen Wohnhaus und Gewächshaus umgebracht hat. Seitwärts hängt eine Leiche im Sicherheitsgurt vom Pilotensitz.
Hinter den großen Blättern im Eingang zum Gewächshaus regt sich etwas. Es raschelt. Filipa hebt ihren Waffenarm mit einer erbeuteten Pistole, legt an. Christian sagt leise: »Ich hasse das. Dieses … das Töten.« Es klingt wie eine Kleinigkeit, aber was er meint, ist, dass er heute das erste Mal überhaupt Menschen das Leben genommen hat, zweien, im Foyer und vor der Festbank, beide Male, wie er glaubt, in Notwehr, aber das macht es nicht besser für ihn.
»Ich bin’s«, sagt ein Schnarren, das Filipa sofort erkennt. Sie senkt die Waffe, und Taisa tritt aus den Schatten. Unterm rechten Arm, der seltsam verlängert wirkt, wie ein Haltbogen aus dickem Draht, hält sie einen Kasten mit Verbandszeug, unterm linken ein Bündel mit Spießen und Speeren, hier im Gewächshaus von ihr und Alexandra aus Stöcken und Messern gefertigt und dann in der weichen Erde versteckt, jetzt ausgegraben, fürs letzte Gefecht.
Filipa nimmt ihr das Waffenbündel ab, Christian das Verbandszeug. Als die drei zurück zum Haus gehen, sagt Taisa: »Ich habe gehört, was du gesagt hast. Ich verstehe dich. Es ist furchtbar, was wir tun.«
»Wenn wir uns verteidigen würden«, erwidert Christian, ohne sie anzusehen, »käme ich damit zurecht. Aber wir haben sie angegriffen. Wir haben sie eingeladen, mit uns zu feiern, und dann sind wir über sie hergefallen. Ich meine, diese Amerikaner hier haben uns …«
»Amerikaner, Mensch«, fällt ihm Filipa gereizt ins Wort, »du redest von denen immer so, als wären das Leute wie Liz oder Max, als kämen die aus dem Land, in dem du aufgewachsen bist, anstatt dass du mal kapierst: Dieses Land gibt es längst nicht mehr, dieses Land hat …«
Er will sie nicht ausreden lassen: »Das spielt doch überhaupt keine Rolle, mit was für Pässen die in ihre Raumschiffe gestiegen sind. Es sind Menschen, und wir schlachten sie ab, wie …«
»Wie sie andere abgeschlachtet haben«, sagt Taisa und bleibt plötzlich stehen, so dass auch Christian und Filipa stehen bleiben, um sie anzusehen, als sie, Christian zugewandt, schlicht erklärt: »Du warst nicht auf der FIRAT. Du warst auf diesem Mond, Triton. Dort hat sie dich gerettet. Alexandra. Du weißt nicht, wie es auf der FIRAT war. Sie haben unsere Leute getötet. Diejenigen, die gekämpft haben, diejenigen, die nicht gekämpft haben. Diejenigen, die sich ergeben wollten. Die Kinder. Fast alle. Und wie wir später erfahren haben, auf dem weißen Sternstein, war das nicht ihr erster Massenmord. Sie sind eine Nachhut, die zur Vorhut wurde – das siebte Schiff nach sechs Schiffen, die im Asteroidengürtel den Krieg gegen die Dysoniki geführt haben. Einen Vernichtungskrieg, Christian. Sie wollten nichts erobern, nichts stehlen, nur alles zerstören und ausrotten, was Baklanow und seine Nachfolger aufgebaut haben. In allen drei Zonen. Das heißt nicht, dass ich das, was hier heute passiert ist, und das, was wir noch tun müssen, rechtfertigen will als Rache. Ich kann nichts mit Rache rechtfertigen, weil ich Rache selbst nicht rechtfertigen könnte. Rache macht niemanden lebendig. Aber du hast gesagt: In Notwehr, wenn wir uns selbst retten würden, das könntest du verstehen. Dann stell dir die Frage: Wenn wir uns nicht selbst retten können – und das können wir nicht, wenige, falls überhaupt welche, von uns werden diese Nacht und den Tag morgen überleben –, aber viele, sehr viele andere, Millionen, vielleicht Milliarden, indem wir verhindern, dass die Neptunation zur Waffe wird, zu einer Waffe, über die Leute verfügen können, die einen Vernichtungskrieg führen, sollten wir dann nicht …«
»Woher willst du das denn alles wissen«, sträubt sich Christian, »was da im Asteroidengürtel …« Weiter kommt er nicht, denn vom Haus ruft eine durchdringende Stimme: »Filipa? Bist du das? Christian? Schneller, los!«
Es ist Semjon Diduk, der auf die drei zurennt und Filipas alarmierten Gesichtsausdruck ganz richtig als Frage deutet: »Wir müssen los, Filipa, keine Zeit … es klappt nicht mit der … ich weiß, Alexandra wollte warten bis kurz vor dem rosa Stern, mit dem Aufbruch, aber drüben, auf der andern Seite vom Haus, hat einer …« Er bleibt stehen, stemmt die Hände in die Hüften, atmet japsend, bis der Kreislauf stabil genug ist, dann richtet er sich auf und sagt: »Signalpistole. Einer hat eine Leucht… hhh …kugel abgefeuert, bevor Heike ihn erwischt hat. Sie wissen es. Sie wissen es auf Wiesental, und sie wissen es auf dem weißen Stern. Es gibt zwar keinen Kontakt, Funk hat Masvidal ja auch seinen eigenen Leuten verboten, aber … es wird wohl schon gekämpft, oben auf dem Stern, unser … Doppelagent und … wer auf seiner Seite ist … und hier auf der Insel … sie werden herkommen. Alexandra sagt, wir müssen sofort los. Zur Küste. Der einzige Vorteil ist, wenn sie alle hierherkommen und vielleicht zum Omphalos, sind sie nicht am Strand, wenn wir zur Bucht … aber wir … müssen uns beeilen. Ich weiß, was du sagen willst. Liz. Sie kann nicht … wir müssen sie mit einem der Kopter transportieren, dicht überm Boden. Wenn der nicht stark genug ist, wenn er die Last nicht hochkriegt, brauchen wir vielleicht zwei. Die gute Nachricht ist, wir haben sogar drei … nein«, sagt er, mit Blick auf das abgestürzte Gefährt im Gewächshaus, »vier, wie ich sehe. Aber wir müssen los. Jetzt.«
Filipa wiederholt: »Jetzt.«
Das meint sie selbst, als Ruf zur Ordnung, aber auch Christian und Taisa, denen es sagen soll, sie müssen ihren Streit verschieben, bis nach dem Krieg.
Die vier eilen zum Haus.