9 | Danach davor

Gewebe. Geflecht? Carpet. Flying Carpet? Kokon. Halboffener Kokon.

Hängematte? Something something. Wörter: Ausprobierte, verworfene, ungenügende Wörter. Names of things, some things. Something. Zeichen: ε und |ε| und … Epsilon, klein Epsilon und Omega und Nichtnull-Infinitesimale … die Diff, nicht hier, doch hier, beides, keins von beiden. Betrag. Eins durch klein Omega? Riesig. Unermesslich. Andrej?

Christian weiß sich in Sicherheit und weiß nicht, wieso er das weiß.

Sehr hell sind die Fasern, die ihn halten, auf denen er liegt wie in einem Bett, die einen Teil seines Körpers bedecken wie

Auch sein Fühlen ist noch unsortiert. Erleichterung, Scham, Verwirrung sind nicht klar voneinander abgegrenzt, nicht wortnah, trüb, aber auch beruhigend, als Selbstversicherung: Das, was ich bin, fühlt noch. Fühlt wieder. Something.

Wenn er versucht, den Kopf aus der Horizontalen in die Vertikale zu heben, soweit er das mit geschwächten Nackenmuskeln kann, sieht er von oben auf den Boden und kann schätzen, dass er auf beziehungsweise in seinem Lager etwa einen Meter höher als dieser Boden in der Luft suspendiert ist, aber wie oder woran, erkennt er nicht und will deshalb den rechten Arm herausziehen aus der Decke, dem Gespinst, dem Kokon.

Als er das versucht, zeigt sich rechts im Gesichtsfeld die freundliche Miene eines Mannes, der ihm beide Hände auf den verpackten Arm legt und sanft sagt: »Nicht anstrengen. Wenn du so weit bist, lässt sie dich einfach raus, von allein. Fällt von dir ab wie eine Schale. Dass du jetzt aufgewacht bist, bedeutet, dass es nur noch Minuten dauern kann. Sie weckt dich nicht, um dich auf die Folter zu spannen.«

»Wer, sie?«, sagt Christian, der den anderen Aiguo sofort erkannt hat, das Gesicht voller Furchen, die rote Linse im Auge.

»Die Neptunation«, antwortet der Mann.

 

Anstatt diese Antwort zur Kenntnis zu nehmen, stellt Christian eine andere Frage: »Wer bist du?«

Mit dem Menschen hier will und muss er nämlich reden, mit dem, was jener die Neptunation nennt, dagegen nicht. Die hat, begreift er, längst mit ihm geredet, im Schlaf, die hat ihm Namen (something) genommen und wiedergegeben (something something), so viele, zu viele Informationen (wie schnell ist Licht, ist es so schnell, wie ich früher dachte, hat es seine

Der Mann nickt: »Sehr gut. Das ist es, ja. Du hast hier den Knoten, wie sagt man? Du hast ihn geschürzt, mit einem Schuss, und jetzt gehst du ihm nach, deinem Strang. Ziehst ihn fester. Ich sollte nicht so mit dir reden, es ist unhöflich. Ich bin Song Jian, der mit Alexandra Burkhard Wiesental geschaffen und die klugen Kraken gezüchtet hat.«

Christian widerspricht ihm: »Du bist Aiguo Sun. Ich erkenne dich. Das Auge ist anders, das eine. Aber. Du. Du bist Aiguo Sun.«

Der Mann sieht nicht aus, als ob er das bezweifelt, aber er sagt: »Der bin ich schon lange nicht mehr. Ich habe den anderen Namen angenommen, als ich vor zweihundert Jahren hier anfing, im Sternstein. Bevor die Invasoren kamen.«

»Vor … zwei…« Christian kann es nicht wiederholen, es schmeckt sehr fremd im Mund, sehr falsch und zugleich wahr.

Song Jian, der einmal Aiguo Sun war, sagt: »Zweihundert Jahre Arbeit. Die Arbeit mit ihr, mit Alexandra, nach dem Krieg, vor dem Krieg. Ich wollte Buße tun. Es läuft auf Schuld hinaus – Ursache, Wirkung, Karma meinetwegen, obwohl ich das … nun ja. Als ich selbst noch unschuldig war, sind Unschuldige durch meine Schuld gestorben. Ich habe sie denunziert. Ich wollte sie anklagen, weil sie mich misshandelt haben. Sie hätten eine Schelte verdient gehabt«, er räuspert sich, er sieht aus, als bedaure er den ganzen Kosmos, einfach alles, und sagt: »Aber nicht den Tod. Dass ich zu dumm war, die Folgen der Ursachen zu sehen, entschuldigt mich nicht. So sehe ich die Welt, deshalb musste ich Song Jian werden. Weißt du, was

»Und …«, Christian versteht und billigt, was der Mann getan hat, »you chose a name with a special meaning for you. A name … einen Namen, der deinem jüngeren Ich etwas verraten würde.«

»Song Jian war Luft- und Raumfahrtingenieur. Aber das war nicht der Beruf, der ihn bekanntgemacht hat. Er hat die demographische … die Ein-Kind-Politik entworfen und ausformuliert, er hat die Berechnungen … er hat den Plan gemacht, der dafür verantwortlich ist, dass ich keine Geschwister habe. Und dass die jungen Männer, die ich verraten habe und die meinetwegen sterben mussten, fast alle auch keine Geschwister hatten, bis auf einen, dessen Bruder ich … besucht habe, in Beijing. Vor … sehr langer Zeit. Das war im Jahr neunzehnhundertneunundachtzig.«

»In dem Jahr, in dem meine Mutter verschwunden ist. Aufgebrochen ist. Hierher und vielleicht … eines Tages … weiter.« Son Jian sagt dazu nichts; er lässt Christian die Zeit, die der braucht, um im Gewirr seiner Erinnerungen, Ahnungen, Absichten und Wahrnehmungen die Ordnung zu stiften, die ihm erlaubt, ein Gespräch zu führen. Nicht ganz klar mit sich

Christian versteht, dass diese Frage auf irgendeine Art zu unfertig ist, dass er sich dem Wissen, das Song Jian ihm mitteilen kann, noch ein Stück weiter nähern muss, um es berühren zu dürfen. So versucht er es anders: »Barrow hat gesagt, sein Urgroßvater oder so etwas hätte im Irakkrieg Comics … also, Masvidal und seine Leute sind lange nach der FRIES gestartet, ja? Haben dann einen Krieg gegen die Dysoniki geführt. Das ist alles nach mir, sozusagen, das ist … wir sind also in deiner Zeit, lange nach meiner. Alexandra. Ja genau, Alexandra, eine Alexandra aus der Zukunft hat … hat mich und andere … andersrum: Masvidals Leute kamen aus der Zukunft, um uns … um die FIRAT …«

Er kriegt es nicht zusammen, verdreht frustriert die Augen, da zischt das Gewebe um ihn wie eine hydraulisch geöffnete Tür.

Schlitze reißen links und rechts auf, Schicht trennt sich von Schicht, und Song Jian bietet ihm den rechten Arm an, nach dem Christian greift, denn so kann er sich aufrichten, die Beine über die Liege schieben, über den Rand hängen lassen, mit den Füßen auf das Bodengeflecht treten, aufrecht sitzen.

Ein wenig schwindelt’s ihn. Song Jian gibt ihm Zeit, sich dran zu gewöhnen. Dann lässt Christian den stützenden Arm los, atmet auf und sieht sich im Raum um, als hinge die richtige Frage, die er nur nachsprechen muss, irgendwo an einer dieser Wände, die so hell sind wie Boden, Decke, Quasibett, so hell, dass er fast ihre Grenzen nicht erkennen kann, als befände er sich eher in Licht als in etwas aus Materie. Aber da hängt kein Satz, kein Spruch, steht nichts geschrieben, anders als bei seiner Mutter, nein, Pflegemutter, die diese gestickten Bibelverse in Rahmen als Wandschmuck hatte, wie all die andern Christen im Städtchen. Das Suchen mit den Augen überfordert seinen visuellen Verstand so sehr, dass er plötzlich, an

Diesmal aber fließen sie zu einem einzigen, senkrecht linsenförmigen Ei mit Spitzen zusammen, einem Katzenauge, schillern und reißen dann in der Mitte auf, anderthalb Meter breit, oben und unten geschlitzt, kräuselnd blau, nein, das ist gar kein Schwindelfleck, da öffnet sich tatsächlich die Wand.

So etwas hat man hier als Tür: Alexandra tritt ein, nickt ihm und Song zu, lächelnd, in Stiefeln, die er kennt, und einer der schwarzen Uniformen von Masvidals Leuten, die an den Armen etwas zu kurz aussieht, also wohl nicht für sie maßgeschneidert wurde. Ein Beutestück, denkt Christian und steht auf, um ihr irgendetwas aus Protest gegen das alles zu sagen, gegen die Räume aus Licht, den Krieg, sein ganzes Leben, an dem sie ja gewissermaßen schuld ist. Er merkt nicht, wie Song Jian ihn dabei stützt, er merkt nicht, dass er selbst weint, er sieht nur, dass ihr Blick ihn liebt und dass er dagegen kein Widerwort weiß.

Dann umarmen sie einander, bis er wieder aufhören kann zu weinen, bis er endlich atmet, der Neugeborene. Als er den Kopf von ihrer Schulter nimmt, als ihre Locken seine Wange streifen, ist er glücklich auf eine Art, die er nicht beschreiben könnte, und dass sie, wie er nun sieht, als sie ihn direkt anschaut, auch Tränen in den Augen hat, ersetzt jedes Wort, das beide jetzt nicht sagen können und wohl nie.

Stattdessen sagt Alexandra: »Was plaudert ihr, du und der alte Lügner?«

Sie lösen sich voneinander, Christian sagt: »Lügner … ich kann’s nicht beurteilen, ob er lügt, aber ich glaube, das größere Problem ist, dass ich Auskünfte von ihm verlange, nach denen ich nicht mal ordentlich fragen kann. Dass ich nicht weiß, was ich wissen will.«

Sie legt ihm den linken Arm um die Schulter, dann fordert sie

Christian versteht, dass sie ihm sagen will: Du hattest keine Wahl, nicht zu tun, was dich für den Rest deines Lebens quälen wird. Er weiß nicht, ob das stimmt. Song Jian sagt: »Er hat sich gefragt – und mich –, in welcher Zeit er lebt. Gestern, heute oder morgen.«

Alexandra steht auf, hält Christian ihre Linke hin, eine klare Aufforderung mitzukommen. Er fragt: »Wohin … wohin gehen wir?«

»Zum Schiff. Zur FIRAT. Du kannst hier nicht bleiben, die andern auch nicht, nur Song Jian und ich … für uns … hat sie Verwendung, für uns … interessiert sie sich. Wir können ihr helfen, ihr Experiment fortzusetzen. Im Moment ist sie auf einer Stufe, auf der sie verschiedene Arten von Bewusstsein studiert – das der Tintenfische, der Menschen, früher der Diff, noch früher der Leute auf der Sonne. Das ist das, was die Sonne, die Diff und wir so erleben, als nähme sie Anteil an unseren Kämpfen, als mischte sie sich mal ein oder nicht – beides ist eine falsche Sicht, zu eng für sie, während sie für uns nicht eng scheint, da sie den ganzen Horizont macht, den wir erkennen und denken können. Den lokalen. Ich habe mir abgewöhnt, in diesen Zeiten zu denken, die du auf die Reihe kriegen willst,

 

Christian nimmt ihre Hand nicht an, sondern schaut auf den Gang hinter dem noch immer geöffneten Türschlitz, einen langen Korridor wie aus Gaze. Er sieht ein paar weitere Türen derselben Sorte dort, durch die Ahnungen von mehr Räumen verschwommen erkennbar sind, ein ausgedehntes System, ein ganzes Hochhaus wie aus Reispapier.

Song Jian sagt zu Alexandra: »Ich weiß nicht, ob ihm das

Alexandra schaut verwundert von Christian zu Song und wieder zu Christian, der verlegen zustimmt: »Ehrlich gesagt, er hat recht.«

Sie streckt ihm wieder die Hand hin und sagt: »Gut. Komm mit. Sie ist nicht lang, wenn auch nicht einfach, diese Geschichte. Aber die Zeit unterwegs zum Schiff müsste reichen dafür.« Christian nimmt die Hand an, lässt sich noch einmal aufhelfen, dann von Alexandra aus dem Raum führen, und Song Jian folgt ihnen schweigend, respektvoll, höflich wie stets.