Alexandra Burkhard heißt für fast alle »Alex«.
Ihr Freund Jochen nennt sie »Luzi«, aus Gründen, die nur sie beide was angehen.
Alex wird übermorgen zwanzig Jahre alt und kann gar nicht mehr darauf warten. Geburtstag, sagen alle Nerven, auch der Sonnenstrahl, der ihre Nase kitzelt, das strahlende Licht in den obersten Fenstern unterm Dach über den Gleisen, als Alex, die nicht mehr lange Luzi sein wird, sich aus ihrer Lederjacke mit den siebzehn Ansteckern und den drei Aufnähern (die nicht aufgenäht sind, sondern mit Nieten fixiert, Nähen ist für Brave) herausarbeitet. Sie streckt die Arme nach beiden Seiten, gähnt lange und sieht sich dann um.
Alle schlafen noch, auf ihren Isomatten, zwischen ihren Backpacks, in ihren Schlafsäcken.
Ein Offizieller hat ihnen gestern Abend erlaubt, hier zu übernachten, irgend so ein Typ von der königlichen Eisenbahn, die in ganz England (oder nur unterhalb Schottlands? Ganz genau hat Alex das nicht verstanden, ihr Englisch reicht dafür nicht) bestreikt wird.
Der Typ hat sich von Jochen erklären lassen, dass das Budget junger Interrailtouristen so knapp kalkuliert ist, dass sie sich’s einfach nicht leisten können, wegen »this strike stuff« eine zusätzliche Übernachtung in London zu finanzieren.
Alex zieht einen angebissenen Nuts-Riegel aus der Brusttasche des rotschwarzen Holzfällerhemds, das Jochen ihr, wie er sagt, »für alle Ewigkeit geliehen« hat.
Sie krumpelt den Schokofettklumpen aus dem Papier, steckt ihn sich komplett in den Mund, steht auf und fängt an zu kauen. Sie schüttelt ihren Kopf, den »Läusekopf«, wie ihr trauriger Vater sagt, der sie früher auf ein Podest gestellt und angebetet hat, als sie seinem religiösen Blödsinn noch gehorchen konnte.
Damals, etwa bis zum sechzehnten Lebensjahr, bevor sie sich in Jochen verliebt hat, war jede ihrer Mädchenfrisuren für den Vater »also wie ein Filmstar«, jede Bastelarbeit zu Weihnachten »ein echtes Kunstwerk« und jede gute Schulnote ein Nobelpreis.
Seit Jochen ihr Freund ist, heißt es daheim: »Sitz nicht so, das gibt einen Haltungsschaden«, »Schmatz nicht«, »Verdreh nicht die Augen«.
Diese Sprüche stellt sie sich inzwischen nur noch vor, solche Szenen erlebt sie nicht mehr. Seit dem Abi wohnt sie nämlich bei Jochen in der riesigen Villa auf dem Hügel, als indirekter Gast seiner Eltern, die sie nie sehen muss, so groß ist das Haus.
Dass Jochens Geld, von dem er mit ihr lebt, wirklich sein Geld ist, dass er es nicht bei den Eltern erbetteln muss, versteht sie nicht ganz, auch wenn er ihr das alles, von wegen Volljährigkeit und Testament des Großvaters und »Teilbesitz am Grundstück, inklusive des Teils vom Haus, wo wir hausen, Luzi«, ungefähr dreihundertmal erklärt hat.
Der Bewunderung ihres Vaters ist sie entwachsen. Jochens Liebe und die Anerkennung der interessanten Leute, die er ihr vorgestellt hat, sind ein mehr als ausreichender Ersatz dafür.
Wie neu das ist, dieses Leben, wie nah, wie groß und gefährlich, weiß Jochen nicht.
Denn er selbst kennt die interessanten Leute, die er ihr vorgestellt hat, nicht halb so gut, wie Alex sie inzwischen kennt. Alex schüttelt ihre lange blonde Lockenmähne, die letzten Traumläuse müssen raus. Sie will wach sein für ihren selbstgewählten Geburtstag.
Jochen hat ihr ab und zu vorgeschlagen, sie solle sich diese Haare abschneiden. Wahrscheinlich hat er das bei seinen interessanten Leuten gesehen. Da gibt’s Frauen mit sehr kurzen Frisuren, die Chefin zum Beispiel.
Aber als Alex das der Chefin erzählt hat – »Ich glaube, mein Freund steht auf deine Frisur und will, dass ich auch so eine habe« –, war die Chefin entrüstet: »Der soll sich mal am Sack rasieren. Bist du irre, dass du dir das anhörst? Wenn ich solche Locken hätte, ich würde sie mit meinem Leben verteidigen!«
So redet diese Frau, so reden diese interessanten Leute alle: geradeaus, lustig, aber irgendwie auch immer ernst. Deshalb ist das Lob dieser Leute Alex so viel wert und erst recht das Angebot der Wiedergeburt – in den Worten der Chefin: »Wir brauchen für das Ding junge Leute. Intelligent, sportlich, zäh. Leute wie dich. Nimm’s mir nicht übel, aber deinen Jochen würden wir nicht nehmen.«
Das hat ihr die Chefin in der langen Nacht am See verraten, als Jochen so unglaublich besoffen war, beim Grillen. Da hatte Alex der Chefin gerade die ganze Geschichte erzählt: das Jahr in Amerika, der Skandal, das Verbot bei Familie Burkhard: »Den siehst du nicht mehr, bis du achtzehn bist!«, dann der Bruch mit der Familie, schwerste Zeit, der Bruch auch mit der Kirche, die für Jochen zwar eh immer nur »die Scheißsekte von deinem Vater« gewesen war, für Alex aber doch eine Art Heimat.
Nach dem Riesenlebensgeständnis sagte die faszinierende Frau mit den weißen Haaren: »Ich weiß gar nicht, womit ich die Ehre verdient habe, dass du mir das alles anvertraust.«
Alex erwiderte: »Es ist mein ganzes Leben, meine Vergangenheit, und jetzt komme ich da raus und hab eine Zukunft, und ich nehme an … meine Zukunft stelle ich mir so vor, dass ich irgendwie so werde wie du und deine Leute, weißt du?«
»Du meinst … finanziert von fremden Mächten und Spenden von reichen Müßiggängern wie deinem Jochen, dem eigentlich nur langweilig ist?«
Stefan Burkhards älteste Tochter sagte: »Diese ganze lahme Welt da«, eine vage Geste den Berg runter, »dieses blöde … dieses, ich weiß nicht, diese Normalen alle. Zur Schule gehen, Arbeit, heiraten. So seid ihr nicht, du und eure Verrückten, ihr wollt …«
»Wir wollen Leute wie dich«, sagte die Frau, und: »Lass mich dein Vertrauen belohnen, Lu…«, aber Alex winkte ab: »Nicht Luzi, bitte. Ihm lass ich das durchgehen, und vor drei Jahren … vor der ganzen Scheiße, vor Amerika, war ich sogar stolz drauf und hab auf meine Schulhefte vorne ›Luzi Burkhard‹ geschrieben. Da war ich noch ein Hühnchen. Da wollte ich noch sein, was andere aus mir machen. Luzi, das war Jochen, und Burkhard, das war mein Vater, denen wollte ich gefallen … ich hatte meinen Vater da noch gern. Das war, bevor er mich so hängengelassen hat.«
Die Frau sagte: »Und Jochen? Hat der dich auch hängenlassen? Wegen der Sache mit Amerika? Wegen …«
Alex nickte: »Ja, sehr. Ganz anders als mein Vater natürlich – mein Vater ist aggressiv geworden, und wenn ihm und dem Vater von dem Mädchen drüben und … wenn diese … Lösung nicht gefunden worden wäre, diese … doofe Lösung, dann wäre Jochen jetzt ja … also, der Hass von meinem Vater, das Hängenlassen, das kam aus Angst und Wut und von seinem Glaubenskram. Bei Jochen … der lässt die Leute ohne böse Absicht, ohne Angst und Wut hängen. Ich glaube, bei Jochen ist es das Geld und dass er nie ein Problem von innen gesehen hat. Der kriegt das einfach nicht mit, wenn andere Leute mit den Fingernägeln am Abgrund hängen. Der kann sich Sorgen nicht mal vorstellen. Der hört Platten und geht auf Konzerte und hängt mit Leuten wie euch rum und findet das alles geil und interessant, aber der blickt nicht … na ja.«
Sie zuckte mit den Schultern.
Die Frau sagte: »Okay, wie willst du heißen?«
»Alex, nehme ich an. Wie früher. Wie das Lied von den Hosen.«
»In Ordnung. Alex. Wie ich schon sagte: Ich will dein Vertrauen belohnen. Und zwar, indem ich es erwidere. Du hast mir eine Wahnsinnsgeschichte erzählt, eine Geschichte, die viele deiner Freunde, viele von Jochens Freunden nicht wissen oder ahnen. Ein großes Geheimnis aus deinem Leben. Und jetzt erzähle ich dir dafür ein großes Geheimnis aus meinem Leben. Zum Schluss kommt … ein Angebot, ja?«
Alex nickte nur, scheu und furchtbar neugierig, bereit, in dieses Geheimnis der tollen fremden Frau zu springen, vom Dreimeterbrett.
Heute wird sie das tun.
Der Zeitpunkt stimmt. Sie hat die Telefonnummer im Kopf. Wie hat’s die Frau gesagt, ein halbes Jahr nach dem See, ein halbes Jahr der Nachfragen, Beweise, unglaublichen Eröffnungen und Enthüllungen nur für Alex, nicht für Jochen?
»An jedem Ort der Welt. Es dauert nirgends länger als ein paar Stunden, einen halben Tag, dann sind wir da und holen dich ab. Dann geht es los. Wenn du vor dem Stichtag anrufst, bist du dabei. Wenn nicht, dann nicht.«
Jochen schläft tief.
Alex geht zu ihm, in die Hocke, streicht seine weißgefärbte Strähne aus der Stirn und unter die Kapuze seiner Kutte, so, fein reinstecken.
Er öffnet die Augen nicht, sondern schnaubt nur ganz leise, wie ein winziges Pferd. Sie lacht in sich hinein, dann steht sie wieder auf und denkt: Geburtstag ist ab jetzt.
Ich kann neugeboren werden, wann ich will.
Das Verrückte ist, sie will es genau heute, sie will es jetzt, zwei Tage vor ihrem wirklichen, biologischen Geburtstag. Alex geht zurück zu ihrer Matte, direkt an der Frontschaufensterscheibe des Blumenladens, und holt ihren Walkman aus dem Rucksack.
Sie darf nicht warten, bis Jochen aufwacht, sonst erzählt sie ihm das doch noch alles und überlegt sich’s vielleicht anders. Sie zieht die Jacke an, überprüft noch mal den kleinen Kassettenapparat, einen zwei Jahre alten WM-11 von Sony, Stereo, mit Stickern beklebt, ziemlich robust: Er hat die Reise überlebt, vielleicht hält er sogar das neue Leben aus.
Der Typ von der Eisenbahn hat nicht gelogen, sieht sie, als sie auf den Bahnsteig geht: Da sind Schaffner, Personal, auch schon Passagiere. Es geht weiter.
Sie schaut auf ihre Armbanduhr, es ist halb neun Uhr morgens, der Warnstreik ist vorüber, der normale Fahrbetrieb wird wiederaufgenommen. Obwohl die Sonne scheint, ist Alex kalt auf den Wangen, an den Händen, gut kalt, frisch kalt, bestens.
Sie setzt die Kopfhörer auf und steckt den Walkman in die Innentasche der schweren Jacke, lässt die Hand aber an der Schalterleiste, so dass sie ein bisschen aussieht wie Napoleon, Hand in der Jacke. Aber Napoleon steht dabei immer still, auf Gemälden, während Alex sich jetzt beeilt, in letzter Sekunde – der Schaffner hebt schon die Kelle – den Zug zu erwischen, ohne dass sie wüsste, wo der hinfährt.
Ein Mann mit Aktenkoffer in der Linken will gerade schon die Tür am letzten Abteil zuziehen, da winkt sie ihm. Er hält ihr die Tür auf und lässt sie vorbei. Sie eilt den Gang runter, als der Zug langsam anfährt, und findet einen freien Sitz, am Fenster, dessen oberstes Segment gekippt ist – etwas Fahrtwind, ideal.
Sie drückt die PLAY-Taste.
Alex hat die Kassette gestern Abend, beim Besäufnis, extra so hingespult, dass sofort ihr Lieblingsmusikstück auf der ganzen Welt anfängt.
Gitarrensaiten wie eine Vorhangtür aus Metallperlen an Schnüren, die jemand mit einer sehr schlanken Hand beiseitestreicht, dann der Beat mit dem stetigen gedämpften Pochen, dann die hohen, farbigen Pfeifschatten, die über das Gesicht der Musik fallen, bevor es die Augen aufmacht, einzelne Noten, pling, pling, und endlich die majestätische erste schwappende Meereswelle des Wall of Sound, der unendlich verfusselten elektrischen Gitarren.
Und die Stimme:
Falling outta sleep I hit the floor
I pull on some rock tee and I’m out with the door
Geburtstag, ja: falling outta sleep.
Alex weiß, worauf sie sich einlässt: Abschied, Freiheit.
Sie weiß, wie strapaziös das wird.
Die Frau hat ihr nichts verheimlicht und nichts schöngeredet, nicht bei den medizinischen Tests, nicht bei der physischen Überprüfung. Alex wird sich einer Strahlenbelastung aussetzen, als würde sie alle fünf bis sechs Tage voll durchgeröntgt, von den harten kosmischen Teilchenschauern getrennt teils durch dreißig Zentimeter dicke Aluminiumplatten, teils durch Wände mit Wasser drin. Sie wird angeschnallt schlafen. Sie wird in einem kleinen Quartier leben, jahrelang, nicht immer bei Bewusstsein, teilweise mit verlangsamtem Stoffwechsel, in einer Art Koma. Sie wird, bevor man sie in dieses Koma versetzt, während der ersten Wochen an Bord, oft kotzen, und sie wird aufpassen müssen, dass sie daran nicht stirbt.
Sie wird diese Erde – diese kleinen englischen Häuschen da draußen, diesen Himmel, diese Bäume, diese Menschen, Jochen hinten im Bahnhof, ihre Familie, ihre einzige echte Freundin im Leben, das Mädchen in Amerika – nie wiedersehen. Aber so eingeschlossen sie über lange Zeit sein wird, im Schönsten und Mutigsten, was Menschen je gebaut haben, so wenig sie da rauskönnen wird, so frei wird sie dabei sein von diesem ganzen engen Mist hier unten, von diesen Leuten mit ihren Ängsten, ihrer Wut, ihrer Dummheit und Bosheit und Hilflosigkeit.
So frei wie niemand nie, kein Mensch, den sie je kannte.
Deshalb wird sie’s tun: an der nächsten Haltestelle, wo immer die ist, aus diesem Zug steigen, wahrscheinlich noch im Stadtgebiet von London, und sich eine Telefonzelle suchen, in der vielleicht auch diese ganzen Karten mit Telefonnummern von Prostituierten und albernen Sexbildchen drauf stecken, und dann wird sie ihre vorausschauend für genau diesen Zweck in die sichere Reißverschlusstasche rechts an der Lederjacke gesteckte Pfundmünze da rausholen, in den Apparat werfen, aus dem Kopf die Nummer wählen, und wenn jemand abnimmt, wird sie sagen, was die Frau ihr beigebracht hat, und dann warten.
Warten auf diejenigen, die sie abholen und dahin bringen, wo der Start vorbereitet wird.
Nach Osten.
Die Stimme singt:
It’s an anthem in a vacuum on a hyperstation
Daydreaming days in a daydream nation
Alex bewegt die Lippen dazu.
Sie singt tonlos mit.
Ihr Mund schmeckt noch nach süßer Schokolade.
Es ist, als wäre der Zug schon kein Zug mehr, sondern ein Raumschiff.