7 | Ins Licht (2017)

Das Licht liest seit dem Spätsommer 1948 die unterschiedlichsten Menschen. Alte, junge, aus allen Ethnien, allen Religionen, aus sämtlichen Liebes- und Lebensweisen und Berufen, aus allen Menschenmengen, die sich bilden lassen.

Nicht alle, die das Licht liest, sind ihm dafür dankbar. Zwar lernen Menschen, die das Licht liest, ohne Ausnahme etwas Wichtiges dabei. Einige erkennen, dass sie sich zu Unrecht für männlich, weiblich, weiß, schwarz, mathematisch unbegabt oder sensibel gehalten haben und in Wirklichkeit in mancher Hinsicht einfacher, in anderer komplizierter sind, als ihr bisheriges Selbstbild wusste. Solche Einsichten können kränken und verwirren. Andere, die das Licht liest, haben noch weniger Grund, dem Licht zu danken, denn es schädigt sie an Leib oder Seele oder beidem.

Manche ruiniert es, einige tötet es. Die bösen Wirkungen, die das Licht haben kann, beschränken sich nicht auf die Menschen, die es liest.

 

Die siebzehnjährige Schülerin Filipa Scholz hat durch das Licht die Großmutter verloren. Dieser Verlust wirft sie aus ihrer Ruhe. Denn Marianna Scholz, die Großmutter, war Filipas einzige Vertraute.

Ihren Vater kennt Filipa kaum. Ihren Großvater, den schon ihre Mutter nie gesehen hat, kann sie sich nur vorstellen, es gibt keine Fotos. Filipas Mutter ist eine Frau ohne Grundsätze, ohne Autorität bei Filipa, voller Ressentiment.

Von ihrer Oma Marianne hat Filipa große Neugier auf Kunst und Wissenschaft, aber auch das Selbstbewusstsein und das Verantwortungsgefühl, die Disziplin beim Lernen und die Abneigung gegen Zwang und Gewalt geerbt, vor allem aber die Bereitschaft, jedes Risiko einzugehen, um Neues zu erleben.

Marianne Scholz hatte sich einer Gruppe von Leuten angeschlossen, die sich in besondere Maschinen legten, um vom Licht gelesen zu werden.

Zu dieser Gruppe gehörte unter anderem eine Aushilfsbuchhändlerin namens Vera Ulitz, die Mathematik studiert, aber

Die Maschinen, in denen das Licht diese Menschen lesen konnte, tasteten ihre Hirne in kraniokaudaler Richtung ab; das Licht las sie dabei in Schichten, wie man einen Text in Zeilen liest, und beschriftete sie dann in Wellen mit anderem Text, dessen Bedeutungsmaßgaben die Amplituden, Frequenzen und Phasen jener Wellen waren.

Martine Born erfuhr dabei Erschreckendes darüber, wer sie wirklich war. Marianne erfuhr dabei Beglückendes darüber, wer sie sein konnte. Vera erfuhr Faszinierendes darüber, wie die Welt funktioniert. Und Bernhard Jensen erfuhr Überwältigendes über andere Menschen – vor allem, aber nicht nur, über diejenigen in der Gruppe, die sich gemeinsam mit ihm in die Maschinen gelegt hatten. Als das Licht ihn wieder losließ, wusste er über jene anderen mehr, als sie selbst über sich wussten. Filipas Großmutter starb nach der Berührung mit dem Licht in der Maschine. Das lag weder an der Technik noch am Licht, sondern an der geringen Widerstandskraft des mehr als siebzig Jahre alten Körpers.

Martine Born hatte gegenüber Filipa, die nichts von den Maschinen und nichts vom Licht wusste, ein schlechtes Gewissen, weil Marianne gestorben war.

Martine war vom Licht schon Jahre früher gelesen worden und hatte danach die anderen dazu bewegt, es auszuprobieren. Sie fühlte sich für Filipas Verlust verantwortlich und nahm Vera und Bernhard das Versprechen ab, dass sie sich um Filipa kümmern würden.

Martine stellte die Mitschülerin den beiden Erwachsenen vor. Zu dritt erklärten sie Filipa gerade so viel, wie man ihr verraten konnte, ohne sie in Gefahr zu bringen.

Gemeinsame Talente und Interessen boten dafür beste Voraussetzungen: Filipa war, wie die Ältere, außergewöhnlich begabt in den mathematischen und naturwissenschaftlichen Fächern. Sie besuchten zusammen Museen und Sternwarten. Vera lieh Filipa Bücher.

Bald darauf starb Martine an einer schlimmen Krankheit, an der sie bereits erkrankt gewesen war, als das Licht, das ihr in dieser Sache nicht helfen konnte, sie das erste Mal gelesen hatte.

Am Bett, in dem sie starb, nahm sie Vera noch einmal das Versprechen ab, jene werde Filipa nicht im Stich lassen: »Sie soll so was sein wie dein … wie heißt das? Mündel?«

Vera fand den Ausdruck kurios.

Die Aufgabe aber nahm sie an.

 

Drei Wochen nach Tines Tod lädt Vera die tief betrübte Filipa und den netten Bernhard zu sich in die Wohnung ein.

Es gibt Pizza, Wasser, Säfte – keinen Wein, den Vera sonst zu Pizza so gern trinkt, denn: »Das Kind ist siebzehn. Mein Mündel«, wie sie zu Bernhard sagt. Der schüttelt den Kopf: »Dieses Kind ist erwachsener, als du denkst.«

Die junge Frau, die er meint, lässt sich nach dem Essen alles vom Licht und von Marianne, Tine und deren Sterben erzählen, was Bernhard und Vera darüber wissen.

Sie stellt keine Zwischenfragen.

Danach sagt sie schlicht: »Du spinnst komplett, Vera. Und du auch, Bernhard.«

Sie guckt ernst, mit großen Pupillen, es ist nicht sehr hell in Veras Wohnzimmer. Die Mathematikerin hat Kerzen angezündet.

Bernhard sagt: »Ich kann dir noch mehr erzählen. Ich kann dir was erzählen, was ich nur dann wissen kann, wenn das stimmt, was wir sagen.«

Er tut’s. Es geht um ein Gespräch, das Marianne und Filipa in einem Garten geführt haben, am Tag vor Mariannes Tod. Bernhard weiß jedes Detail, direkt aus Mariannes Kopf.

Filipa sagt, weil sie hochintelligent ist, erst drei Minuten lang gar nichts. Dann schließt sie die Augen und gibt leise zu: »Das ist alles wahr.«

Sie öffnet die Augen wieder und setzt hinzu: »Es kann zwar sein … sie hat es dir erzählt. Aber erstens erzählt man nichts, was man erlebt hat, einem Fremden so genau, und zweitens muss ich alles, was ich mit ihr je erlebt habe, in Frage stellen, wenn ich glauben soll, dass sie dir so was Persönliches einfach so erzählt. Nächste Möglichkeit … es kann sein, dass ihr Beknackten irgendeine unfassbar lückenlose Überwachungs…maschine habt. Aber das ist noch unglaublicher als das mit dem Licht und der Insel. Jedenfalls für mich.«

Sie sagt damit nicht direkt, dass sie an die Existenz des Lichtes glaubt. Aber sie sagt, dass sie anfangen will, darüber nachzudenken, ob sie daran glauben kann.

Mehr verlangen weder Vera noch Bernhard von ihr.

 

Eine Woche später hat sie bereits lange genug darüber nachgedacht, um die ganze Frage für sich auf dieselbe Art zu entscheiden, auf die schon ihre Großmutter, der sie so sehr ähnelt, eine ähnliche Frage entschieden hat: »Ich kann das nur selber rausfinden. Ich will in so eine Maschine.«

Vera sagt, das sei viel zu gefährlich.

Filipa sagt, dann wolle sie weder mit Bernhard noch mit Vera je wieder irgendetwas zu tun haben. Vera ärgert sich, dass sie weich genug ist, darauf zu erwidern: »Ich muss das mit Bernhard besprechen. Und mit anderen, die das Licht gelesen hat.«

Vera, Bernhard und die anderen besprechen die Sache mit der Person, die solche Entscheidungen treffen darf, der Chefin. Vera selbst ist strikt dagegen: »Habt ihr eigentlich schon vergessen,

»Aber das ist es halt, andererseits«, erwidert Bernhard. »Filipa interessiert sich ja schon fürs Universum. Wie verrückt.«

Vera sagt: »Und du meinst, verrückt mal verrückt gibt gesund?«

Die Chefin, die während des kleinen Gezänks geschwiegen hat, um sich anzuhören, was die beiden Menschen, die ihr unbedingte Loyalität entgegenbringen, von der Sache halten, räuspert sich. Den Namen dieser Frau kennen beide, sprechen ihn aber selten aus und gebrauchen lieber die Pseudonyme, die diese Frau sich selbst so gern anheftet, von »Kid Korona« bis »Frau Delta Tau«.

Jetzt sagt die Chefin: »Wir haben, wie ihr wisst, am Anfang ab und zu versucht, Leute zum Licht zu bringen, die nicht hinwollten. Schwerer Fehler. Aber wir haben noch nie eine Person abgewiesen, die hinwollte.«

Es wird beschlossen und geschieht.

Das Licht liest Filipa.