Der Start war erfolgreich.

Aiguo Sun hat ein paar Leuten die Schultern abklopfen dürfen und dabei still die bewundernden Blicke der Kolleginnen und Kollegen genossen. Danach hat er sich aus der Kommandozentrale in sein Containerbüro an der Südseite der Juiquan-Anlage zurückgezogen, um Tee zu trinken und das Eintreffen des russischen Wohltäters zu erwarten.

Weil er die Nachkontrolle des Starts entgegen seiner Gewohnheit anderen überlassen hat, bleibt ihm etwas Zeit, seinen Klienten von Motorola anzurufen und den ein bisschen einzuseifen. Die Partei erwartet dergleichen von Leuten in Aiguos Position.

Der Japaner ziert sich am Telefon: »Uns missfällt einfach die Frachtgutobergrenze, dreitausendneunhundert Kilogramm …«

»Dreitausendachthundertfünfzig«, berichtigt ihn Aiguo.

Der Japaner ignoriert das: »Wir hätten uns gewünscht, dass die Volksrepublik neue Raketen baut, bessere. Sie müssen gar nicht unbedingt mehr Fracht stemmen können, aber das alles ist doch schon fast zwanzig Jahre alt …«

Aiguo unterbricht: »Der Auftrag, ja, das ist zwanzig Jahre her, aber wir haben mit der CZ-2C zwischen 1979 und 1999 siebenmal Ihre Iridiumsatelliten in erdnahe Umlaufbahnen geschossen, vierzehn Stück, und es gab für Sie nie den geringsten Anlass zu Beschwerden.«

»Es gibt keinen Grund, so defensiv zu werden«, höhnt der Japaner, und so geht es noch einige Minuten hin und her, bis schließlich das grüne Lämpchen auf Aiguos Schreibtisch leuchtet und er sich knapp, aber höflich verabschiedet.

Kaum ist Aiguo aufgestanden und zur Tür gegangen, um gleich öffnen zu können, klopft der Russe auch schon an.

 

Als Aiguo die Tür öffnet, erkennt er den Russen dennoch sofort, auch wenn nun gar keins der weißen Haare mehr zu sehen ist, die als dünner Rest über der Stirn und auf der Schädelkappe des Russen jedem Frisierversuch widerstanden hatten.

»Genosse Samulin«, sagt Sun und umarmt den Greis, der mit den Worten »Genosse Sun« die Umarmung erwidert. Beide meinen das ernster, als dieser Gruß, Genosse, in der Geschichte oft gemeint war. Der Ältere übergibt dem Jüngeren einen Laptop, den dieser auf dem massiven Schreibtisch abstellt, öffnet und hochfährt, während der Russe auf einem von zwei nebeneinandergestellten Bürosesseln vor diesem Schreibtisch Platz nimmt.

Das Gerät ist dazu da, einen fixen Datenbestand genau einmal in Gestalt von animierten Graphiken und Textdateien einsehbar zu machen, dann frisst ein eingebautes Virus das Programm und eine Hardwareselbstzerstörung auf Säurebasis macht den Rechner unbrauchbar. Der Chinese will die betreffenden Bilder seit Jahren sehen, die Texte seit Jahren lesen, im Auftrag seiner Partei, die den Russen als Diplomaten, der angeblich für die Schweiz arbeitet, nicht nur unbehelligt lässt, sondern ihm sogar mit allerlei Sonderrechten und Vergünstigungen jeden Aufenthalt in der Volksrepublik so angenehm wie möglich macht.

Er dient einer Politik, die kein Staat trägt; nicht mehr, noch nicht.

Die beiden Männer müssen nicht viel besprechen.

Aiguo Sun weiß, dass er einen zehnstelligen Code ins Eingabefeld schreiben muss, um die Ordner zu öffnen, und tut das schweigend.

Dann wendet er sich Samulin zu und fragt: »Tee?«

»Sehr gerne«, bedankt sich der Russe. Der Chinese schenkt

»Das ist sie?«, fragt Aiguo, als er die Schemaprojektion des schönsten technischen Kunstwerks, das Menschen je gebaut haben, weiß auf blau vor sich sieht.

»Sogar diese Trommeln hier hinten sparen Platz. Es ist unglaublich elegant. Es ist … klassisch, sagt man im Westen, nicht? Das sind die Kernkraftantriebe? Die … primären …« Der Chinese sucht nach Worten. Der Russe nippt am Tee, stellt den Keramikbecher ab und sagt: »Der Schub für die ersten drei Jahre, mit nuklearem Material von der Erde.«

»Und dann übernimmt der Ramjet«, sagt Aiguo Sun und tippt ein paar Details an, so dass sich Fenster mit Gleichungen öffnen, in die er versuchshalber ein paar Zahlenwerte eingibt. Der Raumfahrtingenieur möchte sich nicht mit einer bloßen Präsentation abspeisen lassen. Er will das Ding testen, wenigstens virtuell. Er ist beeindruckt, zieht die Brauen zusammen, rechnet nach, dann sagt er: »Ich habe sehr gezweifelt – wir wissen ja beide, dass das neunzehnhundertsechziger Konzept nicht aufgeht, dass die elektromagnetische … Schaufel eher bremst als … na, sie stößt die Ionen ab, statt sie einzusammeln und dem Motor zu verfüttern. Und als du sagtest, es gibt eine Abwandlung vom alten Plan, habe ich ein bisschen recherchiert … jemand hatte die Idee, Deuterium und Helium-3 als Treibstoff zu verwenden, aber dann müsste das Sammelfeld Hunderttausende Kilometer weit sein …«

»Ja, das waren Mallove und Matloff, Ende der Achtziger. Eine weitere Sackgasse. Aber wie du siehst, ja, rechts – Teilchen-Antiteilchen … sie haben die Ramjetidee beibehalten, aber ohne die Protonenfusion.«

»Ich frage mich nur, warum man nicht längst überall auf der Erde solche Motoren gebaut hat, wenn das wirklich funktioniert.«

»Muss ich Tschernobyl sagen und Fukushima? Die Leute

Aiguo Sun gibt es zu: »Schon gut. Du weißt allerdings nicht, ob nicht irgendwer das Ganze unter entsprechender Geheimhaltung doch nutzt, militärisch zum Beispiel.«

Das räumt nun wieder Samulin ein.

So geht es eine Weile mit Nachfragen des Chinesen weiter, wenn er Daten nicht gleich findet – »Ah, anderthalb Kilometer lang …«, flüstert er einmal beeindruckt, und der Russe sagt: »Nicht mehr. Diese Länge, das war vor Ceres, das war zwischen Venusbahn und den Asteroiden. Vor der Tragödie.«

Es folgen Erklärungen Samulins über den Durchmesser des zentralen Tubus, die Außenreifenstruktur, die Massenverteilung zwischen Nutzlasten und Systemeinheiten, die verwendeten Materialien von metallischen Legierungen über Faserverbundwerkstoffe bis zu Faser-Metall-Kombinationen und noch exotischeren Werkstoffen.

Auch über das Leben der Besatzung und der Passagiere will Sun einiges wissen, über Sport und Freizeit, über Ernährung, medizinische Versorgung und das Sozialleben.

Auf all das gibt Samulin schnell, umfassend und einleuchtend Antwort.

Am Ende bleibt dem Chinesen nur die Feststellung: »Es klingt wahr. Und es klingt unglaublich.«

»Ja.« Der Russe lächelt. »Und sind das nicht die Dinge, für die es sich zu kämpfen lohnt – die wahren und unglaublichen?«

Er wartet keine Antwort ab, sondern berührt wie beiläufig mit seinem Zeigefinger eine Taste am Rechner, der sofort damit beginnt, sich zu vernichten.

Samulin lässt ihm Zeit, er weiß, dass er ihn überzeugt hat.

Am Ende sieht ihn Aiguo Sun an wie einer, der sich für etwas aberwitzig Riskantes freiwillig melden wird, und stellt eine letzte Frage, die wichtigste: »Was will sie von mir?«