Sie ließen Bob Tully am Ende wegen Mangel an echten Beweisen gehen, aber ein paar Formalitäten wurden gemacht. Er wurde angewiesen, die Stadt nicht zu verlassen, ehe der Fall abgeschlossen war. Mackenzie sah sich den kurzen Bericht an, der hinsichtlich des augenscheinlichen Mordes an Maureen Hanks erstellt worden war, nur um sicherzugehen, dass alle ihre Stützpunkte abgedeckt waren.
Dann, ohne einen echten Weg zu folgen, ging sie zurück zu ihrem Auto und fuhr in Richtung Wasserturm. Sie fand ihn dieses Mal viel einfacher, erreichte ihn aus derselben Richtung wie Bob und Maureen wahrscheinlich die Nacht zuvor. Sie parkte ihr Auto, wo sie annahm, dass auch Bob und Maureen geparkt hatten. Der Wasserturm war ungefähr zweihundert Meter entfernt, eine blasse weiße Masse in der Ferne.
Mackenzie stieg aus dem Auto und ging zu dem dichten Wald, der das alte Feld vom Wasserturm trennte. Sie hatte noch nie was für Natur übrig gehabt, aber etwas war an dem isolierten Gefühl von Kingsville dran. Sie konnte sich nur vorstellen, wie sich das für Maureen Hanks angefühlt hatte, als man sie zum Wasserturm an diesen Bäumen und Büschen nachts entlang geführt hat.
Sie erreichte die Lichtung, wo der Wasserturm stand und ging wieder auf die Rückseite. Sie schaute sich die Graffitis an und suchte den Boden nach allem ab, was sie gestern Nacht vielleicht übersehen hatte. Sie ging wieder zu der Leiter und kletterte hoch. Es war weniger beängstigend tagsüber und leichter für sie sich selbst einzureden, dass sie keine Angst vor der Höhe hatte.
Oben schaute sie herunter und versuchte das Gefühl von gestern Nacht wieder zubekommen – das Gefühl der Macht, das Gefühl hoch über alles andere zu stehen.
Sie fragte sich, ob es das war, was den Mörder an diese hohen Stellen zog. Musste er sich mächtig fühlen? Und wenn, wie verband sich das mit seinem Drang, seine Opfer zu töten?
Nein, das macht keinen Sinn, dachte sie. Wenn er das Gefühl über etwas zu stehen, brauchte er es vermutlich auch, um die Opfer an diese hohen Orte bringen. Wahrscheinlicher ist es, dass er die Opfer aus einem Grund mit sich mitbringt.
„Weil er nicht alleine sein will“, sagte sie laut. Das war leicht vorstellbar; sie hatte immerhin einen Schmerz der Einsamkeit gefühlt, als sie zum Wasserturm gegangen war.
Sie veränderte ihre Denkweise und versuchte die Aussichtspunkte von der Sicht des Mörders, sowie auch von jemandem zu sehen, der eher Höhenangst hatte, anstatt dies als Werkzeug zu benutzen, um einen Sinn an Macht zu erzeugen. Im Moment schien es Sinn zu machen. Es könnte fast ein Opfersystem sein. Der Mörder bringt die Opfer an diese hohen Stellen, wahrscheinlich mit der Absicht sie sowieso umzubringen, aber warum? Es war eine Frage, die mehrere Antworten hatte, aber es gab ihr auch eine Art Motiv, egal wie verrückt.
Mit ihrer leichten Höhenangst war es einfach für Mackenzie dies als mögliches Motiv zu identifizieren. Dennoch wusste sie nichts über den Mörder. Sie würde mit jemandem sprechen müssen, der ein wenig mehr über besondere Phobien wusste.
Und zu ihrem Glück, gab es da jemanden die ihr vielleicht helfen konnte und die nur acht Kilometer entfernt wohnte.
***
Jan Haggerty war nicht allzu überrascht gewesen, als Mackenzie sie angerufen hatte und fünfzehn Minuten später, als sie Mackenzie die Tür öffnete, sah sie schon fast erwartungsvoll aus. Die nächsten paar Momente waren fast eine völlige Wiederholung von dem ersten Besuch von Mackenzie. Sie gingen in die Küche, wo Dr. Haggerty große Kaffeebecher füllte und gingen dann in ihr Büro.
Wissen Sie“, begann Haggerty, „ich habe erst fünfzehn Minuten vor ihrem Anruf von Maureen Hanks erfahren.“
„Wie haben Sie so schnell davon gehört?“, fragte Mackenzie.
“Ach, Kleinstadt eben. Meine Schwiegermutter rief an und sagte, dass ich wahrscheinlich wieder von einer FBI-Dame besucht werden würde. Ich habe sie gefragt warum, und sie hat es mir erzählt. Und Gott weiß, wie sie das erfahren hat.
„Und woher wusste sie überhaupt, dass ich letzte Woche hier war?“, fragte Mackenzie.
Haggerty zuckte nur die Achseln, während sie an ihrem Kaffee nippte. Als sie ihn abstellte, sagte sie: „Die Menschen hier sind neugierig. Es tut mir leid, das ist eines dieser typischen Klischees über Kleinstädte, die einfach wahr sind.“
„Naja, der Grund warum ich gekommen bin, ist, weil ich gehofft habe, dass Sie vielleicht ein oder zwei Dinge über Phobien wissen – besonders über Höhenangst.“
„Höhenangst ist als Akrophobie bekannt“, erklärte Haggerty. „Es geht nicht wirklich um die Grundangst vor Höhe. Es ist mehr ein Vertrauensding – seinem eigenen Gleichgewicht zu vertrauen und dass das Ding, auf dem du in solch einer Höhe stehst, dich nicht im Stich lässt.“
“Wissen Sie, ob das so eine Art anerzogene Sache ist, wie etwas was Menschen haben oder nicht haben? Oder kann ein traumatisches Ereignis auch dazu führen?“
„Ich bin mir sicher, dass beides sein kann“, sagte Haggerty. Sie dachte einen Moment darüber nach und fügte dann hinzu: „Ich nehme an, Sie denken daran, dass der Mörder von Höhen angezogen wird oder eine Abneigung dagegen hat?
„Genau“, sagte sie. „Und ich hoffte, Sie können mir helfen herauszufinden, wie so jemand denken würde. Ich nehme an, dass er Höhenangst hat und die Morde, als eine Art nutzt, um die Angst zu überwinden.
“Das ist interessant”, sagte Haggerty. „Was führt Sie zu dieser Annahme?“
„Außer dass jemand eine kranke Faszination von Kontrolle hat – was ich bis jetzt noch nicht ausgeschlossen habe – gibt es keinen soliden Grund dafür, Menschen aus hohen Höhen zu stoßen, um sie zu töten. Das lässt mich glauben, dass er Menschen auf diese Höhen bringt, weil er Angst hat, sich der Höhe selbst zu stellen.“
Haggerty nickte. „Interessant. Er könnte sie also herunter schubsen, wenn er entdeckt, dass sie ihm nicht helfen, seine Angst zu überwinden.“
„Oder wenn er beginnt, sich sicher zu fühlen und sie als austauschbar empfindet“, fügte Mackenzie hinzu.
„Wenn wir es mit jemandem zu tun haben, der diese Art von geistlichen Problemen hat, dann muss man ein paar Dinge in Erwägung ziehen“, sagte Haggerty. „Was ist die Quelle der Angst? Warum hat er diese Menschen als Opfer gewählt? Sieht er sie als eine Art Verbindung mit seiner Höhenangst?“
„Sie würden mir also zustimmen, dass der Mörder eher Höhenangst hat, anstatt irgendeiner Art von Liebe dafür, aufgrund eines Gefühls von Macht oder Kontrolle?“
“Ja, ich glaube schon. Jemand der das wegen des Kontrollaspekts macht, würde wahrscheinlich nie etwas so Unvorhersehbares wie eine hohe Stelle als Tatort wählen. Es wird ihm dabei zu viel aus der Hand genommen. Es ist zu viel Unvorhersehbarkeit. Und wo wir gerade davon sprechen … Ich frage mich … können Sie mir sagen, ob Maureen Hanks nackt war?“
„Nein, war sie nicht.“
„Aber Malory Thomas, oder? Sehen Sie … ich frage mich, ob es eine Art synaptische Trennung beim Mörder gibt. Eine legitime Phobie ist grundlegend erst einmal nur die Erregung des Körpers in einer Situation - in den meisten Fällen nicht sexuell, sondern nur ein erhöhter Alarmzustand. Wenn das eintritt, dann flutet das Nervensystem ihren Körper mit entweder dem Drang, zu fliehen oder dem Drang etwas weiter zu entdecken. Es scheint, als wenn unser Mörder irgendwo zwischen den beiden liegen.“
„Wenn Sie also wetten müssten, dann würden Sie sagen dass der Mörder eine Art geistige Störung hat?“
“Wenn das so ist, dann wird es keine schwere Störung sein. Eine Frau dazu zu bringen, bis ganz nach oben zu klettern, erfordert Geduld, Planung und Mut.“
„Das habe ich auch gedacht“, sagte Mackenzie.
„Wissen Sie, ich bin kein Experte bei Phobien und ich kenne auch niemanden, der einer ist. Aber ich weiß, dass es überall Gruppen für all diese Dinge gibt. Wenn Sie mir ein paar Sekunden Zeit geben, kann ich wahrscheinlich eine Visitenkarte von jemandem finden, der eine dieser Gruppen in ihrer Ecke leitet.“
„Das wäre perfekt. Danke.“
Mackenzie trank ihren Kaffee, während Haggerty aufstand und irgendwo im Haus verschwand. Mackenzie begann über die Art von Person nachzudenken, der vielleicht dieselbe Art von Kontrolle und Macht fühlte, die sie gespürt hatte, als sie auf dem Wasserturm stand. Aber es war komplizierter als das, es musste auch jemand sein, der Angst vor solch einer Höhe hatte – und vielleicht, wenn sie sich traute einen Schritt weiter zu gehen, Respekt und Bewunderung für diese Angst spürte.
Ein paar Momente später erschien Haggerty wieder mit der versprochenen Visitenkarte. Sie übergab sie Mackenzie mit einem Stirnrunzeln. „Ich wünschte, ich könnte mehr helfen.“
„Unsinn“, erwiderte Mackenzie. „Sie waren eine große Hilfe. Kleine Dinge wie diese“, sagte sie und hielt die Visitenkarte hoch, „können oftmals viel mehr helfen, als Sie erwarten.“
„Das hoffe ich“, sagte Dr. Haggerty. „Wenn es sich herumspricht, was hier in der Stadt los ist, dann wird es hier wirklich verrückt. Menschen werden sich nicht mehr vertrauen. Freundschaften und Familienverbände zerbrechen. Das kann in so einer Stadt ziemlich anstrengend werden.
„Dann hoffen wir, dass wir den Mörder finden, ehe es dazu kommt“, sagte Mackenzie. Dennoch schien es, als sie ein paar Sekunden später mit nichts außer einer Visitenkarte ging, schwerer als zuvor den Mörder zu finden.