Reporter

Onkel Hein kommt nicht mehr. Er kommt nicht mehr seit diesem Tag im März, als Reporter vor der Tür stehen und nach dem Vater fragen. Zwei Reporter vom Stern sind es, einer mit Fotoapparat. Schon im Flur stellen sie Fragen, wollen etwas wissen über eine Sache, die ewig zurückliegt und an die sich der Vater beim besten Willen nicht mehr erinnern kann, jedenfalls nicht mehr so genau, dass es den Reportern genützt hätte. Die Männer sind unverschämt, äugen im Haus herum: »Platz haben Sie, Platz … Ja, schön haben Sie es hier, sehr schön …«, wollen schließlich wissen, wie er, der Vater, damit leben könnte. Mit was leben? Sie fragen auch die Mutter, die zu allem nur den Kopf schüttelt und ratlos von einem zum anderen sieht: »Was wollen die hier? Was wollen die von uns? Hans, schick doch diese Leute fort!«

»Wir bringen den Artikel, ob Sie uns Auskunft geben oder nicht«, sagt der Mann mit dem Fotoapparat und fügt hinzu: »Es wäre besser, wenn Sie mit uns reden würden.« Der Vater schickt Helga auf ihr Zimmer. Auch die Mutter soll gehen. Eine Weile sitzt er dann mit den Reportern bei geschlossener Tür im Wohnzimmer.

Als die beiden Männer weg sind, hört Helga von ihrem Zimmer aus, wie die Eltern streiten. Der Vater wird laut. »Das ist doch alles viel zu lange her. Eine Ewigkeit. Ich weiß nicht mehr alles und will auch nicht mehr daran erinnert werden.« Dann senkt er die Stimme, flüstert fast und Helga versteht nicht, was er der Mutter sagt. Es dauert über eine Stunde. Dann knallt eine Tür. »Was hätte ich denn tun sollen?«, schreit der Vater, als die Mutter im Nähzimmer verschwindet, »mich abknallen lassen? Sag mir mal, was hätte ich tun sollen?«

Am Abend kocht die Mutter wie gewohnt und deckt den Tisch. Sie isst aber nicht mit, sondern verzieht sich mit einer Entschuldigung ins Nähzimmer und zeigt sich den ganzen Abend nicht mehr. Der Vater ist seltsam aufgekratzt. Scherze macht er über einen Nachbarn, der mit einem nagelneuen Opel das Garagentor gerammt hat. Er kann gar nicht aufhören, sich darüber lustig zu machen. Dann spottet er über einen der Reporter. Gelispelt hätte der und nach Zigarettenrauch gestunken. »Was will denn so einer bei der Zeitung? Kann ja nicht mal richtig sprechen.« Ohnehin sei der Stern ein mieses Blättchen, unseriös, nur dazu geeignet, unbescholtene Bürger durch den Dreck zu ziehen. Seine Stimme wird lauter, schließlich fängt er an zu schreien. »Rufmord ist das! Diese Verleumdungen! Das ist doch alles längst abgebüßt! Was wollen die denn immer noch?« Helga sitzt am Wohnzimmertisch und versucht sich auf ein Kreuzworträtsel zu konzentrieren, was nur schwer möglich ist. Sie lässt den Stift sinken. »Was wollten die eigentlich von dir?«

»Das frag ich mich auch. Sie suchen nach alten Geschichten, weil sie nicht mehr wissen, was sie schreiben sollen.« Als sie wissen will, über was sie schreiben würden, trifft sie ein Blick, der keine weiteren Fragen erlaubt.

Frank, dem sie davon erzählt, empfiehlt ihr, den Stern ab sofort regelmäßig zu kaufen und durchzusehen. »Willst du nicht wissen, weswegen die Zeitungsleute ihn so in die Mangel genommen haben und was für eine Geschichte das war?« Nein, will sie nicht. »Ich weiß ja gar nicht, wonach ich suchen soll«, sagt sie, und dass ihr die Zeitschrift zu teuer ist.

Aber dann geht sie doch zum Kiosk, verlangt den Stern und blättert. Nichts. In der Woche darauf findet sie wieder nichts. In der dritten Woche macht sie einen letzten Versuch, dann verliert sie das Interesse und beschließt, ihr Geld für Besseres auszugeben.

Die Sache mit dem Stern liegt schon eine Weile zurück, da fragt Frank nach. »Und? Was ist mit dem Artikel?«

»Was weiß denn ich?« Helga schüttelt die Frage ab, wie eine lästige Fliege. Frank lädt sie ins Kino ein. ›Zurück in die Zukunft‹ heißt der Film. Eine Reise ins Jahr 1955. Es interessiert sie nicht. Sie versinkt fast auf dem durchgesessenen Kinosessel und kratzt sich die Arme wund.

Hinterher bestellen sie Persiko in einem Café. Frank raucht.

»Kannst du dir vorstellen, einen Mörder zu kennen?«, fragt er plötzlich. Dabei sieht er sie ganz seltsam an. Sie hört auf zu kratzen, muss lachen. »Wieso? So einen wie im Tatort? Was meinst du?« Frank zögert. Sitzt da und zieht an seiner Zigarette. Dann beugt er sich zu seiner Tasche, die neben ihm auf dem Stuhl steht und zieht eine Zeitschrift heraus. »Der Artikel im Stern ist schon im März erschienen«, sagt er schließlich, »aber ich weiß erst seit gestern davon.« Helga sieht auf seine gebräunten Hände, wie er sich den Zeigefinger an der Lippe nass macht und von hinten anfängt zu blättern. »Ach nein, weiter vorne«, sagt er und dann: »Hier. Hier ist es.« Er dreht die Seite so, dass sie lesen kann. Drei Fotos von Männern sind abgebildet. Es sind schlechte Aufnahmen. Schwarzweiß. Wahrscheinlich alt. Die Männer sind kaum zu erkennen. Darüber steht: Die Täter von Nierstein. Links davon der Text. Frank hat die linke Spalte mit einem Kugelschreiber angestrichen. »Da. Lies. Das musst du wissen.« Mit dem Finger deutet er auf die angestrichenen Stellen. Helga beugt sich über das Blatt. Sie kratzt wieder, aber unter dem Pullover, so, dass Frank es nicht sieht. Die Haut an ihrem Arm blutet an einigen Stellen. Sie spürt diese feuchten Stellen, verreibt das Blut, liest ein paar Sätze, dann springt sie auf, greift nach ihrer Tasche und schreit ihn an: »Das ist nicht wahr! Das ist niemals wahr! Das ist gemein!« Dann lässt sie ihn zurück und rennt auf die Straße.

Als hätte man sie in Säure getaucht, ihren Körper starr gemacht und sie dann auf Bahngleise gelegt. Die Bahngleise surren schon, die Muskeln zucken, die Hände sind eiskalt, überhaupt ist alles kalt, sogar der Schweiß, kalt und klebrig. Sie versucht aufzustehen, kann aber den Kopf kaum heben, die Arme sind schwer, die Beine bewegen sich nicht und ständig hat sie dieses leise Surren der Gleise im Ohr. Sie weiß, dass sie weg muss, aber der Körper ist starr und sie weiß auch nicht, wohin sie laufen soll, alles ist dunkel und starr und schwer und es gibt keinen Ort, wo sie hinlaufen kann. Sie ist auch viel zu müde, kann die Augen nicht offenhalten und die Gleise surren und es kommt etwas näher und näher und sie stöhnt und atmet ganz laut und hektisch, hört das Pumpen des Blutes und das Rauschen im Kopf. Alles ist nur ein Surren und Flirren und Kribbeln und Bitzeln und sie hat Angst, es gibt überhaupt nichts anderes mehr als diese Angst, ihr ganzer Körper ist erfüllt davon und sie will rennen, hört das Surren, liegt aber in Säure, die anfängt an ihr zu fressen und sie auflösen wird.