Hans Kaiser, 1930er Jahre

An diesem Tag ging Hans ohne Milch zu trinken aus dem Haus. Das Milchtrinken schien ihm albern, kindisch. Einen Kaffee hätte er getrunken, aber den gab es nur für den Großvater und die Eltern.

Es war ein Samstagnachmittag im Sommer, kurz vor den Prüfungen, nach der täglichen Turnstunde. Der Lehrer hatte schon abgepfiffen und Hans war noch mit zwei anderen eine letzte Runde um den Sportplatz gelaufen, als jemand von der Hitlerjugend auftauchte, ein Kraftprotz namens Gregor, einer, den alle kannten, vielleicht zwei, drei Jahre älter als sie selbst.

Als Kind hatte er einmal mit Gregor eine Katze gefangen. Es war eine Streunerin, ein mageres Tier mit mattem Fell und ebensolchen Augen, betagt, wenn nicht schon halb tot. Gregor hatte versucht das Tier mit einer verfaulten Kartoffel zu füttern, es dann aber, weil es die Kartoffel nicht fressen wollte, mit Steinen und Ästen so lange geschlagen und gequält, bis es tot war. Ganz in der Nähe war das gewesen, am Rand eines Wäldchens. Hans und ein paar andere hatten zugesehen, wie dem Tier das Blut aus der Schnauze geschossen war und Gregor in Siegerpose die Arme gehoben hatte.

Mitten auf dem Platz stand jetzt dieser Gregor in der Sonne, blond, groß, mit frühreifen Augen und pomadisierter Seitenscheitelfrisur, warf seine Jacke ab, eine fettglänzende Lederjacke, die neben der Kreidelinie liegen blieb, dann das Hemd, und entblößte den Oberkörper. Seine Hose war schwarz und militärisch und mit einem Gürtel verbunden, an dem ein Koppelschloss hing, das hin und wieder aufblitzte. Er hatte mit ein paar Kommandos begonnen und war dann in einen Redefluss gekommen, als Hans, noch atemlos vom Laufen, hinzukam und den Kreis vergrößerte, der sich augenblicklich um Gregor gebildet hatte. Gregor war bereits laut geworden, stieß die Fäuste gen Himmel, seine Intonation war männlich und irgendwie heroisch, ein bisschen ungehalten auch, was der Sache Dringlichkeit verlieh. Worte wie Volksgemeinschaft, Freiheit, Ehre, Blut, Gehorsam und Dienst am Ganzen kreisten, Begriffe wie Parasiten und Schmarotzer standen für Sekunden in der Luft und senkten sich dann über die gaffenden Zuhörer. Manchmal schloss Gregor die Augen. Ganz kurz nur, aber doch so, dass es auffiel. Sekunden, in denen seine Worte nachwirkten. Nicht jeder könne ein Alexander der Große werden, sagte Gregor, ein Napoleon oder gar ein Hannibal, wohl aber könne jeder das Seine tun, um seinem Volk zu dienen. Er kam auf den Führer zu sprechen, und so, als ob er von einer höheren Macht getragen wurde, sprühten seine Augen Feuer, der Tonfall wurde aggressiv, er redete ohne abzusetzen, redete sich in ein Stakkato ohne Punkt und Komma. »Auch auf dich kommt es an! Auf jeden einzelnen hier!«, schrie er, streckte den Arm, richtete den Finger auf diesen und jenen, riss den Mund auf und zeigte seine muskulösen Arme. Das Größte, was ein Mensch zu geben habe, sei der unbedingte Gehorsam, die Selbstaufgabe für das Vaterland, ja, das sei die allergrößte Tugend und wer dazu im Stande sei, dem gebühre Ruhm zu Lebzeiten und Ehre weit über den Tod hinaus. »Wir werden alle bereit sein, wenn der Führer uns braucht! Wenn der Führer nach uns ruft, sind wir da!« Einer der Lehrer kam hinzu und klatschte Beifall. Seinem Beispiel folgten alle. Nur Hans stand unbeweglich. Vom Anblick dieser Gesten konnte er sich kaum lösen. Wie Gregor sich bewegte, den Leuten in die Augen sah. Wie er die Stimme einsetzte und wie die Leute an seinen Lippen hingen. Was Gregor sagte, war richtig und gut.

Als sich Gregors rechter Arm schräg nach oben streckte, lösten sich Rufe und Applaus und für Hans war es, als ob er aus einer Art Trance zurückfand. Alle schwätzten durcheinander. Hans sah, wie Gregor sich nach seiner Jacke bückte, eine Zigarette und ein Klappfeuerzeug aus der Seitentasche zog, die Zigarette anzündete, mit erhobenem Kopf rauchte und den Blick nur senkte, um seine Uhr aufzuziehen, eine große Uhr mit mehreren Zeigern und einem schwarzen Ziffernblatt. Dabei kniff er die Augen wegen des beißenden Zigarettenrauchs. Hans bemerkte eine junge Frau, die in einiger Entfernung an einem Zaun lehnte. Die Frau rief etwas, Gregor drehte sich kurz nach ihr um, verließ den Platz dann aber in eine andere Richtung.

Hans beobachtete, wie die Frau unentschlossen stehenblieb und Gregor hinterhersah. Dann ging sie ein paar Schritte nach vorne, bis zu der Stelle, auf der Gregor gestanden hatte und hob sein Hemd auf, das dort liegen geblieben war. Wieder rief sie etwas.

Gregor drehte sich nicht um. Seine Jacke glänzte noch aus der Entfernung. Seine Schritte waren beschwingt. Er war einer, der wusste, wo es langging. Sicher konnte Gregor viele Frauen haben. Wahrscheinlich alle, sogar die, die in der Kantine am Bahnhof bediente und die alle gern gehabt hätten. Für die Frau am Zaun hätte er nur zu schnipsen brauchen.

So sein wie Gregor, dachte Hans. So sein, wenn auch nur ganz kurz.

Noch am Abend stand für ihn fest: Er würde sich eine Hose zulegen, wie Gregor sie trug, mit einem Koppelschloss und einem Gürtel mit der Gravur »Gott mit uns«. Er würde sich auch die Haare so schneiden lassen. Vor allem würde er ab sofort keine Milch mehr trinken, sondern Kaffee zum Frühstück, und sich seiner Mutter deutlich in den Weg stellen, sollte sie seinen Wünschen nicht nachkommen. Was hatte sie ihm überhaupt zu sagen? Schließlich war sie eine Frau und er fast erwachsen.

›Jugend für Jugend‹ stand auf den Handzetteln, die nach dem Gottesdienst von Jungen in Uniform vor der Clemenskirche verteilt wurden. »Komm zu uns in die Hajott!«, riefen sie und schwenkten ein rot-weiß gestreiftes Tuch. Für Hans klang Hajott, als ob man einem Pferd zuriefe, dass es schneller laufen sollte. Von Pferden war zwar nicht die Rede, dafür aber von Wettkämpfen, von Sport- und Wehrübungen. Uniformen und Abzeichen sollte es geben. »In der Hahahajott zu sein, ist was«, meinte Rudi, der mit Hans die Schulbank teilte und bei jedem Satz ins Stottern geriet, weswegen er sich beständig vom Lehrer eine Kopfnuss einfing. »Die zezezelten im Wald und machen Lalalagerfeuer. Manchmal auch Nachtwanderungen und so was.« Er erzählte von Eddi, der schon länger dabei sei, und von einer nächtlichen Wanderung durch das Grubenfeld, die nichts für schwache Nerven gewesen sein sollte. »Jemand hat Eddi die Bbbrote klauen wwwollen, aber Eddi hat dem Kkkkerl so was von auf den Kopf gegeben, dass dem alles vergangen ist. Den hättest du sehn sollen. So was von auf die Ffffresse! Aber manchmal helfen sie auch alten Ffffrauen oder bei Kleidersammlungen.«

Hans gefiel, was er hörte. Er zeigte dem Vater den Zettel. Der Vater nickte, meinte, dass Zucht und Ordnung nicht schaden könnten, sie seien die Basis allen Miteinanders. Die Mutter hielt sich raus. Tante Käthe, die gelegentlich vorbeikam, war der Ansicht, der Führer sei ein Irrer und imstande einen Krieg anzuzetteln, und nichts, aber auch gar nichts, was diese Partei unternehme, sei zu unterstützen, auch nicht die Hajott, die nur die Kinder aufhetze. Aber das durfte sie nicht sagen. »Was meine Kinder machen, bestimme ich!« Der Vater verbot ihr den Mund und die Tante schwieg. Hein, der Bruder, fand, dass in der HJ nur Idioten herumliefen, lieber würde er ein Instrument lernen. Aber der Vater bestand darauf: Beide oder keiner! Hein wehrte sich, erreichte es schließlich, noch ein Jahr warten zu dürfen. Immerhin war er ein Jahr jünger als Hans.

Rudi hatte keine Erlaubnis von zu Hause bekommen, wusste aber, dass niemand ihm die HJ verbieten dürfe, auch der eigene Vater nicht und überlegte, es dem Reichsjugendführer zu melden. Dann könnte sein Vater sich richtig warm anziehen. Sogar anzeigen würde er ihn.

Es ging eine Weile hin und her, schließlich durfte Rudi mit, ohne dass er seinen Vater angezeigt hatte. Auch Hans, fast elf, wurde den Pimpfen zugeordnet. »Jetzt sind wir Kameraden und halten fest zusaaaammen«, sang Rudi und schlug Hans mit der Faust so fest auf den Rücken, dass er einen Schritt nach vorn machte. Hans bekam eine Uniform und ein Fahrtenmesser. Rudi ebenso. Sie verglichen ihre Sachen, aber alles war gleich.

Hans fühlte sich sofort wohl in der Gruppe. Alles war klar geregelt, und was besprochen war, wurde durchgezogen. Das Jungvolk hatte mittwochs und samstags Nachmittagsdienst. Der Dienst umfasste Gruppenabende, Zeltlager, Sammelaktionen, außerdem Appelle, Fackelumzüge, Geländespiele und Orientierungsmärsche mit dem Affen 1 auf dem Rücken, der mit Ziegelsteinen gefüllt war, die ungefähr 15 Pfund wiegen mussten. Die Märsche führten durch den Wald, durch hohes Gras und Brennnesselgestrüpp. Oft auch entlang der Nette, wo sie sommers in Unterhosen über glitschige Steine ins Wasser taumelten und sich mit ausgebreiteten Armen in die Flusstiefen fallen ließen. Im Gras liegend übten sie das Kartenlesen und fertigten Geländeskizzen an. Im Wald suchten sie nach Blaubeeren, zerdrückten sie auf der Haut, schrien »Blut! Blut!«, gaben vor, verletzt zu sein und legten sich Verbände an. Mit seinen Kameraden stand Hans bei Veranstaltungen auf der Bühne, betätigte sich im Sprechchor. »Was sind wir? Pimpfe! Was wollen wir werden? Soldaten!«

Immerzu geschah etwas. Immerzu wurde gefeiert: die Fertigstellung eines Autobahnabschnitts, der Bau einer Brücke über ein Flusstal, die Errichtung eines monumentalen Bauwerks irgendwo in Berlin.

Hans gefielen die Bilder von Staatsleuten, die den Führer auf dem Obersalzberg trafen. Oder Soldaten auf Plakaten, im Rücken die aufgehende Sonne. Und die Olympischen Spiele. In der Schule mussten sie das Programm für die Feierlichkeiten am Ehrenmal der Gefallenen des Ersten Weltkriegs in Schönschrift auf ein großes Blatt abschreiben. Sauber und ordentlich. Zeile für Zeile und Abstand lassen. Zeile 1: ein Kinderchor mit ›Heil’ge Nacht, o gieße du‹ von Beethoven, Zeile 2: eine Lesung ›Von Freiheit und Vaterland‹, Zeile 3: Vorlesen der Inschrift und Ablesen der auf dem Ehrenmal verewigten Namen. Anschließend in Zeile 4 der Kinderchor mit ›Ich hatt’ einen Kameraden , danach, Zeile 5, das Gedicht ›Gehorsam und Treue‹, gefolgt von einem Sprechchor in Zeile 6, ›Mein Vater war ein Held‹. In den Zeilen 7, 8 und 9 dann die Festansprache, das Horst-Wessel-Lied und das Treuegelöbnis an den Führer. Hans kassierte ein Lob für seine gestochen scharfe Schrift. »Wie gedruckt«, lobte der Lehrer. Das Plakat wurde dann im Veranstaltungskasten auf dem Schulflur aufgehängt. Hans war stolz. Wie ein Fest schien ihm die Zeit.

Hans setzte um, was man ihm auftrug. Auch der Vater war voll des Lobes. Als ihn die Lehrerin neben einen Judenjungen setzen wollte, sträubte er sich. »Nein! Nicht zu so einem!« Zu viel hatte er gehört, zu oft war er gewarnt worden. Er wusste genau: Juden sind verschlagen, hinterlistig und gerissen, das stand fest und er wollte nichts mit verschlagenen, hinterlistigen und gerissenen Leuten zu tun haben.

Dass der Junge in seiner Klasse wirklich einer von den Verschlagenen war, sollte sich bald zeigen.

Ende Mai warben bunte Plakate für eine Veranstaltung auf dem Nürburgring. Wie jedes Jahr lockte der Große Preis von Deutschland und der Sportlehrer hatte es durchgesetzt, mit seinen Schülern hinzufahren. Allerdings war die Zahl der Eintrittskarten begrenzt, weshalb eine Verlosung stattfand. Hans hatte Glück und auch besagter Judenjunge, was niemand recht verstand und besonders im Nachhinein ärgerlich war. Vor allem hätte es leicht verhindert werden können. Während eine SS-Ehrenwache das Hakenkreuzbanner hisste und die Parteihymne anstimmte, benahm sich der Junge nämlich so ungehörig, dass dem Lehrer der Atem stockte: Aufgereiht standen die Motorräder, über der Nürburg hingen schwere, graue Wolken und der Junge pinkelte an einen Bauzaun. Die Aufregung war riesig. Später hatte er gelogen und behauptet, dass er hinter einer der Planken gestanden und niemand ihn hätte sehen können.

Die Eltern, denen Hans von dem Vorfall erzählte, waren erleichtert, dass der Lehrer Konsequenzen angedroht hatte. »Solche Kinder sind wirklich kein Umgang.« Die Mutter fügte hinzu, dass sie lange schon nicht mehr bei Juden kaufe und das Gefühl habe, dass dadurch ihre Magenprobleme nachgelassen hätten. In der Schule wurde beschlossen, dem Jungen eine Rüge zu erteilen und ihn der Schule zu verweisen, was dann auch geschah. Allerdings hätte man keine Energie mehr darauf verwenden müssen, denn kurz darauf, nachdem die Synagoge im Entenpfuhl abgebrannt war und sich die Aufregung darüber in Grenzen hielt, wurde Judenkindern der Schulbesuch ohnehin verboten. Damit waren dann alle zufrieden.

Als sie 14 waren, hatte die Uniform der Pimpfe ausgedient und Hans brauchte eine richtige HJ-Uniform. Er bedrängte die Mutter, bis sie, wenn auch etwas widerwillig, da sie größere Ausgaben befürchtete, mit ihm ins Bekleidungshaus ging. Sie sah ein, dass Hans ohne diese Uniform und auch ohne entsprechende Stiefel nicht weiterkommen würde. Die Uniform war teuer, die Mutter verhandelte, bis man ihr einen kleinen Kredit einräumte, den sie in Raten abzahlen konnte. Die Uniform bestand aus dem Braunhemd, dem dazugehörigen Halstuch, dem schwarzen Koppelzeug mit Schulterriemen, einer schwarzen Hose, einer Schirmmütze, einer Hakenkreuzarmbinde, dem Gebietsabzeichen über dieser Binde und dem Abzeichen der Hitlerjugend. Das Beste an der Kluft aber waren die Marschstiefel aus dickem, schwarzem Leder. Für die Ewigkeit. So wie das Reich. Und fast so wie die von Gregor.

Und dann standen sie in Reih und Glied, mit ausrasierten Nacken und gestärkten Hemdkragen. Es war der 20. April und Führers Geburtstag, die ärztliche Untersuchung lag hinter ihnen. Rudi hisste die Fahne. Hans musste nach vorne kommen und die Hand heben. »Ich verspreche, in der Hitlerjugend allzeit meine Pflicht zu tun in Liebe und Treue zum Führer und unserer Fahne, so wahr mir Gott helfe.«

»Alles, was wir tun, tun wir für unser Land«, sagte einer der Anführer und streckte den rechten Arm mit flacher Hand schräg nach oben. Alle streckten die Arme. »Heil Hitler!« Danach saßen sie im Kreis und sangen.

Die Uniform veränderte ihn, er schien darin zu wachsen, wuchs geradezu über sich hinaus, streckte den Rücken, hob das Kinn, sodass sogar die Mutter zu der Erkenntnis kam, dass der Führer dem deutschen Volk nützlich sein würde, so wie er es versprochen hatte. Ein Hitlerbild, ein bräunliches Foto in einem Silberrahmen, stand fortan auf der Anrichte, nicht weit vom Kruzifix, gleich neben dem Radio.

Hans wuchs weiter. Er mochte das Strammstehen und die Kommandos der Vorgesetzten, die Geländemärsche, die Nachtwanderungen mit den Fackeln. Ihm gefiel diese Strenge, die keine Ungerechtigkeiten zuließ. Alle waren gleich, es gab keine Unterschiede, alle taten ihren Dienst, pünktlich und zuverlässig, egal, ob Arbeiterkinder oder Kinder von Geschäftsleuten, ob höhere Schüler oder Volksschüler. Es gab keine Hänseleien, wenig Streit, keinen Neid. Besonders gut war, dass die Erwachsenen kaum hineinredeten. Jugend wurde von Jugend geführt. So sollte es sein. Keine Bevormundung von oben. Dieses Gefühl machte frei und Hans war stolz, wenn er laut singend mit dem Jungvolk durch die Straßen ziehen konnte, in zackiger Kolonne und tadelloser Ordnung.

Bald musste auch am Sonntag Dienst gemacht werden, was Hans recht war, denn er verstand, dass ein Volk ständig im Dienst war und also musste es diesen notwendigen Dienst am Volk auch in der Freizeit geben. Dafür lockten schließlich auch Belohnungen.

Einmal, es war ein Tag im Spätsommer, durfte er mit nach Koblenz ins Kino, wo der Film ›Hitlerjunge Quex‹ gezeigt wurde. Darin ging es um einen Druckerlehrling und Sohn eines Kommunisten, der sich auf die Seite der Hitlerjugend ziehen ließ, irgendwann einen kommunistischen Anschlag auf ein HJ-Heim verriet und schließlich in die Hitlerjugend aufgenommen wurde. Bei einer Propaganda-Aktion im heimischen Arbeiterviertel wurde der Junge dann von Kommunisten niedergeschossen und getötet. Der Film wühlte auf, beschäftigte die Köpfe. Auf dem Rückweg riss der Gesang nicht mehr ab: »Uns’re Fahne flattert uns voran! In die Zukunft zieh’n wir Mann für Mann! Wir marschier’n für Hitler durch Nacht und durch Not, mit der Fahne der Jugend, für Freiheit und Brot! Uns’re Fahne flattert uns voran! Uns’re Fahne ist die neue Zeit! Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit! Ja, die Fahne ist mehr als der Tod!«

Auf den Straßen waren immer mehr Erwachsene in Uniformen zu sehen, selbst Frauen. Die Mutter engagierte sich in der Volkswohlfahrt, kochte für eine Familie in der Nachbarschaft, in der es fünf Kinder gab und eine bettlägerige Mutter. Der Vater unterstützte Lebensmittelsammlungen und half, Lebensmittelabfälle aus Haushalten und Kantinen zu verwerten und der Schweinemast zuzuführen.

Nur Hein tat nichts, was dem Volk nützlich war. Er war klein und mager, aß schlecht und war kurzatmig. Der Vater beschloss ihn der Lungen wegen zur Erholung an die Nordsee zu schicken. Kinderlandverschickung hieß das Programm und Hein musste einige Auflagen erfüllen, bevor er reisen durfte. Keine Epileptiker, keine Bettnässer, keine schwer Erziehbaren, keine Asozialen, hieß es. Neun Monate blieb Hein dann an der Nordsee und als er zurückkam, war er noch dünner, noch blasser und überhaupt nicht mehr derselbe.

Hans hingegen wuchs und wuchs. Nur zwei Jahre dauerte es, und er führte eine Schar von 37 Jungen an. Seine Truppe musste Scharführer zu ihm sagen. Alle hoben den Arm, wenn sie ihm begegneten. Der Vater schenkte ihm ein Schweizer Taschenmesser in einem Ledermäppchen, die Mutter nähte ein neues Rangabzeichen an den rechten Ärmel seiner Uniform. Begeistert beteiligte er sich an den Sammlungen des Winterhilfswerks, trug Altpapier und Eisenabfälle zusammen, auch Knochen und Lumpen, Heilkräuter, Hagebutten und Bucheckern, Bücher für die Frontsoldaten und die in den Lazaretten. Er schwärmte für U-Boot-Kommandanten, Fliegerasse, Panzerkämpfer und Gebirgsjäger, klebte deren Fotos in ein selbst gebasteltes Album, schrieb an Generäle mit der Bitte um ein Autogramm. Zu Weihnachten schenkte ihm der Vater ein Album mit Sammelbildern von Trägern des Eisernen Kreuzes. In seinem Zimmer hing – über dem Bett gespannt – eine Fahne mit dem Hakenkreuz. Er war Teil einer großen Zeit. Nie war er so glücklich.

Die Aufbauschule, die er nach Abschluss der Volksschule besuchte, lief nebenher. Er hatte kaum Zeit zum Lernen, so viel anderes war zu tun, Wichtigeres, als über Büchern zu sitzen. Die Schule langweilte ihn. Allein der Klassenraum war öde. Statt Fahnen hing ein Kreuz an der Wand, obwohl Religion nicht mehr unterrichtet wurde. Bestenfalls Raumlehre interessierte ihn, und Mathematik. Ein Irrenhaus kostet soundsoviel Reichsmark, wie viele deutsche Familien könnten davon eine Wohnung bekommen? Wie lange braucht ein Bomber von der französischen Grenze bis nach Koblenz, und wie groß ist der Bereich, den der, wenn er voll bestückt ist, im Stadtzentrum zerstören kann? In Deutsch lasen sie Stücke aus der Edda und das Nibelungenlied. In Erdkunde ging es um das Großdeutsche Reich und dann gab es noch das Fach Landwirtschaft, wo über Düngemittel und Viehzucht geredet wurde. Wegen seiner Einsätze in der HJ war er vom Sport befreit. Die Lehrer bestätigten ihm Gutwilligkeit, bemängelten seine zu häufigen Verpflichtungen als Scharführer, entschuldigten gleichzeitig sein häufiges Fehlen, und bescheinigten ihm Übereifer dort, wo ihn etwas interessierte. Mit insgesamt schwachen Leistungen wurde er in die nächste Klasse versetzt.

Alles lief gut, bloß das mit den Mädchen klappte nicht. Immer wieder begegnete ihm eine, die ihn interessierte. Er gab Zeichen, aber seine Zeichen wurden nicht erwidert. Meistens waren die Mädchen vergeben, dann redete er sich ein, dass es nicht an ihm liegen konnte.

Einmal war es so, dass ihn eine von der Mädchenschule regelrecht verfolgte, ihn abpasste, ihn in ein Gespräch verwickeln wollte. Sicher wäre mit ihr alles zu machen gewesen, aber sie gefiel ihm nicht, sie gefiel niemandem und mit zweiter Wahl wollte er sich nicht abgeben. Ein Mädchen sollte es sein wie die, die in der Kantine bediente. Mit hellen Augen und blonden Locken, die sich im Nacken ringelten. Sie bediente nur an Wochenenden. Er war ein paar Mal dort gewesen, hatte Bier bestellt und sie beobachtet.

Irgendwann hatte er den Mut gefunden, sie zu fragen, ob sie etwas zusammen machen können, ins Kino gehen oder ein Stück spazieren. Dabei war er vielleicht zu schwach vorgegangen, denn sie hatte den Kopf geschüttelt und gelacht. »Mit uns zwei wird es nichts, das wüsst ich aber!«

Am Zeitungskiosk kaufte er sich einen Liebesroman, setzte sich auf eine Bank an der Nette und steckte sich eine Zigarette an, die er der Nachttischschublade des Vaters entnommen hatte. Der Titel des Heftchens klang vielversprechend: Für immer Liebe. Besonders das Foto entwickelte Leichtigkeit in seinem Kopf und erinnerte ihn an das Mädchen aus der Kantine: Eine blonde, knapp bekleidete Frau an einem Tisch, gebeugt über ein Buch, sodass man ihr Gesicht nicht richtig sehen konnte. Hinter ihr ein Mann mit Schnurrbart und geschlossenen Augen. Seine Hände verschwanden im lockigen Haar der Frau. Während Hans den Rauch tief inhalierte, betrachtete er das Foto, stellte sich vor, wie der Mann den Nacken der Frau kraulte und was die beiden wohl tun würden, wenn die Frau das Buch zuklappte. Dabei dachte er an das Mädchen in der Kantine.

Aber der Roman hielt sein Versprechen nicht. So billig wie der dünne Umschlag war die Handlung: seicht und langweilig. Zudem völlig ohne Liebesszenen. Enttäuscht las er es bis zur Hälfte, rollte das Heft zusammen und schob es in seine Jackentasche.

Im Gasthaus Roter Ochsen bestellte er ein Bier. An den Tischen saßen Arbeiter aus den Steinbrüchen. Die Luft war schwer vom Schweißgeruch und Sauerkrautdunst. Hans sah den Kartenbrüdern zu und dann der Kellnerin hinterher, wie sie Gläser brachte und Aschenbecher abräumte, Tische abwischte, Gläser einsammelte und kassierte. Er betrachtete ihre wippenden Brüste und die sich unter einem engen Rock abzeichnenden prallen Oberschenkel, stellte sich vor, wie sie beim Gehen aneinander rieben.

Als er das Gasthaus verließ, war es Abend und niemand mehr unterwegs. Er schlenderte den Entenpfuhl entlang. Das Mädchen aus der Kantine kam aus einer Seitengasse und ging eine Weile vor ihm her. Der Wind brachte Bewegung in ihr Haar, ihre Schritte waren kurz und leicht.

Er folgte ihr.

Sie hatte ihn abblitzen lassen, ihn vielleicht ausgelacht. Dafür hasste er sie. Etwa dort, wo die Synagoge gebrannt hatte, holte er auf, sprach sie an. Ihr Blick war kalt.

»Was willst du?«

Es war nur ein Moment. Sie blieb stehen, er drängte sie an ein Gemäuer, dachte, sie würde sich nur zieren, dachte, als sie sich sträubte, fester zupacken zu müssen, riss an ihrer Weste, tastete nach ihren Brüsten. Sie wehrte sich mit verblüffender Kraft, schrie und trat mit den Füßen.

»Hau ab! Lass mich!«

Er versuchte sie zu küssen, sie presste den Mund zusammen, schlug ihm ins Gesicht. Außer Atem standen sie sich gegenüber. Als er sie so stehen und japsen sah, kam sie ihm plötzlich billig und dumm vor. Sie keuchte, ein Lufthauch bewegte die Haarsträhne auf ihrer Stirn, der Mund stand halb offen, der Lippenstift war verwischt. Ein billiges Mädchen, das in einer Kantine aushalf. Er ließ sie los, wandte sich ab und ging. Die Kantine betrat er erst wieder, als eine andere dort bediente.