Befehle

Die Stadt, in der er aufwuchs, litt. Der erste Kriegswinter war kalt und lang, die Nette war bis in den März mit dickem Eis bedeckt. Die Hälfte der Männer war eingezogen worden. Auch der Vater hatte die Uniform anziehen müssen, lag dann aber wegen einer hartnäckigen Infektion der Lunge längere Zeit in einem Lazarett irgendwo in Polen, von wo aus er regelmäßig Briefe an die Mutter schrieb.

Bei Verdunklungsübungen waren einige Unfälle passiert. Ein Offizier stürzte an der Postbrücke über das niedrige Geländer vor der Steinmetzfachschule in den Fluss. Ein junger Mann rannte in die große Schaufensterscheibe des Jeiter’schen Hauses neben dem Rathaus, wobei er sich erheblich verletzte.

Alles drehte sich plötzlich um Sicherheit. Öffentliche Luftschutzräume wurden eingerichtet und nachts durch eine beleuchtete Laterne gekennzeichnet. Auf dem Goloturm befand sich neuerdings ein Wachhäuschen zum Schutz des Wächters, der sich dort eingerichtet hatte.

Im Frühjahr, zu Beginn des Feldzugs Richtung Frankreich, zogen Soldatentrupps durch die Stadt. Tage ging das. Dort, wo sie durchmarschierten, hielten Helfer Kaffee, Brote und Zigaretten bereit. Auch die Mutter brühte Kaffee, kochte Eier und backte mehrere Zopfkuchen mit Zuckerstreuseln. Hans und Hein mussten beim Verteilen helfen, was nicht lange dauerte, rissen ihnen die Soldaten die Sachen doch förmlich aus den Händen. So voll war die Stadt lange nicht mehr. Als die Soldaten weiterzogen, lagen Straßen und Plätze wie verlassen.

Hatten die Geschäfte der Juden schon vor Kriegsausbruch dicht gemacht, so blieben jetzt auch Läden zu, deren Inhaber zur Wehrmacht eingezogen worden waren. ›Vorübergehend geschlossen‹ stand auf den Aushängen, die in die Schaufenster geklebt waren. Metzgerläden blieben bald am Dienstag ganz geschlossen, die Friseure führten wegen des Personalmangels Ruhetage ein, ebenso die Gastwirtschaften. Zigarrengeschäfte verkürzten die Öffnungszeiten wegen Warenmangel.

In Hans’ Klasse fehlten immer mehr Schüler. Zwei von ihnen wurden in Judenhäuser gebracht, lebten dann für einige Zeit in Mühlen des oberen Nettetales und waren irgendwann ganz verschwunden. Der Lehrer erklärte die Sache so, dass jeder es verstand.

Knapp zwei Jahre darauf gehörten Sirenenalarm, Luftschutzkeller und Bomben zum Alltag. Immerzu rauchte und schwelte etwas. Berge von Schutt. Darunter Verschüttete. Am Abend gingen die Lichter aus. Niemand durfte ohne triftigen Grund auf die Straße. Die Nächte waren schwarz und ungewiss. Vom Vater kam nur noch selten Post. Jeden Tag wartete die Mutter auf den Briefträger, manchmal rannte sie ihm hinterher und kam mit enttäuschtem Gesicht zurück.

Ohne Wasser, oft auch ohne Licht und Gas, war das Durchhalten beschwerlich. Obdachlos Gewordene zogen mit Handwagen, Pferdegespannen oder Lastautos durch die Straßen. Hier und da klopften sie an, bettelten um Unterkunft und Essen.

Hans hasste das Gebettel der Obdachlosen. Die vielen grauen Gestalten und die verängstigten Blicke machten ihm schlechte Laune. Er kannte keine Angst. Er war eingebunden in alles, was mit dem Sieg zu tun hatte und der war so sicher wie die Sterne am Himmel. Eine Siegesmeldung folgte der anderen. Manchmal läuteten deswegen sogar die Glocken.

Seine wenige freie Zeit verbrachte er mit Radio hören. Von den Reden verstand er nicht viel, aber die Schlager gefielen ihm. Das Wunschkonzert für die Wehrmacht versäumte er nie. Die Schlagertexte kannte er alle. Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern. Und: Lili Marleen. Sein Lieblingslied.

Obwohl es wegen der Luftangriffe gefährlich geworden war, so ging er doch zu Fußballspielen, auch wenn diese häufig verlegt und recht kurzfristig angesetzt wurden.

Immer lauter drang der Donner der Geschütze von Westen her in die Stadt. Immer mehr Bomben fielen, immer mehr Häuser sanken in sich zusammen, immer öfter verbrachten sie Nächte in den Luftschutzbunkern, immer mehr Menschen wurden vermisst oder tot aus Schuttbergen gezogen. Als gemunkelt wurde, dass die 6. Armee in Stalingrad aufgerieben worden sei, sprach Tante Käthe vom nahen Ende. »Wag es nicht!«, schrie die Mutter und Hans hätte die Tante am liebsten aus dem Haus gejagt. Käthe hatte keine Ahnung und ging ihm ohnehin auf die Nerven mit ihrer Schwarzseherei.