Krieg, letzter Winter

Erst als er zu einer Spezialschulung an die Kriegsschule Milowitz geschickt wurde, einer Militärschule für Fahnenjunker, nördlich von Prag, hatte Hans wieder das Gefühl, zu leben. Die Lungen stachen nicht mehr, nur auf der Einschlagstelle war eine Narbe zurückgeblieben. Obwohl die Unterkünfte sich als primitive Baracken erwiesen, schien ihm der Wechsel wie ein Aufbruch in die Freiheit. Allein das Rangabzeichen auf der Schulter war Ansporn. Eine feldgraue Doppelborte aus Stoff würde es sein, vielleicht auch eine doppelte Aluminiumtresse.

Anfangs unterschätzte er die Gefechtsübungen. Sie wurden nämlich mit scharfer Munition ausgeführt, was gleich in der ersten Woche zu einem Todesfall führte. Einer der Kameraden hatte eine sich noch im Lauf befindliche Patrone in einem Maschinengewehr übersehen. Beim Aufnehmen des Gewehrs und dem Aufstoßen auf den Boden, wobei das Dreibein zusammengeklappt und an der Aufnahmehalterung am Lauf befestigt wurde, löste sich ein Schuss. Das Geschoss traf den Schützen von unten durch das Kinn zur Nase und durch den Kopf.

Aus Hans’ Stadt kamen schlimme Nachrichten. Die Mutter schrieb, dass die Clemenskirche nach einem Bombenhagel in sich zusammengesunken sei, dass auch die Arche, das älteste Haus der Stadt, der Zehnthof und anliegende Gebäude getroffen seien und von der Herz-Jesu-Kirche nur noch der Turm übrig sei. Ein Volltreffer habe die Brücke zur Unteren Ringstraße zerstört, Zeitzünder und Blindgänger seien explodiert, die Zahl der Obdachlosen kaum zu zählen. »Die Stadt ist wieder ohne elektrisches Licht, auch ohne Gas und Wasser. Vielleicht hast du es besser getroffen als wir, wo du jetzt bist.« Vom Vater schrieb sie nichts.

Nur zwei Wochen später wurde ihm ein Brief seines Bruders ausgehändigt und diese Nachricht löste in Hans eine Verwirrung und Hilflosigkeit aus, die ihn tagelang lähmte. Hein schrieb, dass das Haus zerbombt wurde, dass die Mutter stundenlang unter den Trümmern gelegen habe, bis es gelungen sei, sie zu retten.

Hans lag auf seiner Pritsche und während er den Brief immer und immer wieder las, lief im Radio ein Weihnachtslied. Was ist schon Weihnachten, dachte er und stellte sich vor, wie jemand die Mutter an den Beinen unter Steinen und Geröll hervorzerrte, wie sie nach Hilfe schrie, wie sie blutete und zitterte. »Es wird schon gleih dumper, es wird ja schon Nacht, drum kim i zá Dir he, mein Heiland áf d Wacht; will singer á Liedl, mein Liebling den klain’. Du magst ja nöt schlafen, i hör Di nu wain’. Hei, hei! hei, hei! Schlaf süeß, Du schöns Kind!«

Aber die Mutter war ja gar nicht gemeint, dachte er, es war eine Bombe, abgeworfen aufgrund eines Befehls, die Mutter war nicht gemeint, niemand war gemeint. Sogar Gott war nicht dafür da, jemanden zu schonen, auch keine Stadt. Oder eine Mutter. Befehl ist Befehl. Die Bombenwerfer sehen von oben nur Brände und Lichter, nicht die Mutter, nicht das Haus. So muss es wohl sein, sie sehen nicht, was unten passiert, was sicher so sein muss, denn sonst könnten sie die Bomben kaum fallen lassen.

Eigentlich wollte er dem Bruder sofort antworten. Aber er schaffte es nicht, zog es vor, sich eine Zigarette anzuzünden. Seine Gedanken waren zu müde. Auch am Tag darauf schrieb er nicht. Den ganzen Monat fand er weder die Zeit noch die Ruhe.

Die Schulung war wenig spannend, aber nach nur zwei Monaten durfte er sich Leutnant nennen und kam nach Wiesbaden zur Führerreserve West. Hauptsächlich unbeschäftigte Offiziere waren hier untergebracht, die auf einen neuen Einsatz warteten. Die Stimmung war schlecht. Sie redeten nur über den Krieg. Der Führer hatte angeordnet, alle Verkehrs-, Nachrichten- und Industrieanlagen, die in die Hand der Alliierten fallen könnten, zu zerstören. Auf den Stuben in der Kaserne wurde diskutiert. Meinungen flogen hin und her. Was den Führer betraf, so war sich Hans ganz sicher: »Er wird uns nie im Stich lassen.«

»Und was war in Stalingrad?«, schrie jemand, »abgesoffen ist sie, die 6. Armee, und keiner hat geholfen!« Niemand antwortete. Angst machte sich breit. Bomben fielen jetzt täglich. Die Nächte verbrachten sie in einem Bunker. Die Stadt war kaum noch zu erkennen. Überall lungerten Obdachlose. Die Innenstadt lag voller Trümmer. Die Gleise am Bahnhof hatten sich in einen wirren Knäuel von verbogenen Stahlschienen verwandelt.

Hans blieb nur 14 Tage und empfand Erleichterung, als endlich neue Order kam. Mitte März hieß es, dass er als Offizier zum Kampfkommandanten des Brückenkopfs Oppenheim-Nierstein geschickt würde. »An den Rhein geht es! Da können Sie ja fast zu Fuß nach Hause gehen«, scherzte sein Vorgesetzter nach der Frage, wo er denn herkomme.

Hans sah auf der Karte nach. So nah an zu Hause war er lange nicht. Aber an einen Besuch bei der Mutter war absolut nicht zu denken. Ein Luftangriff folgte dem anderen. Immer wieder Tiefflieger. Es gab keine Ruhe mehr, weder in der Nacht noch am Tag. Die Lage war mehr als brenzlig und sein Einsatz am Brückenkopf unverzichtbar. Die Sache würde sich lohnen. Tag und Nacht Einsätze. Viel Kraft wäre vonnöten. Wenn bloß alle so denken würden, dachte er, könnte man den Sieg schon greifen. Sieg, Heil! So wird es kommen, so, wie es der Führer versprochen hat.

Nierstein lag am linken Rheinufer inmitten von Weinbergen. Überall Reben. Irgendwo ein Turm. Fast idyllisch, wäre da nicht diese Unruhe gewesen, das Gefühl, dass bald Entscheidendes geschehen würde. Im Ort gab es Fachwerkhöfe, deren Alter nur zu schätzen war. Von Bomben waren sie zumeist verschont geblieben. »Wenn wir den Krieg nicht hätten«, meinte einer seiner Kameraden, der Hans durch den Ort begleitete und sich auskannte, »würden wir jetzt zum Wartturm wandern. Das ist sozusagen das Wahrzeichen der Gegend. Da oben kommt man auf ganz andere Gedanken. Der Wind, die Sonne. Ein Blick bis nach Frankfurt und zum Odenwald mit dem Melibokus 2 . Ja, da oben kann man glatt die Welt vergessen.« Hans tippte sich an die Stirn. »Die Welt vergessen? Wir haben anderes zu tun.«

Mit der Fähre ging es dann auf die rechtsrheinische Seite, wo er im ersten Stock einer ehemaligen Schule unterbracht wurde. Um die Schule herum lag ein Lehrgarten, um den sich offensichtlich lange niemand mehr gekümmert hatte. Hier und da steckten kleine Tafeln aus Schiefer in der Erde: Thymian, Salbei, Lauch. Aber die ehemaligen Beete waren zertreten, die Pflanzen herausgerissen. Im Haus roch es permanent nach Kohlsuppe, obwohl niemand kochte. Auch der Geruch nach Schweißfüßen war nicht zu vertreiben. In dem Zimmer, in dem Hans schlief, gab es nur sechs Möbelstücke, genau genommen sieben, wenn man das Waschbecken mitzählte. Ansonsten ein Tisch, ein Schrank, drei Pritschen aus Holz, eine davon mit einer dreiteiligen Matratze, und ein Liegestuhl, der zusammengeklappt werden konnte. Auf dem Tisch standen ein Radio und ein Wecker. Wenn er allein war, was eigentlich nur in der ersten Woche der Fall war, saß er bei ausgeschaltetem Licht in diesem Liegestuhl, hörte Radio, verharrte mit offenen Augen, die er auf eine ganz bestimmte Stelle, nämlich einen Fleck auf der Tapete richtete, was ihn in eine Art Trance versetzte. Wenn er das sehr lange machte, brannten die Augen. Der Liegestuhl aus braunem Holz mit einem blumenbestickten Polsterkissen erlaubte drei Stellungen, aufrecht bis flach. Gelegentlich veränderte Hans diese Stellung, je nach der Musik, die im Radio gespielt wurde. Manchmal stellte er die Rückenlehne des Stuhls auf die flachste Position, steckte sich eine Zigarette an und ließ sich ganz nach hinten rutschen.

Die zweite Woche brachte ihn an den Rand seiner Kraft. Es gab keine Ruhe, nur Lärm und ständige Kommandos. Seine Vorgesetzten waren gehetzt, niemand hatte Zeit, ihm etwas zu erklären.

In den Tagen darauf wurde im linksrheinischen Oppenheim ein Gefechtsstand eingerichtet.

Es war an einem Mittwochmorgen, als sie einen Fahnenflüchtigen an den Rhein schleppten. Der Mann war am Morgen gefasst worden; es hatte ein kurzes Standgericht gegeben. Tod durch Erschießen, hieß es. Eigentlich war es kein Mann, eher ein Junge, der bibbernd seine Unschuld beteuerte. Zwei Volkssturmleute wurden abkommandiert. Sie sollten beide auf ihn schießen. »Das ist leichter«, meinte der Kommandeur, der die Gewehre lud, »dann hat später keiner ein schlechtes Gewissen.« Einer der beiden zögerte, willigte aber schließlich ein. Der Junge weinte, winselte, bettelte, sackte schon zusammen, bevor geschossen wurde. Wie ein Bündel Lumpen lag er dann am Ufer. Hans sah, wie ihn die Volkssturmleute an Schultern und Füßen packten und über den Kies zogen. Eine dünne Blutspur blieb zurück.

Am Nachmittag wurde Hans zum Kampfkommandanten beordert. Der Kampfkommandant hieß Hanske und sah so aus, als ob mit ihm alle Schlachten zu gewinnen wären. Groß, breit und muskulös. Hanske erläuterte ihm die Situation, indem er eine Karte mit dem Verlauf des Rheins ausbreitete, mit seinem nervösen Zeigefinger auf den Ort Remagen wies und ihm darlegte, dass diese und auch andere Rheinbrücken dringend gesprengt werden müssten, auf gar keinen Fall den Alliierten überlassen werden dürften. »Die Amerikaner haben die linke Rheinseite erreicht und kommen rasend schnell voran. Sie sind nicht zu unterschätzen. Aber wir sind schneller, kapiert?« Von Hand hatte er Brücken eingezeichnet, die von der Wehrmacht gesprengt worden waren. »Siehst du die roten Punkte? Von hier werden sie kommen. Wir sind vorbereitet, werden durchhalten und kämpfen! Es geht um alles! Wir werden nicht nachlassen, wenn nötig bis zum letzten Mann. Wir werden denen zeigen, zu was die deutsche Wehrmacht fähig ist! Nur darum geht es jetzt: Kampf! Und wenn wir alle dabei draufgehn!«

Er erklärte Hans die Aufgaben. Hans sollte die Transporte an der Fähre am rechtsrheinischen Kornsand überwachen. »Also Kaiser, rüber! Dort die Soldaten sammeln und festhalten. Der Rhein muss verteidigt werden! Das heißt permanent aufpassen und wachsam sein! Und vor allem: Nicht alles rüberlassen! Nur noch Militär, verstanden?« Hans verstand.

Hans gehörte zum Stab von Hanske. Der Stab war schlecht besetzt. Neben einer Handvoll Volkssturmmänner gab es einen Leutnant namens Schniering, der in Russland so schwer verletzt worden war, dass er jetzt als wehruntauglich galt. Die Partei sorgte für ihn und hatte ihn zum Leiter des Reichsschulungslagers bestellt, das vor ein paar Monaten nach Oppenheim verlegt worden war und Schniering hielt an der Berufung fest, auch als sie längst nicht mehr galt.

Schniering war klein, unauffällig, sein Körper gedrungen. Die Haare waren mit Pomade an den Kopf geklebt, rechts seitlich gescheitelt, kurz geschnitten. Sein glattes Gesicht glänzte. Mit eingekniffenen Lippen und flinken Augen ging er in seiner Uniform auf und ab, die Hände auf dem Rücken verschränkt propagierte er den Endsieg. »Oppenheim ist im Verteidigungszustand. Der Brückenkopf wird bis zum letzten Mann gehalten! Es lebe der Führer!« Ein weiterer Leutnant war neu bei der Truppe und hieß Funk. Funk war drahtig und durchtrainiert, hatte ein energisches Gesicht mit einem kurzen Schnurrbart. Er hatte den Befehl, neu zugeführte oder zurückweichende Soldaten zu sammeln und den am Brückenkopf eingesetzten Einheiten zuzuordnen.

Hans bezog seinen Posten am rechten Rheinufer und behielt die Fähre im Blick. Manchmal saß er lange dort, ohne dass etwas passierte, sah zu, wie das Fährschiff im Wasser schwankte, wie sich die Wolken im Rhein spiegelten, wie ein finsteres Gebilde aus Gestrüpp sich mit der Wasserrichtung drehte, dabei auf- und abtauchte. Bisweilen bildete er sich ein, dass alles gut sei, friedlich, ja fast idyllisch, wäre da nicht diese Unruhe gewesen, die nicht mehr wegging, sich sogar mit jeder Stunde steigerte. Denn mit jeder Stunde, hatte Funk gesagt, näherten sich die Amerikaner und sie würden bald hier sein, sie würden schießen, sie würden töten und sie würden selbst getötet werden.

»Wenn sie siegen, dann Gnade uns Gott.«

Hin und wieder warf er einen Stein ins Wasser, beobachtete die Kreise, die er zog und wie die Kreise von der Flut verwischt wurden. Ein Storch stakste mit roten, langen Beinen durch Gezweig und Schlamm, das der Rhein angeschwemmt hatte. Im Frühjahr führte der Strom mehr Wasser als im Sommer und Hans kam ins Grübeln, wie viele Liter Wasser wohl an einem Tag am Kornsand vorbeiflössen. Er überlegte, wo der Rhein entspringt. In der Schule hatte er einmal eine Karte vom Rheinverlauf zeichnen müssen. Damals hatte er es gewusst. Jetzt aber konnte er nicht einmal mehr die Städte aufzählen, an denen der Strom vorbeizog. Köln, Düsseldorf und dann? Er hatte Mühe, die Gedanken zu sammeln, zwang sich nachzudenken und kam zu dem Ergebnis, dass die Quelle irgendwo in der Schweiz liegen musste, dass also der Rhein das ganze Reich durchflösse, bis er in der Nordsee mündete. Welches war der längste deutsche Fluss? Rhein oder Elbe? Er war sich nicht sicher. Wahrscheinlich der Rhein. Der Rhein war unser Vater. Vater Rhein. Aber jetzt: Wach bleiben. Wach bleiben.

Manchmal rissen Trupps ihn aus seinen Betrachtungen. Dann hatte er alle Hände voll zu tun, bei jedem die Papiere zu kontrollieren.