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ie schaute sich in dem dreckigen Raum noch einmal genau um, während sie den lauten und schweren Geräuschen seiner letzten Atemzüge lauschte. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf. Sie hasste es, wenn man versuchte, sie auszutricksen. Keiner nahm sie ernst und letztlich musste sie den Job erledigen. Ihr war klar, dass sie noch zu jung war und sie genau deswegen keiner akzeptierte.
Als sie sich über den fast leblosen Körper beugte, um ihr Messer aus seinem Fleisch zu ziehen, dachte sie kurz darüber nach, wie einfach diese Jobs wären, wenn sich jeder an die Vereinbarungen halten würde. Doch wie üblich versuchte ein Kleinkrimineller, sie zu linken. Mit ihrem Messer in der Hand ging sie ins Badezimmer und sah zu, wie sich Blut und Wasser im Becken vermischten, bis die Klinge wieder glänzte. Schließlich trocknete sie ihr Lieblingsmesser mit einigen Papierhandtüchern ab und versteckte es im Lederriemen am Oberschenkel unter ihrem Rock.
Seufzend packte sie die Taschen, die auf dem Tisch standen, zusammen und verließ die übelriechende Wohnung.
Den mittlerweile toten Mann ließ sie ohne Bedenken zurück.
Die Taschen waren viel zu schwer für sie, um sie die Treppen hinunter zu tragen. Also warf sie beide von Absatz zu Absatz. Sie wollte fluchen, weil sie wusste, wer vor dem Haus
im Auto auf sie wartete. Erst musste sie den Job allein erledigen und dann auch noch körperliche Schwerstarbeit leisten. Die hasste sie besonders, wo sie doch so zierlich war.
Endlich kam sie schwer atmend am Hauseingang an und öffnete die Tür. Nach den drei Etagen warf sie beide Taschen wutgeladen auf den Schotterplatz vor der Haustür. Sie musste feststellen, dass der muskulöse, afroamerikanische Mann in schwarzer Kleidung die Arme vor der Brust verschränkt hielt und sie dabei amüsiert betrachtete. Genau das brachte sie erst recht zur Weißglut.
»Guck nicht so doof! Hilf mir lieber!«, schellte sie genervt.
»Nicht so frech, kleines Fräulein!« Er lachte, kam aber auf sie zu.
»Ich bin nicht klein! Ich bin schon vierzehn!« Sie stützte ihre Hände in die Hüften. »Und beeil dich mal, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, Großer!«
Mit einem verwunderten Blick musterte der Mann die Taschen. »Zwei?«
»Oh, du kannst ja zählen«, spottete sie und ging an ihm vorbei. »Aber ja. Es ist nicht wie geplant gelaufen.«
Der Mann nahm die beiden Taschen und ging zurück zum Auto. »Was heißt das?«
»Das heißt, dass es jetzt zwei sind, anstatt eine!?«, erwiderte sie und öffnete die Autotür des schwarzen BMWs. »Na ja, und dass du Calvin Bescheid sagen musst. Es ist ein Aufräum-Team notwendig.«
»Wirklich, Kleines?«, seufzte der Mann, als er sich ins Auto setzte, nachdem er den Ballast auf den Rücksitz geworfen hatte.
»Ist daran etwas nicht zu verstehen?« Sie schnipste mit ihren Fingern und hob eine Braue.
»Hör mal, du musst nicht gleich jeden umbringen.«
»Ja, genau! Weil du so denkst, sitzt du immer im Auto, während ich den wirklichen Job erledige!«, zog sie ihn erneut
auf.
»Ich denke nun mal, dass ein lebendiger Kunde eher zahlt als ein Toter!«
»Da denkst du leider falsch. Der Typ war ein Zwischenmann, der testen wollte, ob er Calvin verarschen kann. Nun weiß sein Boss, dass mit Calvin nicht zu spaßen ist! Punkt.«
»Aber …«
»Nichts aber!«, unterbrach das Mädchen den großen Mann. »Quatsch mich jetzt nicht zu und fahr endlich!«
»Du bist ganz schön frech, Kleines!«
»Ja, und du gehst mir auf die Nerven! Wenn ich Lust auf Smalltalk hätte, würde ich dir Tee und Gebäck anbieten«, gab sie genervt zurück und schaltete das Autoradio ein. Sofort drehte sie die Musik lautstark auf, um jedes weitere Wort in dessen Klängen zu ersticken. Nach einer viel zu langen Strecke fuhren sie die Einfahrt eines Anwesens nach oben. Ehe der Fahrer die Taschen nahm, parkte er vor der Villa. Ohne zu warten oder die zwei großen Wachmänner zu beachten, ging sie ins Haus. Kurz darauf kam ihr der afroamerikanische Hausherr entgegen und lächelte sie freudig an.
»Na, meine kleine Kitty, hat alles geklappt?«, begrüßte er sie mit offenen Armen.
Der attraktive Mann trug seine Haare kurz und einen grauen Anzug. Trotz seiner gerade einmal dreiundzwanzig Jahre hatte er alles im Griff. Ihm blieb auch nichts anderes übrig, denn er hatte die Geschäfte nach dem Tod seines Vaters übernehmen müssen. »Nein«, knurrte jemand hinter den beiden. Der Fahrer trat ein und stellte die Taschen ab. »Nein, Boss«, wiederholte der große muskulöse Mann und strafte das Mädchen mit einem tadelnden Blick, während er die Arme vor seiner breiten Brust verschränkt hielt.
»Wenn jetzt beide Taschen da sind, ist es doch gar nicht so schlecht gelaufen!?« Der Boss zwinkerte ihr zu und strich ihr
über das Haar. Seine Stimme war sanft und väterlich.
»Malcolm, kümmere dich um alles«, befahl er dem Fahrer. Dieser nickte als Antwort und ging sofort hinaus.
»So, Kitty, bleibst du zu Hause?« Er nahm ihre Hand.
Doch sie zog sich zurück und hob eine Braue.
»Ich geh zu meinem Trailer.«
Der Trailer war ihr Zuhause. Auch wenn sie in der Villa ihr eigenes Zimmer hatte, verbrachte sie nur selten ihre Zeit dort.
»Gut, dann geh und lern für die Schule. Wir sehen uns morgen wieder. Brauchst du noch etwas?«
»Nein«, schüttelte sie den Kopf.
Sie mochte ihn sehr und sie war ihm zu Dank verpflichtet, genau wie Malcolm. Doch das zu zeigen fiel ihr schwer. Deshalb war sie einfach nur da, wenn sie gebraucht wurde, und ging, sobald alles zu ihrer Zufriedenheit erledigt war.
»Kauf dir etwas Schönes«, lächelte er sie an und hielt ihr ein Bündel Geldscheine hin, welches sie nahm. Anschließend stapfte sie nach Hause: in den Trailerpark. Auf dem Weg dachte sie darüber nach, ob sie von dem Geld etwas Schönes für ihren besten Freund kaufen sollte.
Seit dem Tod seiner Mutter ging es ihm immer schlechter. Sein Vater kümmerte sich nie um ihn. Zudem wurde er stets von den Mitschülern in der Schule gehänselt. Obwohl sie so verschieden waren, mochte sie ihn wirklich sehr. Er war viel besser in der Schule als sie, aber sein Leben war armseliger. Zumindest hatte sie noch den Wohnwagen. Ihr Freund wohnte mit seinem Vater in einer Bretterbude hinter der Wohnwagensiedlung.
Vielleicht würde sie sie ihm, wie so oft, heimlich Geld schenken. Dann könnte er sich selbst damit kaufen, was er brauchte. Sie rannte los. Ihr Ziel war es, vor seinem Vater anzukommen. Dieser würde ihrem Freund nämlich das Geld sofort wieder abnehmen, wenn er davon Lunte roch. Im schlimmsten Fall würde er ihm in seiner Trunkenheit sogar
etwas antun. Nach fünfzehn Minuten erreichte sie das kleine, zerstörte Häuschen.
Wilde, gefährliche Geräusche ertönten über der Straße.
Sie ertrug kaum das Gewimmer ihres Freundes. Es schmerzte sie bis in die Knochen. Daher schlich sie sich erst einmal an das Haus heran und schaute durch das kaputte Fenster in den Wohnbereich.
Erschrocken stellte sie fest, wie blutüberströmt das Gesicht ihres Freundes war, während der Vater ihn würgte.
Ohne zu überlegen, schritt sie durch die Tür des Hauses auf die beiden zu.
Sie überlegte nicht. Sie handelte.
So, wie sie es immer tat.
»Lass ihn los!«, hörte sie sich selbst schreien.
»Hau ab!«, brüllte der Vater zurück, ohne aufzusehen. Weiter hielt er seinen Sohn zwischen seinen Fingern am Hals gefangen und drückte zu. Er war betrunken. Aber das gab ihm nicht das Recht, ihren Freund zu würgen, bis er blau anlief. Lebte er überhaupt noch? Er sah so schlaff aus, wehrte sich mittlerweile nicht mehr. Angst machte sich unaufhörlich in ihr breit. Sie durfte ihn nicht verlieren.
»Lass ihn los! Ich sage es kein zweites Mal!«, schrie sie weiter.
Plötzlich bemerkte sie, wie sie instinktiv nach ihrer Pistole gegriffen hatte und sie auf den Vater ihres Freundes richtete. Dann ließ er ihn endlich los.
»Was willst du machen? Hau ab!«, brüllte er und kam auf sie zu. Sie dachte nicht nach und drückte den Abzug.
Ein Knall ertönte.
Stille legte sich über den Raum.
Wie erstarrt stand sie da, konnte nicht fassen, was sie da gerade getan hatte.
Ihr bester Freund lag neben seinem toten Vater.
»Du und ich … «, hörte sie seine atemlose und zugleich
weiche Stimme. Langsam ging sie zu ihrem Freund, der regungslos am Boden lag. Sie beugte sich über ihn und hielt ihm dem kleinen Finger hin.
»… gegen den Rest der Welt …«, ergänzte sie.
Mit einem Zittern, das seinen ganzen Körper durchfuhr, umschloss er mit seinem kleinen Finger kraftlos den ihren.
»… für immer«, beendete er den Satz.
Er lebte und sie könnte nicht glücklicher sein.
Von diesem Moment an wusste sie, dass sie für immer auf ihn achten würde.
Und ihn auch nicht nur vor ihren Mitschülern beschützen musste, sondern vor der ganzen, restlichen Welt.