»
W
arum warst du am Freitag so schnell weg und das ganze Wochenende nicht erreichbar?«, fragte mich Alex, als ich den Zettel mit den Bestellungen an Jurij weitergab.
Vielleicht, weil ich damit meine Ruhe einfordern wollte? War diese Frau so hohl, dass sie nicht verstand, wie wenig Interesse ich daran hatte, meine Zeit mit ihr zu verschwenden? Selbst, wenn ich mehr Langeweile hatte, als ich gewohnt war.
»Du warst beschäftigt«, sagte ich knapp und ging zum nächsten Tisch. Schließlich war sie an dem besagten Freitag mit dem Kerl zugange gewesen.
Alex war schon wieder zu spät gekommen. Diesmal sogar zwei Stunden. Und anstatt endlich zu arbeiten, hielt sie nun Jurij von seiner Arbeit ab, um von ihrem ach so tollen Wochenende zu erzählen. Sie würde es wahrscheinlich nicht überleben, wenn sie für mich arbeiten würde. Dafür war sie viel zu unzuverlässig.
Immerhin bekam ich dafür das Trinkgeld, von dem ich jeden Penny gebrauchen könnte. Theoretisch brauchte ich nur zurück nach Detroit zu fahren. Denn in meinem Trailer und an
diversen anderen Orten verstecke ich genügend Cash. Doch leider gehörte es zum Versprechen im Zusammenhang mit meinem Neuanfang. Um diesen richtig zu gestalten, hatte ich sogar mein Geld zurückgelassen.
Was nun dafür sorgte, dass ich schuften musste wie eine Irre. Ehrliche Arbeit war hart und es kam nicht viel dabei rum. Eigentlich wollte ich unbedingt meinen Camaro holen. Aber der war leider im Unterhalt viel zu teuer. Dafür würde ich alles, was am Ende des Monats übrigblieb, beiseitelegen müssen. Dadurch schätzte ich natürlich auch den Wert meines Autos.
Miete musste ich jedoch auch noch zahlen.
Dieses Loch, worin ich wohnte, war noch schlimmer als mein Trailer. Als Jeff endlich sein Studium beendet und sich nach Jahren einen Namen als Anwalt gemacht hatte, war ich mir sicher gewesen, ich könnte nun besser leben und mir etwas Großes aufbauen. Geld hatte ich früher schließlich genug verdient.
Leider war es Jeffs Wunsch gewesen, dass ich zu ihm kam, um in Sicherheit zu sein. Was er darunter verstand, sah ich nun. Ich hatte sogar neue Kleidung kaufen müssen, weil Jeff der Meinung gewesen war, dass meine bestehende Garderobe nicht alltagstauglich sei.
So ein Idiot.
Aber ich musste mich ihm fügen. Immerhin waren wir eine Familie. Beste Freunde, seit ich denken konnte. Doch schon immer fühlte es sich eher an, als wären wir Geschwister. Das stand mittlerweile auch so in den Papieren. Stets stellte er mich als seine kleine Schwester vor. Obwohl nur ein Jahr zwischen uns lag, war es während unserer Kindheit und Jugend eher andersherum gewesen. Heute nahm er seine Rolle als großer Bruder ernst. Ich konnte auch nicht so weiter machen wie bisher. Schließlich war er ein bekannter Staatsanwalt und ich, na ja, eben anders – dunkler und freier.
Deswegen musste ich mein altes Leben aufgeben. Sonst hätten sich früher oder später unsere Wege getrennt und das wollte keiner von uns. Zu fest waren wir miteinander verbunden, denn wir hatten nur noch uns.
Jeff besaß zwar noch einen fünf Jahre älteren Bruder, aber der hatte Jeff mit seinen gerade einmal zehn Jahren in der Hölle zurückgelassen. Das trug ich ihm noch heute nach. Allerdings war er es gewesen, der Jeff durch sein eigenes Jurastudium dazu motiviert hatte, ebenfalls Anwalt zu werden. Der ihm ein neues Ziel im Leben gegeben hatte.
Ich unterstützte Jeff, hatte mir das jedoch ein wenig anders vorgestellt. Er nahm das viel zu ernst. Dank seiner Vergangenheit wollte er jeden Verbrecher eingesperrt sehen.
Jeden.
Innerlich lachte ich ihn dafür aus, denn sein Studium war nicht von reichen Eltern oder einem Erbe bezahlt worden, so wie er es seinen Freunden und Kommilitonen erzählt hatte. Woher genau das Geld kam, wusste er zum Glück nicht. Damals hatte sich Jeff noch an meine Regeln gehalten. Was auch besser so gewesen war. Sonst hätte er wahrscheinlich nie studiert.
Plötzlich bemerkte ich den neu besetzten Tisch und stellte schon von weitem fest, dass der attraktive D mit seinen Leuten in einer Nische saß. Verdammt. Ich dachte, dass ich ihn nach letztem Freitag nicht wiedersehen würde. Ein Zufall? Immerhin sah ich sie, seit ich im Restaurant angefangen hatte, das erste Mal hier.
Aber woher sollte er wissen, dass ich hier arbeitete? Zudem hatte er mir ja klar gemacht, dass er kein Interesse verspürte. War das nur sein Spiel? Ich hoffte es, denn ich wollte ihn. Seinen festen Griff plante ich, nicht an meinen Handgelenken zu spüren, sondern an meinen Hüften.
Als ich am Tisch stand, entschied ich mich jedoch für Professionalität. Ich ignorierte die Tatsache, dass ich diese
Männer bereits flüchtig kannte. Und vernachlässigte den Umstand, dass ich einen von ihnen lieber nackt in meinem Bett sehen würde, anstatt im Anzug hier im Restaurant.
Ich begrüßte sie mit einem Lächeln und fragte nach ihren Wünschen. Ein fetter Fehler, denn es ging direkt los.
»Wunsch? Habe ich einen frei?«, fragte der Kleinste der Gruppe. Mit seinen weißen Zähnen und aus blauen Augen lächelte er mich an. Seine Haare waren blond und er trug sie etwas länger. Außerdem hatte er kleine Grübchen, die wahrscheinlich bei jeder Frau das Bedürfnis auslösten, ihm in die Wange zu kneifen.
Er sah nicht nur sympathisch aus, auch seine ganze Ausstrahlung hatte nichts Gefährliches oder Einschüchterndes an sich. Auch, wenn es bei diesen Männern schwer war, lenkte ich meinen Fokus zurück zur Arbeit.
»Leider bin ich keine gute Fee. Aber alles was auf der Karte steht …« Ich zeigte auf die Speisekarte, die er in der Hand hielt. »… bringe ich Ihnen liebend gerne.«
Ich schaute ihm in die Augen, ohne den Rest am Tisch zu beachten und schenkte ihm mein nettestes Lächeln.
»Stimmt. Du bist eine Prinzessin, die heute das Volk bedient«, meinte der Größte mit herausforderndem Grinsen.
»Psst, ich bin inkognito.« Ich zwinkerte diesem Arschloch zu. Weiterhin blieb ich gespielt freundlich. Ich mochte ihn überhaupt nicht. Bei ihm hatte ich nämlich das Gefühl, dass er jeden herausforderte und wesentlich mehr Ärger anzog, als man ihm zutraute.
Ich roch seine dunkle, Macht ausstrahlende Seite, die mich definitiv in Schwierigkeiten bringen würde. In einem anderen Leben, an einem anderen Ort, hätten wir uns, vor allem geschäftlich, ganz sicher verstanden. Nur hier nicht.
»Was ist dir dein Geheimnis wert, Prinzessin?«
Fragte er mich das tatsächlich? Was glaubte dieser Mann bitte, wer vor ihm stand? Mist! – Eine Kellnerin, die nett und freundlich war. Verflucht!
, ärgerte ich mich innerlich.
Das waren entweder irgendwelche Wall-Street-Typen, die nur Geld im Kopf hatten, neureiche Typen oder abgehobene Bonzen, die keine Ahnung hatten, wie das mit der Macht wirklich lief.
Ich behielt meine Ich-bin-nett-Maske auf und schluckte den billigen Versuch, mich aus der Fassung zu bringen, herunter.
»Oh, Entschuldigung, Sie sehen für mich nicht aus, als hätten Sie es nötig, Ihre Kellnerin auszubeuten.« Ich lächelte noch immer übertrieben freundlich. Gut, höflich war das nicht, aber für meine Verhältnisse verhielt ich mich süß. Ich wandte mich dem sympathischen Mann mit den blonden Haaren zu, ohne D zu beachten:
»Sie dürfen mir jetzt gerne sagen, was sie bestellen möchten.«
»Und wenn wir noch andere Fragen haben?«, nervte mich der Große wieder, der den Ärger besser bei seinesgleichen suchen sollte, anstatt ausgerechnet bei mir. Das galt ebenso für seine verfluchten Fragen.
Ich hasste es, wenn man mir zu viele Fragen stellte. Nein, ich hasste Fragen an sich. Vor allem, wenn die Leute nicht damit aufhörten. Es war mir zuwider, weil sie Antworten erwarteten, die ich nicht bereit war zu geben.
Der Große hob eine Braue.
Ich lächelte ihn breit an, sodass all meine Zähne zum Vorschein kamen.
»Dann schicke ich Ihnen gerne meine Kollegin …«
Ich drehte mich zur immer noch quatschenden Alex um, die sich diesmal mit Mason, einem anderen Kellner, unterhielt. Es nervte mich, dass auch er lieber herumstand, als zu arbeiten. »… die, wie man sehen kann, vor Arbeitsmoral strotzt«, fügte ich hinzu.
»Das hört sich fast wie eine Droh… «, fing der Große an, aber D unterbrach ihn bestimmend: »Schluss jetzt!«
Ich schenkte ihm meine volle Aufmerksamkeit. Umgehend wurden meine Hände feucht. Er raubte mir augenblicklich den Atem. Ich umklammerte Notizblock und Stift als würden mir diese bedeutungslosen Gegenstände Halt geben.
»Bring uns drei Old Fashion, einen Kaffee und viermal die Tagesempfehlung, bitte.« Und reichte mir seine Speisekarte.
»Gern«, lächelte ich zaghaft, weil er mich auf einmal so nervös machte. Schon wieder begann er mich, aus seinen dunklen Augen heraus anzustarren. Verflucht, warum zog er mich nur so an?
Ich nahm die Speisekarten der drei anderen ebenfalls entgegen, während ich nach wie vor seine Blicke auf meiner Haut spürte. Selbst, als ich zu Jurij ging, um die Bestellung durchzugeben, ließ dieses Gefühl nicht nach. Auch, während ich an einem anderen Tisch abkassierte, hörte er nicht auf, mich zu mustern. Seine Blicke durchdrangen mich so stark, dass mir ein Schauer den Rücken herunterlief. Doch ich drehte mich nicht um. In dem Augenblick, in dem ich Alex bat, den leeren Tisch abzuräumen, waren auch schon die Getränke der Männer fertig.
Ich schnappte mir das Tablet und brachte es zu D‘s Tisch. Normalerweise war Kellnern kein Problem für mich, aber dieses Mal bekam ich weiche Knie, weil dieser verdammte Typ nicht aufhörte, mich anzustarren. Trotzdem ließ ich mir nichts anmerken und servierte souverän deren Drinks.
Der Brünette neben D schwieg, obwohl ich das Gefühl hatte, dass er etwas sagen wollte. Der Große bedankte sich nicht und als ich mich gerade umdrehte, sagte D mit kehliger Stimme:
»Danke, Jenny!«
So verflucht heiß. Und dunkel. Wie konnten diese zwei einfachen Worte nur so über meine Haut fegen, sodass sich meine Nackenhaare aufstellten?
Ich nickte nur und ging, um die nächsten Tische zu
bedienen. Zu etwas anderem war ich gerade auch nicht fähig. Wenn ich ihn noch öfters sehen würde, müsste ich ihn wohl irgendwann anbetteln, mit mir zu kommen.
Ich durfte nicht zulassen, auf irgendjemanden so zu reagieren. Wahrscheinlich war ich einfach untervögelt.
Nachdem ich mich um einen anderen Tisch gekümmert hatte, bat ich Alex, D’s Tisch zu übernehmen, um in Ruhe arbeiten zu können und nicht zu zerfließen. Sie tat es mit Freude. Kein Wunder. Die vier Männer waren die attraktivsten im ganzen Restaurant. Da ließ sich Alex, die Männergeile, nicht zwei Mal bitten. Sie quatschte ewig mit ihnen, sodass ich mich den anderen Gästen widmen konnte. Sobald einer die Hand hob, um erneut etwas zu bestellen, rannte Alex los. Wenigstens konnte sie endlich mal arbeiten. Wirklich interessant.
»Alles klar, Jenny?«, fragte mich Jurij, als ich den letzten Tisch abgeräumt hatte und das dreckige Geschirr in die Küche brachte.
»Immer«, bestätigte ich und zuckte mit den Schultern.
Jurij war Küchenhelfer und eigentlich ganz in Ordnung. Obwohl seine Zähne aussahen, als hätte er eine Meth-Abhängigkeit. Die Hauptsache war, dass ich seine Arbeit nicht auch noch erledigen musste. Außerdem war er der einzige Mitarbeiter in diesem Restaurant, der mich nicht permanent anbaggerte. Vor allem aber schätzte ich ihn, weil er ein Mensch weniger Worte, und sein russischer Akzent sympathisch war.
Vielleicht fühlte ich jedoch auch eine Verbindung, weil er ebenfalls nicht in Chicago zurechtkam. Dennoch würde ich ihn privat ignorieren. Niemandem zu vertrauen, war eine meiner Regeln. Ich könnte zudem gar nicht oft genug betonen, wie sehr ich Menschen hasste.
Das Beste war eigentlich, dass er mir Gras* verkaufte. Natürlich heimlich, sodass weder Jeff noch meine früheren
Bekannten es mitbekamen.
Ich ging zurück zur Theke und schaute, ob ich gebraucht wurde. Alles war soweit erst einmal erledigt, sodass ich mich zur Pause abmeldete. Alex und Mason konnten schließlich auch bedienen. Vielleicht würden sie dann endlich weniger quatschen und mehr arbeiten. Obwohl ich das Rauchen eigentlich aufgegeben hatte, schnurrte ich mir noch schnell eine Zigarette bei Jurij. So viel zum Thema, alte Laster hinter mir zu lassen.
Vor allem Cannabis konnte ich mir noch nicht vollkommen abgewöhnen. Diese Pausenkippe war eine Ausnahme, die ich nach dem Zusammentreffen mit D einfach brauchte.
Wie konnte ein so gutaussehender Typ, der nur wenige Meter von mir entfernt saß und mit seinem Blicken ein Feuerwerk auf meiner Haut hervorbrachte, nicht für einen Rückfall sorgen? Es war so schwer, diesen Mann zu ignorieren, denn er ließ es einfach nicht zu. Mir wurde immer bewusster, wie sehr alle vier nach meiner Aufmerksamkeit schrien, die sie nicht bekamen. Kein normaler Gast meldete sich so oft. Selbst, wenn sie darüber enttäuscht wären, ich würde es nicht bemerken, weil ich mir verbot, hinüber zu schauen.
Doch Alex murmelte mir auf meinem Weg nach draußen zu, dass besser ich zu diesem Tisch gehen sollte und sie die Falsche dafür war. Daraufhin zuckte ich nur mit den Schultern. Ihr war klar, dass Diskussionen sie hier nicht weiterbrachten. Immerhin übernahm ich die anderen Tische, während Alex nur diese eine Aufgabe hatte und Mason nicht mehr tat, als hinter der Theke Getränke zuzubereiten. Um Jakob, unseren Bartender, der ständig nur telefonierte, zu vertreten. Privatgespräche, wettete ich. Denn seine Frau war hochschwanger und nervte unentwegt. Ein Grund, warum ich keine Kinder kriegen wollte. Er hatte bereits zwei. Warum er sich das noch ein drittes Mal antat, verstand ich wirklich nicht.
Endlich war ich draußen angekommen, lehnte mich gegen
die Wand und zündete die Zigarette an. Es fühlte sich so beruhigend und wohltuend an, als der Rauch meine Lungen füllte. Wie frisches Öl in einem alten Motor. Erleichtert pustete ich aus und genoss den Geschmack von verbranntem Tabak und Nikotin, der mir so fehlte. Für einen Moment schloss ich die Augen.
»Hey!« Die Tür der Küche öffnete sich und Mason kam heraus. Ich musste mir ein Knurren verkneifen.
»Die erste Welle ist überstanden.«
Er lehnte sich mir gegenüber an die Hauswand und steckte sich ebenfalls eine an. Meine Augen ließ ich geschlossen und nickte nur, während ich jeden einzelnen Zug genoss. Dabei versuchte ich, meinen schmierigen Kollegen wie immer zu ignorieren.
Bis mir einfiel, dass ich ihn heute leider brauchte. Jeff hatte mich zum Essen in sein Haus eingeladen. »Kannst du heute länger bleiben? Nur zwei Stunden?« Ich öffnete die Augen und sah in sein bubenhaftes Gesicht, was ihn unwahrscheinlich jung aussehen ließ.
Dabei war er älter und kleiner als ich. Seine braunen Haare trug er kurz und nach hinten gegelt, was sein schmieriges Aussehen unterstrich. Obwohl er irgendwie auch nicht hässlich war, hatte er immer ein anzügliches Grinsen im Gesicht.
Zudem leuchteten seine blauen Augen, als würde er sich jede Frau nackt vorstellen.
»Klar. Willst du früher gehen?«, hinterfragte er das Offensichtliche. Wie ich das hasste.
»Ja.«
»Heißes Date?« Vielsagend betrachtete er mich. »Dann bist du mir aber auch was schuldig, Süße.«
Klar, was auch sonst!? Arschloch!
Wenn er aber glaubte, dass ich mich für ein paar Stunden seiner Zeit als Gegenleistung prostituierte, lag er falsch. Außerdem hasse ich es, wenn man mich Süße nannte.
Schließlich war ich doch keine Schokolade!
Ich schmiss die Zigarette auf den Boden.
»Klar«, sagte ich genervt und ging wieder rein. Er blieb noch draußen und Jurij sah mich mit einer hochgezogenen Braue an. Auch er wusste, wie widerlich Mason war und dass dieser keinen Versuch ausließ, um mich anzumachen.
Ich schüttelte mit dem Kopf, weil wir uns zum Glück auch ohne Worte verstanden, wusch mir die Hände und ging wieder nach vorne, wo mir Alex gleich trällernd entgegensprang.
»Die heißen Jungs sind weg und haben mir ein fettes Trinkgeld hinterlassen.« Sie legte mir einen Arm um die Schultern, doch ich wich zurück, weil ich nicht ständig angefasst werden wollte. Sie bemerkte es kaum.
»Du musst deinen Tausch sowas von bereuen.«
Ich ignorierte ihre Worte. Schließlich hatte ich alle anderen Tische übernommen, während sie nur den einen hatte. So viel Geld konnte sie nicht gemacht haben.
»Das sollte ich dir übrigens geben.« Sie hielt mir einen zusammengefalteten Zettel hin.
»Was ist das?« Ich sah skeptisch zu ihr rüber.
»Keine Ahnung. Ich habe ihn nicht aufgemacht. Nimm schon«, sagte sie, während sie mir das Ding vor die Nase hielt.
Als ich ihn entgegengenommen hatte, faltete ich den Zettel sofort auseinander. Eine Telefonnummer und unten drunter einfach ein D. Ich zerknüllte ihn, steckte ihn in meine Hosentasche und nahm mir vor, ihn später wegzuwerfen. Süß, dass er mir seine Telefonnummer gab. Solange er jedoch eine so eine starke Wirkung auf mich hatte, war es nicht gesund für mich. Kein Mann sollte solch eine Reaktion in mir entfachen. Das bedeutete nur Schmerz und Ärger. Meinen Stolz würde ich mir sicherlich nicht von irgendeinem Kerl aus einer Bar zerstören lassen.
Für einen One-Night-Stand war die Sache schon gelaufen.
Und für mehr hatte ich nichts übrig.
Ein Beziehungsmensch war ich einfach nicht.
Daher schlief ich niemals ein zweites Mal mit demselben Mann. Das andere Geschlecht war für meinen Spaß da und nicht mehr. Sobald ich befriedigt war, verschwand ich so schnell wie möglich. Das war Regel dreizehn.
Einmal hatte ich mich auf eine Beziehung eingelassen. Tommaso. Ich war siebzehn gewesen und er hatte mir regelrecht das Herz herausgerissen. Hatte mich verraten und benutzt. Ich wünschte ihm noch immer einen qualvollen Tod.
Nach diesem Erlebnis hatte ich beschlossen, eine ganze Palette an Regeln für mich selbst aufzustellen.
Gerade beendete ich meine Schicht, zog mich um und ging auf direktem Weg zur U-Bahn-Station, um zu Jeffs Stadtvilla zu gelangen. Noch immer konnte ich nicht fassen, dass er in so einem riesigen Haus wohnte.
Jedes Mal, wenn ich den hübschen jungen Mann aus meiner Kindheit sah, dachte ich an seine Bretterbude, die er einst sein Zuhause genannt hatte und die jeder mittelintelligente Schimpanse besser gebaut hätte. Ich sah ihn immer noch bildlich vor mir mit seinen viel zu kleinen, verschlissenen Klamotten. Nachdem er zu mir in den Trailer gezogen war, hatte ich ihm natürlich etwas Anständiges gekauft. Zumindest hatte ich ihm die Kohle gegeben, damit er sich seine Sachen selbst aussuchen konnte. Was im Nachhinein ein großer Fehler gewesen war. Denn schon als Kind hatte er sich wie die Miniausgabe eines Anwalts gekleidet. Nur, weil den Kids aus unserer Siedlung bewusst gewesen war, dass er zu mir gehörte, hatten sie ihn nicht verprügelt. Dem Spott war er allerdings weiterhin ausgeliefert gewesen. Leicht hatte es Jeff noch nie gehabt.
Gerade als ich die U-Bahnstation in der Nähe von Jeffs Haus verließ, kam mir ein bekanntes Gesicht entgegen.
»Hey Kit«, begrüßte mich Junkie-Harry mit einer trockenen Stimme. »Hast du vielleicht ein bisschen Kleingeld für mich?«
Wie sehr ich mich freute, meinen alten Spitznamen zu hören. Dabei hatte ich ihn nur aus Gewohnheit verraten. Hier in Chicago war ich Jenny. Eine Rolle, die ich von nun an den Rest meines Lebens spielen musste.
Er sah sichtlich beschämt aus. Dabei war es besser, dass er mich fragte, als irgendeine Frau zu überfallen. Mit einem Nicken holte ich einen kleinen Schein heraus und hielt ihn hin. »Mach keinen Unsinn Harry. Du musst nur nachfragen.«
»Ja, aber nicht jeder ist so nett wie du.« Da musste ich mir fast ein Lachen verkneifen.
Nett? Worte, die nicht zu mir passten. Kit und nett, das war wie: DOT 4* in der Servopumpe. Das gehörte einfach nicht zusammen und die Konsequenzen wären verheerend!
»Dir hält auch nicht jeder ein Messer an die Kehle.« Ich zog eine Braue hoch. Nein. Nett war ich eigentlich nie. Er nahm den Schein dankend an und verschwand in eine andere Richtung.
Für den Rest der Strecke nahm ich mir ein Taxi und nach zehn Minuten hielt es vor Jeffs Stadtvilla. Er begrüßte mich wie immer mit einer freudigen Umarmung, die ich nur bei ihm erwiderte.
Jeff sah aus wie der Streber aus dem Bilderbuch. Ein jugendliches, weiches Gesicht mit blauen Augen und dünnen Lippen. Seine blonden Haare trug er gepflegt und seitlich nach hinten gekämmt. Er war einen ganzen Kopf größer als ich und seine dünne Gestalt machte mir immer wieder bewusst, wie schwer er es eigentlich damals in unserer Siedlung gehabt hatte. Natürlich hielt er sich mit Sport fit, war aber für meinen Geschmack einfach zu dürr. Tatsächlich war er der einzige Mann, an dem ich Anzüge nicht problematisch fand. So war es nicht ungewöhnlich, dass er mir die Tür in schwarzer Anzughose und blauem Hemd öffnete. Es passte einfach perfekt zu ihm. Wesentlich besser als der Pullunder, den er sonst trug. Außerdem kannte ich ihn nicht anders.
Sein Lächeln strahlte mir entgegen und offenbarte seine zwei Grübchen. Sogleich musste ich auch grinsen. Danach folgte ich ihm ins Esszimmer, in dessen Mitte ein viel zu großer Tisch stand. Zumindest, wenn man bedachte, dass wir nur zu dritt essen würden.
»Setz dich, Jenny.« Mit einer Handbewegung zeigte er auf den Stuhl links neben dem Kopfende.
»Jeff, wir können auch in der Küche essen. Für mich brauchst du so einen Aufwand nicht zu betreiben.«
»Das weiß ich doch. Lucinda kommt aber auch gleich. Wie geht es dir?« Er nahm am Kopfende Platz.
»Wie immer. Und euch?«
»Gut, gut. Wie kommst du in der Stadt zurecht?«
»Mal gut, mal weniger gut. Selbst nach sechs Monaten ist noch alles neu für mich. Was willst du hören?«
»Ja, ich weiß Jenny. Dennoch bin ich überzeugt, dass es so besser ist. Oder nicht?« Er tätschelte meine Hand.
Wenn er wüsste, wie schwer es wirklich war. Aber ich wollte ihn auch nicht nerven. Es war das Beste für uns, zumindest in seinen Augen.
Mein Handy piepste und Jeff sah mich auffordernd an.
Ich schüttelte den Kopf.
Wenn ich bei ihm war, ignorierte ich mein Telefon vollständig. Es war mir schlichtweg egal.
»Es tut mir leid, dass ich nicht so viel Zeit für dich habe. Es ist momentan viel los«, rechtfertigte er sich.
Nicht viel Zeit? Wollte er mich verarschen?
Wir telefonierten täglich und trafen uns mehrmals die Woche.
»Ich brauche keinen Babysitter«, versuchte ich ihn davon abzuhalten, sich noch mehr einzubringen.
Klar. Früher hatten wir nur aufeinandergehangen, auch während seiner Studienzeit. Schließlich hatte ich ihm das Geld dafür gebracht. Seine Frau glaubte nach wie vor, dass er
nebenher gejobbt hatte, ums ich das Studium zu finanzieren.
Erneut piepte mein Handy.
Ich hatte vergessen, es auf lautlos zu schalten.
»Guck ruhig nach.« Jeff lächelte mich an.
Nein, lieber nicht!,
dachte ich.
Denn eigentlich konnte es nur Alex sein und die interessierte mich erst recht nicht. Sonst hatte keiner hier in Chicago meine Nummer. Könnte mir aber vorstellen, dass es jemand aus Detroit war.
»Wird schon nicht wichtig sein«, erklärte ich.
Er zog eine Braue hoch. Mir war klar, dass er keine Ruhe geben würde. Ich schaltete das Handy schließlich auf lautlos.
Doch während ich es in der Hand hielt, piepte es noch zwei weitere Male. Mit einem Stirnrunzeln öffnete ich die Nachrichten. Sie stammten alle von Saltos, der meinen Job übernommen hatte, als ich gegangen war. Vielleicht kam er nicht klar.
Ich hätte ihm nicht alle Aufgaben überlassen sollen, hatte Detroit aber aufgrund meines Ausrasters in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen müssen.
-Kit, ich will dich nicht stören, aber melde dich.
-Es ist dringend!
-Wenn du das liest, melde dich bitte.
-Wirklich Kit, es ist wichtig. Ruf mich an!
-Kit!!! Wir brauchen dich!!!
D
as hätte er auch locker in einer Mail schreiben können. Aber scheinbar wollte er mich nerven.
Ich antwortete nicht. Jeff hatte mir deutlich gemacht, wie wichtig es war, die Vergangenheit ruhen zu lassen. Würde ich jetzt auf die Nachrichten eingehen, könnte ich auch Jeff in Gefahr bringen und das Risiko war mir zu hoch.
Alles was ich tat, würde letztlich auf ihn zurückfallen.
Schließlich legte ich das Handy an die Seite.
»Alles in Ordnung, Jenny?« Jeff beäugte mich misstrauisch.
Nein, war es nicht! Ich wurde gebraucht und musste jemanden ignorieren, der immer für mich da war.
»Ja, klar. Alles easy«, nickte ich.
»Hallo Jennifer«, begrüßte mich Lucy.
Ich hasste es, wenn sie mich bei meinem vollen Namen nannte. Jennifer? Die war ich ganz sicher nicht! Noch nie. Mit aller Kraft unterdrückte ich den Würgereiz.
»Hey Lucy.« Ich stand zur Begrüßung auf.
Sie stellte einen Topf auf den Tisch und kam zu mir, um mich mit einer liebevollen Umarmung zu foltern. Mein Blick traf über Lucys Schulter hinweg den von Jeff. Dieser forderte mich unmissverständlich dazu auf, die Umarmung zu erwidern. Ich fügte mich. Sie passte einfach perfekt zu Jeff. Trotzdem waren mir Berührungen unangenehm.
»Wie geht es dir? Du siehst großartig aus. Kommst du gut zurecht? Ist es anstrengend im Restaurant?« Sie trat einen Schritt zurück und hielt mich an den Armen fest. So schnell, wie sie ihre Fragen abfeuerte, konnte ich keine davon beantworten.
»Fühlst dich wohl? Bist du mittlerweile in Chicago angekommen? Wenn du etwas brauchst, musst du uns nur Bescheid sagen.« Sie sprach mit mir, als wäre sie meine Mutter und versuchte, mich zu umsorgen. So etwas kannte und mochte ich nicht. Als Nächstes würde sie mich vielleicht noch fragen, ob ich genügend essen würde. So wie es die Mütter meiner Leute immer machten. Dabei war die kleine Lucy nicht alt genug, um die fürsorgliche Mutter zu spielen.
Bevor sie noch weiterreden konnte, setzte ich mich hin und sagte knapp: »Alles gut. Brauchst du Hilfe?« Ich zeigte auf den Topf.
»Nein, Liebes. Bleib nur sitzen, ich hole den Rest«, winkte
sie zum Glück ab. Kurz drauf verschwand die junge Frau, die genauso wie ich, siebenundzwanzig Jahre alt war. Aber sie war nicht wie ich. Sie war das genaue Gegenteil von mir. Lucy war zwar genauso groß wie ich, hatte aber lange blonde Haare, die sie, in einem viel zu ordentlichen Knoten im Nacken trug. Sie war zierlich, hatte weder Hintern noch Brust, dafür ein gebärfreudiges Becken. Lucy konnte man allgemein als niedlich beschreiben. Zudem hatte sie eine samtweiche Stimme.
»Lass sie doch«, lächelte mich Jeff an.
Mein Handy vibrierte auf dem Tisch, doch ich ignorierte es weiterhin.
»Du weißt, dass ich nicht so werden kann«, zeigte ich auf die Tür in Richtung der Küche, wo Lucinda die restlichen Töpfe holte.
»Musst du doch auch nicht. Ich zumindest verlange das nicht von dir.«
»Ich mag sie, Jeff. Aber du weißt auch, wie ich bin.«
Er nickte mit einem Lächeln.
»Du darfst so bleiben, wie du bist«, ergänzte er sein Nicken und ich riss die Augen auf.
»Was? Das sind ja ganz neue Töne«, lachte ich.
Ich wusste, wie er es meinte. Aber sein schockierter Blick, dass er sich direkt zur Tür umdrehte, um sich zu vergewissern, dass seine zarte Frau nichts bemerkte, war es wert.
»Jenny!«
»Keine Sorge, ich habe verstanden«, lachte ich dunkel und ein wenig gehässig.
Die liebe Lucy wusste natürlich nichts über mich. Dabei glaubte sie, wirklich alles zu wissen. Während sie sich in der Studienzeit ineinander verliebt hatten, gestand Jeff ihr sein großes Geheimnis. Von dem natürlich alles gelogen war. Na ja, vielleicht gab es einen kleinen wahren Kern. Er hatte ihr erzählt, dass seine Eltern tot waren. Das stimmte. Auch, dass
ich ihm bei seinen Unkosten half, stimmte teilweise. Denn ich hatte eigentlich alles und noch viel mehr übernommen. Dass er während des Studiums gejobbt hatte, war vollkommen gelogen. Während er vorgegaukelt hatte, zur Arbeit zu gehen, war er mit mir unterwegs gewesen. Dass ich wie eine Schwester für ihn war, stimmte wieder. Auf dem Papier sogar seine Adoptivschwester. Dass er mich in seiner Nähe wissen mochte, stimmte auch. Aber dass ich ein armes Ding war, welches seinen Schutz brauchte, war lächerlich gelogen. Unsere Vergangenheit verschwieg er komplett. Nur Lügen. Dass es die alte Kit amtlich gar nicht mehr gab, sämtliche Urkunden gefälscht worden waren und nur mein Name übrigblieb, unterdrückte er geschickt.
Genau wie alles andere.
»Jenny, ist wirklich alles in Ordnung?« Er schaute auf mein Handy, welches erneut vibrierte.
»Ja, Jeff«, entglitt mir ein Seufzer. Ihm sollte doch klar sein, dass er nicht so viele Fragen stellen sollte.
Ein skeptisches Nicken, dann kam schon Lucy herein.
Wir aßen zusammen, während Lucy ununterbrochen von Mode schwafelte oder von Frauen, die sie vom Kaffeeklatsch kannte. Sie nervte mich so mit ihrem Getratsche über Menschen, die ich eh nicht kennenlernen wollte. Oft bat sie mich, zu kommen, wenn sie eine Dinnerparty veranstaltete. Genau wie Jeff war ich froh, wenn ich solch eine Einladung mit Nachdruck ablehnte.
Er liebte mich, aber er wusste am besten, dass ich in diese Welt überhaupt nicht reinpasste. Wobei ich oft dachte, dass ich nur eine Schonfrist für die Dauer meines Einlebens bekam und er mich irgendwann doch dazu nötigen würde. Eigentlich war ich für jeden Spaß zu haben. Aber dort gäbe es noch mehr Menschen, wie die beiden hier am Tisch. Das wäre für mich wie Sterben auf Raten.
Was Spaß war, wussten die zwei definitiv nicht. Egal wie
oft Lucy auch erzählte, wie lustig es gewesen war und dass ich etwas verpasst hatte, ich bereute meine Entscheidung nie. Einfach, weil ich mir sicher war, dass ihren Humor nicht teilte.
Nach dem Essen saßen wir noch ein wenig zusammen, bis Lucinda aufstand.
»Jefferson, ich lasse dich etwas mit Jennifer allein, bevor sie wieder geht. Ich bin im Wintergarten und kümmere mich um die Rosen.« Sie küsste ihn auf die Wange und lächelte mir zu.
Jennifer. Jedes Mal, wenn sie diesen Namen aussprach, wollte ich sie würgen. Nur ein bisschen. Und jedes Mal, wenn sie Jefferson sagte, fing ich innerlich an zu kotzen. Kaum hatte sie den Raum verlassen, fing Jeff auch schon an.
So vorhersehbar.
»Jenny, du weißt, wie wichtig du mir bist. «
»Ja.«
»Wer versucht, dich zu kontaktieren?«
»Saltos«, seufzte ich.
»Saltos? Warum? Was ist hier los?«, platzten die Worte aufgeregt aus ihm heraus.
»Ganz ruhig, Jeff. Ich habe mit meinem alten Leben abgeschlossen. Krieg nicht gleich ‘nen Riss im Kühler«, versuchte ich ihn zu beruhigen.
»Jenny, du warst immer für mich da. Ich bin dir so dankbar. Auch als du damals …« Er brach ab und strich sich mit einer Hand durchs Gesicht. Er war sichtlich nervös und aufgebracht.
»Damals hast du mir dadurch das Leben …« Erneut musste er sich sammeln.
Die Sache mit seinem Vater versuchte er, grundsätzlich zu verdrängen, anstatt damit fertig zu werden. Tja. Dieses Ereignis tat mir beim besten Willen nicht leid.
»Jenny, was du getan hast. Für mich … Alles … Auch, dass du …« Er brach ab und sah kurz auf den Tisch herunter.
Ich erlöste ihn.
»Schon gut, Jeff. Noch einmal. Ich habe mit meinem alten
Leben abgeschlossen. Wir haben eine Abmachung getroffen und ich halte mich daran. Mach dir keinen Kopf.«
»Danke«, hauchte er.
Er unterdrückte alles. Auch das, was ich damals getan hatte. Jeff sollte wütend auf mich sein. Dabei empfand er nur Dankbarkeit. Daran sah man wieder, wie schwer er es im Leben wirklich hatte und wie schwach er in Wahrheit war. Alles, was ich für ihn tat, tat ich nicht aus Schuldgefühl, sondern weil er mich brauchte, und weil ich die einzige Familie war, die er hatte. Das war auch schon vor diesem Abend so gewesen.
Es dauerte nicht lange, bis ich mich von ihm und Lucy verabschiedete und nach Hause fuhr.
Oder vielmehr in meine winzige Wohnung.
Ein Zuhause war etwas anderes.