50
Wie konnte das nur passieren?
W ie ein Engel liegst du zwischen den weißen Laken. Deine Haut ist fahl und bleich, sodass nur dein noch immer geschwollenes Auge hervorsticht. Wäre da nicht der Bluterguss und deine dunklen Haare, Jenny, man könnte fast meinen, du seist ein Geist. Seit drei Tagen schläfst du hier im Krankenhaus und ich weiche dir nicht von der Seite, genauso wie meine Leute. Du bist nicht ein einziges Mal aufgewacht. So sehr ich auf diesen Moment auch warte, fürchte ich mich gleichzeitig davor.
Innerlich flehe ich darum, zu sehen, wie deine Wimpern flattern, wie sich deine Augen öffnen und ich mich endlich wieder in deinen Iriden verlieren kann. Ich will den Hunger darin erkennen, deine Sucht nach mir. Jede Sekunde versuche ich mit meinen Blicken zu erzwingen, dass sich deine Lippen endlich öffnen, damit ich deine Stimme hören und wieder darüber schmunzeln kann, wie du versuchst, uns mit deinen spitzen Kommentaren zu treffen.
Die Erkenntnis, dass nichts mehr so sein wird, wie es einmal war, trifft mich hart.
Alles hat sich für dich geändert und ich weiß nicht, wie du damit umgehen wirst. Ich wünsche mir, dir alles zu erklären. Was Schwachsinn ist, denn du wirst es ohne eine Erklärung verstehen, wenn du aufwachst. Aber wann wird das sein? Der Arzt will sich nicht festlegen. Ihm zufolge hättest du schon längst die Augen öffnen sollen. Neben dir sitzend halte ich deine kalte Hand fest in meiner und beobachte deinen fast leblosen Körper. Nur die Auf- und Abwärtsbewegung deines Brustkorbs zeigt, dass noch etwas Leben in dir steckt. Viel scheint es allerdings nicht zu sein. Denn Adam und Riley quatschen durchgehend, was dich nicht weckt, oder zum Schimpfen bringt. Ich wünschte, es wäre so. Deswegen lasse ich sie reden, obwohl sie mich bereits selbst nerven. Saltos betritt den Raum und bringt mir einen Kaffee, den ich nicht annehmen kann, ohne deine Hand loszulassen, weil mein anderer Arm in der Schlinge hängt. Daher lehne ich dankend ab.
»Sollen wir mal die Plätze tauschen?«, fragt er mich. Die Schussverletzung unterhalb meines Schlüsselbeins schränkt mich so ein, dass mir das Sitzen neben dem Bett schwerfällt. Dennoch gehe ich nicht.
Jenny, keiner bekommt mich hier weg. Ich will genau hier sein und dich nicht allein lassen. Also schüttle ich nur den Kopf, ohne ihn dabei anzusehen.
»Komm schon, Colt. Du musst dir die Beine vertreten.« Darauf reagiere ich nicht. Stattdessen gehe ich, wie auch die letzten Tage, gedanklich durch, wie es so weit gekommen ist. Was ich falsch gemacht habe, welche meiner Entscheidungen dazu geführt haben, dass man dir nicht mehr ausreichend helfen konnte. Immer wieder komme ich zu demselben Schluss.
Wenn ich dich direkt gepackt, dich umgehend aus dem Gebäude und ins Krankenhaus gebracht hätte, wäre es sicher anders gekommen.
Oder wenn meine Kontrollsucht und mein Drang, immer und jederzeit meinen Willen durchzusetzen, dir nicht zum Verhängnis geworden wären, hätte dein Ex dich nie bekommen.
Dieses ›Wenn‹, Jenny.
Diese vielen Fehlentscheidungen haben dich nicht nur an diesen Ort gebracht, dich nicht nur diesen Schmerzen ausgesetzt, sondern dein ganzes weiteres Leben für immer verändert.
Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen.
Aber ich bin da und verspreche dir im Stillen, dich mit der neuen Situation nicht allein zu lassen. Ich werde dir helfen, für dich da sein und alles tun, damit es dir leichter fällt, dich mit allem auseinanderzusetzen.
Die Angst, dich daran zerbrechen zu sehen, Jenny, hat sich in meinen Knochen festgesetzt.
Egal was kommt, egal wie schlimm es wird, wenn du wach wirst und die Qualen dich in die Knie zwingen – du bist stark.
Du bist die stärkste Frau, die ich kenne. Und du wirst das schaffen. Nichts lässt mich daran zweifeln. Leider ist dir das nicht bewusst.
Aber ich werde dich daran erinnern.
Jeden einzelnen Tag.