Vorspiel
Die Nacht, in der Donald Piral starb, war wunderschön.
Sterne funkelten am Himmel. Mücken schwirrten umher. Schmetterlinge tanzten zwischen den Bäumen. Die Kiefern des Stadtwaldes bewegten sich sacht im lauen Wind. Ihr würziger Duft mischte sich mit dem Geruch von Sonnencreme und Holzkohle, der vom nahen Badesee herangeweht wurde. Mattes Sternenlicht fiel zwischen den Zweigen auf den Forstweg, schimmerte auf der Karosse einer schwarzen S-Klasse, die mit laufendem Motor neben einem Holzstapel stand.
Eine malerische, fast perfekte Nacht, beinahe so schön wie die Sommernächte in Pirals apulischem Heimatdorf, sogar ein paar Grillen zirpten. Doch Donald Piral, der nackt, die Hände hinter dem Fahrersitz aneinandergefesselt, am Steuer seines Dienstwagens saß, bekam davon nichts mit. Zum einen, weil sein Mörder die Fenster des Mercedes hochgekurbelt hatte, zum anderen, weil er momentan Wichtigeres zu tun hatte, als die Schönheit der Natur zu bewundern.
Donald Piral kämpfte um sein Leben.
Farnwedel bewegten sich neben dem Holzstapel. Ein Fuchs erschien, lief lautlos über den Waldweg und verharrte plötzlich. Das Tier war alt, ein erfahrenes Männchen mit spitzer, ergrauender Schnauze. Neugierig betrachtete der Fuchs die schwere Limousine, die mit leise surrendem Motor und beschlagenen Scheiben unter den Bäumen stand. Angst hatte er nicht, er kannte sein Revier, war an die Menschen gewöhnt. Zwar ging er ihnen aus dem Wege, doch er fürchtete weder die schweren Maschinen der Forstarbeiter noch die lärmenden Teenager, die tagsüber mit ihren Handtüchern den Waldweg entlang zum See radelten. Auch dieses blitzende, in der Federung schwankende Ungetüm stellte keine Gefahr dar; oft genug parkten Liebespaare ihre Autos in den verzweigten Wegen des Stadtwaldes, und so war es kein Wunder, dass der Fuchs nur ein wenig die Ohren aufrichtete, als er die gedämpften Schreie aus dem Wageninneren vernahm. Er verfügte über hervorragende Instinkte, nach all den Jahren funktionierte sein Gehör noch immer ausgezeichnet. Doch ein Schrei blieb ein Schrei, egal, ob aus Lust oder Qual ausgestoßen, und die Tatsache, dass der nackte Mann hinter den beschlagenen Scheiben keine Frau in den Armen hielt, sondern verzweifelt um Hilfe rief, blieb dem Tier verborgen.
Ein Windhauch fegte vorbei, Kiefernnadeln rieselten auf das Wagendach. Auch dies bemerkte Donald Piral nicht. Die Heizung war voll aufgedreht, das Gebläse lief auf höchster Stufe. Die Luft war stickig, kochte regelrecht. Weißer, feinkörniger Staub wirbelte durch den Mercedes, bedeckte das Armaturenbrett, die Ledersitze, überzog seinen nackten Körper in einer dicken, pudrigen Schicht. Zunächst hatte er nicht erkannt, was man ihm durch das Schiebedach kiloweise über den Kopf geschüttet hatte, ein ätzendes Pulver, das bei jedem Atemzug in der Lunge brannte. Zement, hatte er im ersten Moment gedacht, doch er wusste längst, dass es schlimmer war.
Viel schlimmer.
Sein Körper stand in Flammen, ein höllisches Bad in glühender Lava. Schweiß strömte aus allen Poren, jeder einzelne Tropfen verdoppelte die Qual. Piral stieß ein gequältes Husten aus, warf sich verzweifelt nach vorn. Der Sicherheitsgurt spannte über seiner Brust, die Schultergelenke dehnten sich, doch die Fesseln um seine Handgelenke hinter dem Sitz gaben nicht nach.
Ein Schweißtropfen löste sich von seiner Nase, fraß sich zischend in den Oberschenkel.
Donald Piral lebte seit einem Vierteljahrhundert in Deutschland, doch er hatte seine Kindheit nie vergessen. Er war auf einem italienischen Bauernhof aufgewachsen, damals hatte er seinem Vater helfen müssen, die Schweineställe zu desinfizieren. Sie hatten provisorische Atemmasken getragen und peinlich darauf geachtet, dass das Desinfektionsmittel nicht mit Wasser in Berührung kam, denn dann entfaltete ungelöschter Kalk seine tödliche Wirkung.
In Verbindung mit Wasser. Oder mit Schweiß.
Schweiß, der in ätzenden Strömen über Pirals Körper lief wie kochende Säure, qualmende Rinnsale auf Armen und Beinen hinterlassend.
Donald Piral war ein wohlhabender Mann. Er schätzte deutsche Wertarbeit, und der Mercedes, eine zwei Monate alte S-Klasse, war das beste Beispiel dafür. Edel, gleichzeitig robust, eine perfekt verarbeitete Maschine. Eine Perfektion, die ihm jetzt zum Verhängnis wurde, denn auch die Heizung funktionierte – natürlich – tadellos, blies unbarmherzig heiße Luft in den Wagen.
Piral bäumte sich auf, das Klebeband um seine Handgelenke straffte sich. Die Haut löste sich von Armen und Beinen, hing in Fetzen über den dampfenden Augenbrauen. Weiterer Staub wirbelte auf, als seine nackten Füße auf den Boden trommelten. Er warf sich mit aller Gewalt zur Seite, prallte mit dem Kopf gegen die Seitenscheibe. Ein dumpfer Knall dröhnte durch den Wagen, Blut strömte über sein mit stinkenden Blasen bedecktes Gesicht, rann über das beschlagene Fenster.
Reglos saß der Fuchs da, den buschigen Schwanz um die Vorderpfoten gelegt. Mondlicht spiegelte sich in den Knopfaugen, blitzte auf der schwarzen Kühlerhaube des Mercedes. Ein weiterer Knall drang aus dem Inneren, der Wagen schwankte wie ein Schiff auf hoher See, kam plötzlich zur Ruhe. Die Schreie gingen in ein Winseln über, erstarben.
Donald Piral war kein gläubiger Mensch. Seit seiner Kindheit hatte er nicht mehr gebetet, seine Muttersprache seit Jahrzehnten nicht mehr gesprochen. Doch jetzt, in den letzten Augenblicken seines knapp fünfzigjährigen Lebens, wandte er sich in seiner Verzweiflung an die Muttergottes, öffnete den lippenlosen Mund.
Santa Maria, Madre di Dio, prega per noi peccatori.
Sein Kopf sank nach hinten. Schweiß ergoss sich über die dampfende Stirn, strömte in die leeren Augenhöhlen. Das letzte Wort
Amen
formte sich ausschließlich in Donald Pirals gemartertem Verstand, während sein Schweiß das Fleisch weiter von den Knochen fraß. Das Klebeband löste sich, Donald Piral sackte nach vorn, und als die Überreste seines Gesichts gegen das ledergepolsterte Lenkrad stießen, da spürte er weder den Aufprall, noch hörte er das kurze Aufjaulen der Hupe.
Donald Piral war tot.
Der Fuchs verschwand lautlos im Unterholz.
*
Es dauerte nicht lange, bis Donald Piral gefunden wurde. Der Mann, der die Leiche bei seinem morgendlichen Spaziergang entdeckte, lebte abgeschieden in einem kleinen Haus am Ufer des Waldsees, nur ein paar hundert Meter vom Ort des Geschehens entfernt. Wie es der Zufall wollte, war dieser Mann Polizist, ein ehemaliger Hauptkommissar, der unter anderen Umständen sofort mit den Ermittlungen begonnen hätte. Doch die Zeiten hatten sich vor einem halben Jahr geändert, nachdem der Polizist mit einem Schuss aus der Dienstwaffe einem Verdächtigen die Kniescheibe zertrümmert hatte. Der Fall hatte Wellen geschlagen, in der örtlichen Presse war von Amtsmissbrauch, Folter und Polizeiwillkür die Rede gewesen. DER RAMBO - KOMMISSAR , hatte eine der Schlagzeilen gelautet, WER WIRD SEIN NÄCHSTES OPFER ? Man hatte den Polizisten als dicken, schießwütigen Sadisten beschimpft – was immerhin teilweise der Wahrheit entsprach (der ehemalige Hauptkommissar Schröder war tatsächlich dick). Natürlich war er weder schießwütig noch sadistisch veranlagt, doch er hatte sowohl die Degradierung als auch den Verlust seiner Position klaglos hingenommen. Vor allem aber war er Polizist, er kannte die internen Abläufe, und so war es nur logisch, dass er nicht den Notruf, sondern die Handynummer des zuständigen Beamten wählte, eines Mannes, der vor Jahren schon sein Vorgesetzter gewesen war und der diese Planstelle nun wieder besetzte. Der Angerufene war alles andere als erfreut, als ihn sein Untergebener, der zwischenzeitlich sein Chef gewesen war, von seinem Fund unterrichtete.
Hauptkommissar Zorn mochte keine Leichen. Zum einen, weil er den Anblick kaum ertrug. Schlimmer, viel schlimmer allerdings war etwas anderes: Eine Leiche bedeutete Arbeit. Keine schönen Aussichten für jemanden, der seinen Job nur widerwillig erledigt, und so war es nicht verwunderlich, dass Claudius Zorn das kurze Telefonat mit einem Wort beendete, das seinen Frust mehr als deutlich zum Ausdruck brachte:
Scheiße.
So begann alles.