Eins
Drei Tage später – 21 . August.
Das Moped kam ruckelnd zum Stehen. Schröder stieg etwas unbeholfen ab, gab Gas und schaltete die Zündung aus. Während der Motor mit einem hüstelnden Röcheln erstarb, bockte er die Maschine auf, verstaute den Zündschlüssel in der Cordhose und lief auf das Bürogebäude zu, einen riesigen, in der Sonne blitzenden Betonquader. Im Gehen wandte er sich noch einmal um und bedachte sein neues Gefährt mit einem prüfenden Blick. Vor zwei Wochen hatte er das Moped – inklusive Helm – für fünfhundert Euro bei eBay ersteigert, eine hellblaue, verrostete Schwalbe, Baujahr 1978 . Die schwarze Motorradjacke spannte über seinem Bauch, er öffnete die Druckknöpfe, schob den abgewetzten Helm aus der verschwitzten Stirn und lief weiter über den Parkplatz. Männer in Anzügen kamen ihm entgegen, Frauen in Businesskostümen, er betrat das Bürohaus, ohne auf die neugierigen Blicke zu achten, und ging mit hallenden Schritten durch das weiß geflieste Foyer zum Fahrstuhl. Dort drückte er den Rufknopf, spitzte die Lippen, löste den Riemen des altmodischen Helms unter dem Doppelkinn und studierte die Firmenschilder neben der verchromten Fahrstuhltür. PIKUR CONSULT Immobiliengesellschaft mbH stand in fliederfarbenen Lettern auf dem obersten Schild, darunter der Hinweis, dass sich die Geschäftsräume in der sechsten und siebten Etage befanden. Schröder nickte zufrieden, die Fahrstuhltür glitt auf, er trat ein und fuhr leise vor sich hin pfeifend nach oben.
*
»Hat Astrit Ihnen keinen Kaffee angeboten, Herr Kommissar?«
Victor Kurtz betrat den Besprechungsraum (Meeting-Room stand in Großbuchstaben auf der gläsernen Schiebetür) und nahm Schröder gegenüber in einem cremefarbenen Ledersessel Platz.
»Das hat sie«, erwiderte Schröder. »Aber es ist nicht nötig. Wenn Sie gestatten, würde ich gleich zur Sache kommen.«
»Das wäre mir sehr recht.«
Kurtz, ein kräftiger Mann in den Fünfzigern, faltete die Hände unter dem sorgfältig rasierten Kinn und sah Schröder aus ruhigen, hellgrauen Augen an. Er schien es gewohnt, keine Umschweife zu machen, ein Geschäftsmann, der seine Zeit nicht vergeudet. Aufmerksam, konzentriert, selbstsicher. Das kurze, rotblonde Haar war an den Schläfen ergraut, seine Wangen, blass wie bei allen rothaarigen Menschen, waren von punktförmigen Narben bedeckt. In seiner Jugend musste er unter starker Akne gelitten haben.
»Ich hatte es Ihnen bereits am Telefon erklärt«, begann Schröder. »Ihr Kompagnon …«
»Donny war mehr als das. Er war mein Freund, seit beinahe dreißig Jahren.«
»Wo haben Sie Donald Piral kennengelernt?«
»In Venedig.« Kurtz sprach leise, im Tonfall eines Mannes, der es nicht nötig hat, die Stimme zu erheben. »Ich habe dort Urlaub gemacht. Donny hat mich eine Zeitlang bei sich wohnen lassen, später ist er mit mir nach Deutschland gekommen. Wir haben die Firma zusammen aufgebaut.«
»Sie waren gleichberechtigte Partner.«
»Daher der Name.« Kurtz griff in die Brusttasche seines weißen Hemds, reichte Schröder eine Visitenkarte und deutete auf den fliederfarbenen Schriftzug. »Pikur. Piral und Kurtz. Ein dämlicher Name für eine Immobilienfirma, aber wir waren jung.«
Die Glastür wurde geräuschlos aufgeschoben. Kurtz’ Sekretärin, eine blasse junge Frau in knielangem Rock und grauem Blazer, steckte den Kopf herein.
»Victor?«
»Ja?«
Stimmengewirr drang aus dem Großraumbüro in den Besprechungsraum, Computer surrten, ein Dutzend Menschen wuselte geschäftig umher.
»Herr Westermann vom Denkmalschutz ist am Telefon. Er fragt, ob du …«
»Ich rufe zurück, Astrit.«
»Okay.«
Ein schüchternes Lächeln. Die Sekretärin verschwand ebenso schnell, wie sie erschienen war.
»Donald Piral hatte keine Angehörigen«, sagte Schröder. Auf seiner Glatze zeichnete sich der kreisrunde Abdruck des Helms ab. »Bisher haben wir jedenfalls niemanden ermitteln können.«
»Seine Mutter ist gestorben, als er siebzehn war.« Kurtz glättete den Schlips vor der weißen Hemdbrust. »Sein Vater müsste noch leben, irgendwo in Apulien. Soweit ich weiß, hatten sie seit Jahrzehnten keinen Kontakt.«
»Was ist mit Kindern? Einer Frau?«
»Donny hat allein gelebt.« Kurtz schüttelte den Kopf. »Es gab nur zwei Dinge in seinem Leben, die Firma und mich. Und um Ihre Frage vorwegzunehmen: Ja, sein Tod geht mir nahe, sehr nahe sogar. Auch wenn ich vielleicht nicht den Eindruck vermittle. Ich bin es gewohnt, solcherlei Dinge mit mir selbst zu regeln.«
Kurtz ließ eine Pause einfließen, um Schröder Gelegenheit zu einer Frage zu geben. Was jedoch ausblieb. Schweigend, die kurzen Beine übereinandergeschlagen, saß Schröder in seinem Sessel, die hellblauen Augen auf sein Gegenüber gerichtet.
»Ich nehme an, Sie brauchen jemanden, der ihn …«, Kurtz stockte, fuhr mit der Zunge über die breiten, sinnlichen Lippen, »identifiziert? Da es keine Angehörigen gibt, bin ich wohl der Einzige, der …«
»Sie würden ihn nicht erkennen.«
Kurtz erbleichte.
»Abgesehen davon«, fuhr Schröder fort, »ist es auch nicht nötig. Der Gebissabgleich ist eindeutig. Der Mercedes, in dem wir Donald Piral gefunden haben, gehört der Firma?«
»Ja.«
»Es wird noch dauern, bis wir ihn herausgeben können, die Spurensicherung …«
»Der verdammte Wagen interessiert mich einen Scheißdreck.«
Kurtz starrte auf seine Hände. Ein schwerer goldener Siegelring funkelte in der Sonne, die schräg durch die deckenhohen Fenster fiel.
»Wer … wer tut so was?«, murmelte er schließlich.
»Das ist genau die Frage, die ich Ihnen stellen wollte, Herr Kurtz.«
»Was ein Motiv betrifft«, Kurtz holte tief Luft, »sollte ich wohl Ihre erste Adresse sein. Nach Donnys Tod fallen seine Anteile an mich.«
»Zwölfeinhalb Millionen Euro.«
Kurtz hob den Kopf.
»Sie haben sich informiert.«
»Aber natürlich«, lächelte Schröder.
Das Gespräch dauerte noch ein paar Minuten, bis Schröder schließlich auf die Uhr sah und erklärte, dass er leider gehen müsse, sein Vorgesetzter lege allergrößten Wert auf Pünktlichkeit. Er bedankte sich höflich, bat um eine Liste der Angestellten, um sie in den nächsten Tagen vernehmen zu können, stülpte den Mopedhelm über die Glatze und verließ Victor Kurtz mit dem Versprechen, ihn in allernächster Zukunft erneut aufzusuchen.