Zwei
»Melde mich gehorsamst zur Stelle, Herr Hauptkommissar!«
Schröder schloss die Tür, salutierte zackig und blieb in Habachtstellung stehen.
»Lass den Scheiß«, knurrte Zorn, ohne von seiner Akte aufzusehen.
»Zu Befehl, Herr Hauptkommissar!« Schröder schlug die Hacken zusammen.
Zorn blätterte um.
»Wenn der Herr Hauptkommissar gestatten«, schnarrte Schröder in militärischem Tonfall, »würde ich den Herrn Hauptkommissar jetzt über die Ergebnisse der Befragung des potentiellen Verdächtigen Kurtz, Victor informieren. Es sei denn, der Herr Hauptkommissar hat andere Anweisungen. In diesem Falle …«
»Ich sagte«, Zorn senkte drohend die Stimme, »du sollst diesen Scheiß lassen! Wir haben das oft genug durchgekaut!«
Das hatten sie tatsächlich. Ein halbes Jahr war vergangen, seit sie ihre Positionen hatten tauschen müssen. Zorn hatte sich mit Händen und Füßen gewehrt, schließlich war Schröder eindeutig besser geeignet, die Abteilung zu leiten. Abgesehen von seinem naturgemäßen Drang nach Ruhe hatte sich Claudius Zorn längst damit abgefunden, dass er mit charakterlichen Eigenschaften wie Strebsamkeit, Ehrgeiz oder Fleiß eher defizitär ausgestattet war. Doch die Alternative wäre gewesen, dass Schröder den Dienst quittierte, und so hatte Zorn zähneknirschend eingewilligt, allerdings unter der Bedingung, dass alles nur auf dem Papier stattfinden würde.
Ansonsten, hatte er gesagt, bleibt alles beim Alten. Du machst die Arbeit, ich rauche. Ich spiele den Chef, und du sagst mir, was ich zu tun habe. Keine Spielchen, keine Sticheleien. Sonst bin ich es, der hier kündigt.
Sie hatten beide gewusst, dass dies eine leere Drohung gewesen war, und Schröder, der – ebenso wie Zorn, allerdings aus völlig anderen Gründen – keinerlei Wert auf Dienstränge oder berufliche Positionen legte, nutzte jede Gelegenheit, Claudius Zorn auf die Palme zu bringen.
»Man wird doch wohl mal ein Späßchen machen dürfen.«
Schröder schob schmollend die Unterlippe vor.
»Im Moment«, Zorn schloss die Akte, »hab ich absolut keinen Bock auf irgendwelche Späßchen . Und jetzt nimm diesen dämlichen Mopedhelm ab, du siehst aus wie’n bekiffter Nacktmulch.«
Schröder setzte zu einer empörten Antwort an.
»Ich weiß«, Zorn winkte genervt ab, »dass Nacktmulche nicht kiffen. Aber ’ne bessere Metapher fällt mir grad nicht ein. Und jetzt setz dich gefälligst an deinen Schreibtisch, und lass uns arbeiten.«
*
»Schröder meint, wir sollten uns diesen Victor Kurtz genauer ansehen«, sagte Zorn. »Er war mit Donald Piral befreundet. Und er ist der Einzige, der von seinem Tod profitiert.«
»Ich dachte, wir hätten eine Abmachung.« Frieda saß neben ihm auf dem Beifahrersitz, während der Volvo gemächlich durch die Innenstadt rollte. »Du weißt schon: Nach Dienstschluss kein Wort über die Arbeit.«
Bisher hatten sie sich daran gehalten. Kein Wunder, dies war der erste Fall, den sie zusammen bearbeiteten, seit Frieda aus der Landeshauptstadt zur hiesigen Staatsanwaltschaft zurückgekehrt war.
»Wir können auch über was anderes reden, ich …«
»Ist schon okay, Claudius.«
Sie fuhren am Stadtwald entlang. Die Sonne stand tief über den Bäumen, schickte ihre Strahlen schräg über den rissigen Asphalt.
»Zwölfeinhalb Millionen Euro.« Zorn bremste an einem Zebrastreifen, der Volvo reagierte mit einem mürrischen Quietschen. »Dafür kann man schon mal jemanden umbringen.«
»Mit Löschkalk? Nee, Claudius.« Frieda klappte die Sonnenblende herunter und warf einen prüfenden Blick in den kleinen Spiegel. »Jemand, der dermaßen barbarisch tötet, der will kein Geld. Dem geht’s um was anderes.« Sie öffnete ihre Handtasche und begann, sich die Lippen nachzuziehen. »Vergeltung, Rache, nenn’s, wie du willst.«
Frieda richtete die dünnen Träger ihres geblümten Seidenkleides, ordnete den kurzgeschnittenen Bubikopf. Das alles war unnötig, fand Zorn. Sie sah perfekt aus.
»Trotzdem, ich …« Er stockte, sein Blick streifte ihre schlanken, gebräunten Beine. »Ich meine«, er räusperte sich und sah dann wieder vorschriftsmäßig auf die Fahrbahn, »wahrscheinlich hat Donald Piral seinen Mörder gekannt.«
Der Mercedes war noch in der Spurensicherung. Am Tatort selbst waren die Untersuchungen mittlerweile abgeschlossen; es gab eine Menge Spuren, aber es war unklar, welche davon einem der unzähligen Spaziergänger oder dem Mörder zuzuordnen waren. Weitere Reifenspuren waren nicht gefunden worden, und so gingen sie davon aus, dass Donald Piral und sein Mörder gemeinsam zum Waldweg gefahren waren.
»Das muss nicht sein.« Frieda schüttelte den Kopf. »Niemand weiß, ob Piral freiwillig dahin gefahren ist. Er könnte genauso gut gezwungen worden sein.«
Das hatte Schröder ebenfalls schon zu bedenken gegeben.
»Im Moment«, beharrte Zorn, »ist Victor Kurtz unser einziger Anhaltspunkt.«
»Hat der eigentlich ein Alibi?«
»Er war an der Ostsee, behauptet er zumindest. In irgend ’nem Wellnesshotel auf Rügen. Schröder hat sich die Adresse geben lassen, er will das überprüfen.«
Die Straße bog nach links ab, führte durch eine dörfliche Siedlung am Waldrand. Schmucke Einfamilienhäuser zogen vorbei. Dächer glänzten in der Sonne. Männer in Strohhüten gossen hinter akkurat gestutzten Hecken ihren Rasen. Frauen in Nylonschürzen hängten Wäsche auf.
Zorn wollte herunterschalten, das Getriebe sprang in den Leerlauf. Er rammte den Ganghebel mit aller Gewalt nach vorn. Der Motor heulte auf, der Volvo machte urplötzlich einen Satz. Zorn stieß einen Fluch aus, Friedas Blick ließ ihn umgehend verstummen.
»Hat der eigentlich noch TÜV ?«, fragte sie.
»Klar«, behauptete Zorn.
Sicher war er nicht.
Der Volvo war knapp zwölf Jahre alt. Zorn hatte den Wagen reparieren lassen, nachdem er ihn im Winter am Hasenberg zu Schrott gefahren hatte. Das kostet dreitausend Euro, hatte man ihm in der Werkstatt gesagt, mehr, als die Kiste wert ist. Zorn hatte es trotzdem machen lassen, obwohl er sich ohne weiteres einen neuen Wagen hätte leisten können. Doch er hasste Autohändler, die in seinen Augen ebenso wie Versicherungsvertreter nur ein einziges Ziel hatten: unschuldigen Menschen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Zu dieser Spezies zählten Zorns Meinung nach auch Immobilienmakler, und so war es kein Wunder, dass er Victor Kurtz – einen Mann, den er noch nie in seinem Leben zu Gesicht bekommen hatte – durchaus für fähig hielt, einen Menschen zu ermorden.
»Ich finde«, sagte er, »wir sollten den ganz genau unter die Lupe nehmen. Er hat ein Motiv.«
Ein Insekt zerbarst klatschend an der Scheibe. Auf dem Bürgersteig schob ein Mann in blauer Jogginghose ein klappriges Fahrrad neben sich her.
»Vielleicht«, nickte Frieda. »Aber für einen Durchsuchungsbeschluss ist das alles ein bisschen dürftig, findest du nicht?«
»Ich hab kein Wort von ’nem Durchsuchungsbeschluss gesagt!«
Zorn hieb auf das Lenkrad. Die Hupe quäkte auf. Der Mann in der Jogginghose hüpfte erschrocken zur Seite, das Rad landete krachend auf dem Fußweg.
»Claudius?« Sie sah ihn an. »Kann es sein, dass wir uns gerade streiten?«
Na klasse, dachte Zorn. Das fängt ja gut an.
»Tschuldigung, Frieda.«
»Du musst nicht genervt sein.« Sie lehnte sich zurück, hob die linke Hand und massierte seinen Nacken. »Du kriegst das schon hin.«
Nun, da war Claudius Zorn keineswegs sicher. Außerdem gab es eine Menge weiterer Gründe, frustriert zu sein. Zum Beispiel, dass sie nicht zusammenlebten. Friedas alte Wohnung war wieder vermietet gewesen, und so hatte sie sich eine neue gesucht, allerdings ohne zu fragen, ob sie gemeinsam in eine größere ziehen wollten. Zorn hatte sich nicht getraut, das Thema zu erwähnen. Er war selbst unsicher gewesen, insgeheim aber hatte er darauf gehofft, dass Frieda ihn zumindest darauf ansprechen würde, was sie allerdings nicht getan hatte. Und dann war da Rufus, um den er sich Sorgen machte, Rufus, der vor ein paar Monaten beinahe gestorben war und jetzt …
»Bin gespannt, was er gekocht hat.«
Frieda riss ihn aus seinen Gedanken. Der Volvo holperte über die Zufahrt zu Schröders Grundstück, der sie bereits erwartete und winkend vor dem schmiedeeisernen Gartentor stand.
Ich auch, dachte Zorn, ich bin auch gespannt. Allerdings nicht auf das Essen, das wird sowieso lecker.
Um acht, hatte Schröder bei Dienstschluss gesagt, wird serviert. Seid bitte pünktlich. Das wird ein besonderer Abend, ich will euch jemanden vorstellen.