Fünf
22
. August.
Es war Freitagmorgen, als Jenny Vaatz im Büro erschien.
Sie nahm sich weder die Zeit zu klopfen, noch ließ sie sich zu einer Begrüßung herab. Stattdessen verlangte sie, umgehend mit Kommissar Schröder zu sprechen, und Claudius Zorn, der am Fenster stand und im Begriff war, sich einen Kaffee zu kochen, beschloss augenblicklich, die ungehobelte Störerin nicht zu mögen.
»Kollege Schröder«, beschied er knapp, »ist noch nicht da.«
»Das sehe ich.«
Zorn musterte sie über den Rand seiner Brille: Scharfe Gesichtszüge, harte Augen. Schmale, grellrot geschminkte Lippen. Pechschwarz gefärbtes Haar. Eine gepflegte, nach teurem Parfüm riechende Frau um die vierzig, die es offensichtlich gewohnt war, ihre Mitmenschen als ihre Dienerschaft zu betrachten, und sich jetzt mit metallisch klingender Stimme erkundigte, wann Kommissar Schröder zu sprechen sei.
Es war Viertel nach acht, Schröder war seit fünfzehn Minuten überfällig. Zorn konnte sich nicht erinnern, dass Schröder jemals unangekündigt zu spät zum Dienst erschienen war, doch dies war eine Angelegenheit, die er mit seinem ehemaligen Vorgesetzten unter vier Augen klären würde.
»Worum geht’s denn?«, fragte er.
»Das werde ich mit Herrn Schröder persönlich besprechen.«
Es gab eine Art mentale Hitliste, in der Claudius Zorn unsympathische Menschen registriert hatte (genauer gesagt gab es zwei, eine für das männliche, eine für das weibliche Geschlecht). Diese Listen waren weder erklärbar, noch folgten sie einer nachvollziehbaren Logik, sie richteten sich einzig und allein nach seinem Bauchgefühl. Momentan rangierte Zorns herablassende Besucherin unter den ersten zwanzig, irgendwo zwischen Veronica Ferres und Helene Fischer.
»Kann ich vielleicht helfen?«
Sie taxierte ihn von oben bis unten. Der Blick, mit dem sein verblichenes Iggy-Pop
-T-Shirt, die ausgewaschenen Jeans und die zertretenen Stiefel bedacht wurden, katapultierte die dunkelhaarige Frau umgehend in die Top Ten seines persönlichen Rankings, wo sie direkt hinter Jenny Elvers landete.
»Nein.«
Zorn hatte Mühe, große Mühe, die Fassung zu bewahren, und lange wäre ihm dies wohl auch nicht mehr gelungen, doch zum Glück öffnete sich die Tür, Schröder erschien und entschuldigte sich schnaufend, dass sein Moped nicht angesprungen sei.
»Irgendwas mit dem Vergaser, ich …«
»Du hast Besuch«, unterbrach Zorn.
Die Frau, die sich später als Jenny Vaatz vorstellen sollte, übersah Schröders höflich ausgestreckte Hand, begnügte sich mit einem knappen Nicken und erklärte erneut, dass sie mit Kommissar Schröder zu sprechen habe.
»Und zwar allein«, fügte sie mit einem weiteren Blick auf Zorn hinzu, einem Blick, der ihr einen Podestplatz in Zorns imaginärer Hitliste einbrachte (womit die amtierende Verteidigungsministerin auf den undankbaren vierten Platz verdrängt wurde).
Schröder – zuvorkommend wie immer – öffnete die Tür, deutete einladend in den Flur und bat seine Besucherin in einen der Besprechungsräume. Er sah Zorn an, hob in einer stummen Geste die Schultern, um anzudeuten, dass er keine Ahnung habe, was hier vorgehe, und verließ das Büro.
*
»Ich werde bedroht«, erklärte Jenny Vaatz. »Ich brauche Polizeischutz, und ich verlange …«
»Wenn Sie gestatten«, unterbrach Schröder, »würde ich gern von vorn beginnen, Frau Vaatz. Zunächst möchte ich wissen, warum Sie ausgerechnet mit mir sprechen wollen.«
Die Luft war stickig, roch nach Männerschweiß und Waffenöl. Schröder stand auf, kippte ein Fenster und setzte sich wieder auf einen der grauen Plastikstühle, die den zerkratzten Tisch in der Mitte des Besprechungsraums säumten.
»Sie sind mir empfohlen worden«, sagte Jenny Vaatz.
»Das freut mich. Von wem, wenn man fragen darf?«
»Von meinem Sohn.« Sie nestelte an ihrer Halskette. Der Anhänger, ein silbernes, mit winzigen Smaragden besetztes Kreuz, funkelte. »Er ist in einem Ihrer Kurse.«
»Hendryk?« Schröders Gesicht hellte sich auf. »Ein begabter
Junge. Er wird bestimmt mal ein guter Polizist. Grüßen Sie ihn von mir.«
»Er sagt, Sie würden mir helfen.«
»Das werde ich, wenn’s mir möglich ist.«
»Ich …« Sie sammelte sich kurz, holte tief Luft. »Bei mir wurde eingebrochen, vor zwei Wochen. Gestohlen wurde nichts, doch die Wohnung war komplett auf den Kopf gestellt. Ich habe natürlich Anzeige erstattet. Ihre … Kollegen haben meine Wohnung durchsucht, konnten aber angeblich keine Spuren finden, die auf den Täter deuten. Vor drei Tagen war er wieder da. Genau wie beim ersten Mal war alles durchwühlt, doch nichts hat gefehlt.«
»Haben Sie die Polizei informiert?«
»Natürlich. Wissen Sie, was die gesagt haben?« Ein kurzes, bellendes Lachen. »Dass es sich um einen schlechten Scherz handelt. Die haben mir geraten, die Schlösser auszutauschen.«
Im Gegensatz zu Zorn beurteilte Schröder die Menschen erst, nachdem er sich näher mit ihnen beschäftigt hatte, doch er teilte die instinktive Abneigung seines impulsiven Vorgesetzten gegen diese schlanke, hochgewachsene Frau, die ihm mit verkniffenem Mund gegenübersaß und wütend mit den lackierten Fingernägeln auf die abgeschabte Tischplatte trommelte. Eine Abneigung, die er sich allerdings nicht anmerken ließ.
»Sie fühlen sich also bedroht«, stellte er fest.
»Was glauben Sie
denn?«, zischte sie. »Soll ich vielleicht Luftsprünge machen?«
»Gibt es irgendeinen Hinweis? Jemanden, der einen Grund haben könnte, Sie zu verfolgen?«
Sie sah an Schröders Schulter vorbei zur Wand. Neben der Tür war mit Reißzwecken ein Plakat befestigt. MIT BLAULICHT IN DIE ZUKUNFT
!,
stand über einer lachenden, blondbezopften jungen Frau in Uniform, der ein Witzbold die Zähne mit einem Kugelschreiber geschwärzt hatte. BEWIRB DICH JETZT
!
»Nein.« Sie griff wieder nach der Halskette. Etwas, das sie immer zu tun schien, wenn sie sich unwohl fühlte. »Wenn, dann hätte ich das Ihren Kollegen gesagt.«
»Trotzdem haben Sie Angst.«
»Ja, verdammt!« Ihre Stimme wurde schrill. »Gibt es denn niemanden, der mich hier ernst nimmt?«
»Das tue ich«, erwiderte Schröder ruhig.
»Ich verlange Polizeischutz! Sofort!
«
»Bedaure.« Schröder schüttelte den kahlen Kopf. »Abgesehen davon, dass es nicht in meinem Aufgabenbereich liegt, übersteigen solcherlei Entscheidungen meine Kompetenzen. Ich kann Ihnen anbieten, dass ich mich mit den Kollegen in Verbindung setze, allerdings fürchte ich …«
Jenny Vaatz sprang wutschnaubend auf, und bevor Schröder den Satz zu Ende bringen konnte, krachte die Tür hinter ihr ins Schloss.
*
»Eine unangenehme Frau«, schloss Schröder seufzend seinen Bericht.
»Allerdings«, brummte Zorn. »Platz zwei, direkt hinter Heidi Klum.«
»Wie meinen?«
»Egal«, winkte Zorn ab. »Wenn sie Polizeischutz will, sollte sie sich jedenfalls was anderes einfallen lassen als ’nen simplen Wohnungseinbruch.«
»Es waren zwei
Einbrüche.« Schröder rieb sich die rosigen Wangen, er schien ein wenig müde zu sein. »Klar, das ist immer noch kein Anlass, aber irgendwie … Ich denke, sie hat wirklich
Angst. Und sie verschweigt uns was. Angeblich hat sie keine Ahnung, wer genau sie bedroht, aber das nehme ich ihr nicht ab.«
»Tja.« Zorn nippte achselzuckend an seinem Kaffee. »Dann ist sie wohl selber schuld.«
Schröder antwortete nicht. Er hatte die kurzen Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte nachdenklich an Zorn vorbei auf einen nicht vorhandenen Punkt an der weißgetünchten Bürowand.
»Und?« Zorn leerte die Tasse, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und begann, betont beiläufig in einer Schublade zu kramen. »Wie war’s gestern noch?«
Schröder straffte sich umgehend.
»War ein schöner Abend, oder?«, sagte er mit glänzenden Augen. »Schade, dass ihr so früh gegangen seid. Ich bin mit Albert noch um den See gelaufen, danach haben wir bis zum Morgengrauen geredet.«
»Kein Wunder, dass du verpennt hast.«
»Ich hab nicht verpennt
. Der Vergaser …«
»Jaja.«
»Wie findest du ihn eigentlich?«
»Wen?«
»Albert.«
Schröder sah Zorn erwartungsvoll an. Dieser wusste natürlich, wie wichtig dem kleinen Mann seine Antwort war. Trotzdem – vielleicht auch gerade deswegen – ließ er ihn noch ein wenig appeln, und als er sich schließlich dazu bequemte, benutzte er dieselben nichtssagenden Worte, die er bereits am Vorabend zu Frieda gesagt hatte: »Ganz nett.«