Acht
Jenny Vaatz betrat ihr Apartment, zog die Tür hinter sich zu und schloss ab. Dreimal drehte sich der Schlüssel, die Verriegelung schnappte ein. Sie legte die Sicherheitskette vor, schloss den Querriegel. Ihre Wut auf die Polizei war noch längst nicht verraucht. Der einzige Rat, den diese Idioten ihr gegeben hatten, war, die Schlösser austauschen zu lassen. Das hatte sie auch getan und bei dieser Gelegenheit die zusätzlichen Sicherungen anbringen lassen.
Sie warf einen Blick durch den Spion in den Hausflur, streifte die Pumps ab und lehnte sich mit einem erleichterten Seufzen neben der Garderobe an die Wand. Ihr Blick fiel auf den Spiegel gegenüber. Sie trat näher, betrachtete das pechschwarzgefärbte Haar und beschloss, am nächsten Tag zum Friseur zu gehen. Im Herbst wurde sie dreiundvierzig. Die sorgfältig geschminkte Frau, die ihr unter gezupften Brauen entgegensah, hatte wenig mit dem bezopften Mädchen zu tun, das sie vor zwanzig Jahren gewesen war, doch trotzdem, fand Jenny Vaatz, konnte sie sich immer noch sehen lassen. Sie ging in ihr Arbeitszimmer, setzte sich hinter den Schreibtisch und startete ihren iMac. Früher hatte Hendryk hier sein Kinderzimmer gehabt, doch jetzt, fünf Jahre nachdem er ausgezogen war, erinnerte so gut wie nichts mehr an
seine Anwesenheit, ausgenommen der helle Fleck, wo sein Ärzte-Poster gehangen hatte, ein paar Dübellöcher, in denen das Regal mit dem Fernseher und der Playstation befestigt gewesen war, und die Abdrücke, die das schmale Kinderbett auf dem grauen Veloursteppich hinterlassen hatte. Sie vermisste ihren Sohn nicht, im Gegenteil, sie war erleichtert gewesen, als er die Wohnung verlassen hatte, schließlich hatte sie den Jungen lange genug allein großgezogen. Ab und zu telefonierten sie miteinander, und als sie Hendryk von den Einbrüchen erzählt und sich wortreich über die empörende Behandlung auf der Wache beschwert hatte, da hatte er ihr geraten, sich an diesen kleinen Polizisten zu wenden. Kommissar Schröder hilft dir bestimmt, hatte er geradezu euphorisch geschwärmt, der Mann ist klasse, ein echt cooler Typ.
Das war ein Trugschluss, dachte sie mit zusammengepressten Lippen, während der 27
-Zoll-Bildschirm aufflackerte. Polizisten. Die sind alle gleich, alle. Dass ihr naiver Sohn so dumm war, diese Laufbahn einschlagen zu wollen, war ärgerlich, doch es war Hendryks Sache, er war alt genug.
Ein Worddokument öffnete sich, sie scrollte nach unten und las, was sie am Abend zuvor geschrieben hatte:
»Nimm mich«, hauchte sie. Ihr Körper bebte vor Lust. Eric strich über die flaumigen Innenseiten ihrer Schenkel, sacht, gleichzeitig fordernd. Beatrix reckte sich ihm zitternd entgegen. Endlich, es war so weit. Jetzt geschah, was sie sich seit Wochen erträumt hatte. Plötzlich hielt er inne, seine dunklen Augen füllten sich mit Tränen.
»Wir dürfen das nicht«, sagte Eric unendlich traurig. Eine Träne rann glitzernd über seine hohen Wangenknochen. »Ich bin mit deiner Schwester verheiratet.«
Jenny Vaatz lehnte sich zurück. Der gefederte Sessel schwang herum, sie betrachtete das Regal neben der Tür. Fast dreißig Bücher waren dort aufgereiht, Bücher, auf deren kreischbunten Covern Jünglinge mit freien Oberkörpern knapp bekleidete Frauen in den muskulösen Armen hielten. Auch die Titel ähnelten einander, es ging um STIMMEN DER LUST
,
DIE FRAUEN VON BEDFORD CASTLE
oder VERBOTENE BEGIERDE
,
aufgedruckt in geschwungenen, goldgeprägten Lettern, ebenso wie der Name der Autorin, Erica de Gabalier.
Jenny Vaatz benutzte dieses Pseudonym seit knapp zwanzig Jahren, ihre Agentin hatte ihr damals dazu geraten und recht behalten. Die Bücher verkauften sich gut – nun, unendlich reich wurde sie davon nicht, aber das war auch nicht nötig, denn Geld hatte Jenny Vaatz genug.
Sie griff in das silberne Schälchen, das ihr früher als Aschenbecher gedient hatte und jetzt mit Pfefferminzbonbons gefüllt war. Vor drei Monaten hatten sie ihr geholfen, das Rauchen aufzugeben, und obwohl es längst nicht mehr nötig war, lutschte Jenny Vaatz sie noch immer, wenn sie an ihrem Rechner arbeitete.
»Ich kann deine Schwester nicht verlassen«, seufzte Eric unglücklich. »Ich habe nicht das Recht dazu. Angelina sitzt wegen mir im Rollstuhl.«
Schlanke Finger mit rotlackierten Nägeln flitzten routiniert über die Tastatur.
»Es war ein Unfall!«, widersprach Beatrix heftig. »Du trägst keine Schuld!«
Noch immer erschütterten Schauer der Lust ihren geschmeidigen Körper. Doch sie wusste, dass es nicht sein durfte! Dass sie ihrer
Liebe entsagen musste! Es war ihr Schicksal. Ach, sie würde sich für den Rest ihres noch so jungen Lebens in stiller Sehnsucht nach Eric verzehren und
»Mist«, murmelte Jenny Vaatz.
Es ging nicht. Sie konnte sich einfach nicht konzentrieren.
Der Sessel rollte zurück. Sie stand auf, öffnete eine Glastür und trat auf den kleinen Balkon. Tief unter ihr wand sich der Fluss wie ein dunkles Band zwischen den Bäumen. Im Hintergrund glänzten die Fassaden der Neustadt im Licht der Abendsonne, am Horizont drehten sich die Windräder gemächlich vor den kegelförmigen Umrissen der Abraumhalden. Jenny Vaatz liebte diesen Blick, die Aussicht war der Grund gewesen, warum sie diese Wohnung in einem der Apartmenthäuser auf den Felsen hoch über dem Fluss gekauft hatte. Doch im Moment hatte sie keine Muße dafür. Ihre Gedanken kreisten um etwas anderes.
Jenny Vaatz hatte die Polizei nicht belogen. Die Wahrheit hatte sie allerdings auch nicht gesagt, jedenfalls nicht die ganze. Sie wusste tatsächlich nicht, wer bei ihr eingebrochen war, doch die Tatsache, dass er (sie?)
bei seinem zweiten Besuch eine Botschaft hinterlassen hatte, hatte Jenny Vaatz den Beamten verschwiegen.
Das Bild hatte auf dem Schreibtisch gelegen. Die Kopie eines alten Schwarzweißfotos, das sie sofort verbrannt hatte.
Ich bin noch nicht sicher, ob Sie die Person sind, nach der ich suche,
hatte der Einbrecher mit Kugelschreiber auf die Rückseite geschrieben. Wenn ja, sind Ihnen die Menschen auf diesem Foto bekannt. Wenn nicht, müssen Sie sich keine weiteren Sorgen machen.
Der Abend war mild, doch Jenny Vaatz schlang die Arme um den Oberkörper, als würde sie frieren. Das Foto hatte sich längst in Rauch aufgelöst, doch die Gesichter hatten sich ebenso wie die Botschaft auf der Rückseite tief in ihr Gedächtnis gebrannt.
Ich komme wieder, wenn ich Gewissheit habe.
Jenny Vaatz presste die Lippen aufeinander.
Entweder, um mich bei Ihnen für die Umstände zu entschuldigen.
Ein Knacken.
Oder …
Das Pfefferminzbonbon barst zwischen den gepflegten Zähnen.
… um Sie zu töten.