Elf
25
. August.
Ich kenne den, dachte Zorn. Irgendwoher kenne ich den.
Er hockte in einem eindrucksvollen, lichtdurchfluteten Büroraum auf einer ledernen Eckcouch und betrachtete Victor Kurtz, der ihm schräg gegenübersaß, seine Espressotasse auf einen gläsernen Beistelltisch abstellte und ihn erwartungsvoll ansah.
»Sie sagten, Sie hätten noch ein paar Fragen, Herr Kommissar?«
Nun, die hatte Claudius Zorn nicht wirklich. Eigentlich war er wegen Frieda hier. Hör auf, ständig mit mir zu streiten, hatte sie gesagt. Mach dir gefälligst selbst ein Bild von Victor Kurtz. Guck ihn dir genau an, und wenn du dann immer noch glaubst, dass er etwas mit dem Tod von Donald Piral zu tun hat, sehen wir weiter.
»Donald Piral war also Ihr Partner«, begann Zorn die Befragung. (Ein Einstieg, der selbst für den nach über zwanzig
Dienstjahren noch immer äußerst ungeschickt agierenden Hauptkommissar ausgesprochen dämlich war.)
»Ja«, nickte Kurtz.
Er erwiderte Zorns Blick, aufmerksam, freundlich, konzentriert. Ein selbstsicherer, kräftiger Mann, der über die seltene Gabe verfügte, seinem Gesprächspartner das Gefühl zu geben, ausschließlich für ihn da zu sein.
»Ich …« Zorn räusperte sich. »Wir fragen uns …«
Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren. Er kannte dieses Gesicht. Die Haut, bleich, grobporig, von winzigen Narben gesprenkelt. Die hellgrauen Augen unter rötlichen Brauen. Den sinnlichen Mund, das markante Kinn.
»Was war er für ein Mensch?«
Victor Kurtz ließ sich Zeit für eine Antwort.
»Donny war ein Träumer«, sagte er schließlich. Ein wehmütiges Lächeln spielte um seine Mundwinkel. »Und ein Spinner. Er hat die Ideen gehabt. Die Sanierung der alten Brauerei, die Apartmenthäuser am Zoo, das alles ist auf seinem Mist gewachsen. Und ungeduldig war er. Wenn ihm etwas nicht schnell genug ging, konnte er fuchsteufelswild werden. Ihre Kollegen haben ja meine Leute befragt.«
Kurtz deutete durch die gläserne Trennwand hinüber in das Großraumbüro. Ein Dutzend Schreibtische reihte sich aneinander. Die Angestellten – Männer in weißen T-Shirts, Frauen in luftigen Sommerkleidern – saßen vor ihren Rechnern. Kaum einer schien über dreißig zu sein. Konzentriert starrten sie in ihre Monitore, ein Anblick, der Zorn an Sträflinge auf einer Galeere erinnerte.
»Was haben sie Ihnen erzählt?«, fragte Kurtz.
»Das ist vertraulich.«
»Wahrscheinlich nur Gutes.« Kurtz breitete die Arme auf der Lehne aus, schlug die Beine übereinander. »In Wahrheit«, ein weiteres, schmales Lächeln, »hatten einige ihre Probleme mit
ihm. Wir haben drei Architekten angestellt, studierte Leute, die wirklich gut sind. Donny selbst hat sein Studium nie beendet, aber er wusste einfach, was er wollte. Und er hat erwartet, dass seine Ideen umgesetzt werden. Er hat den Laden auf Trab gehalten, war ständig unter Strom. Und genau das hat er von seinen Leuten verlangt. Manche hielten ihn für einen Choleriker, aber er war einfach nur impulsiv. Ein Italiener eben. Apropos.« Kurtz deutete auf die winzigen Porzellantassen, die zwischen ihnen auf dem Glastisch standen. »Ihr Espresso ist kalt. Soll Astrit einen neuen bringen?«
»Nee.« Zorn schüttelte den Kopf. Er hatte seinen Kaffee nicht angerührt. »Ist nicht nötig.«
»Donny hatte es nicht leicht«, fuhr Kurtz nach einer Weile fort. »Er war zehn, als seine Eltern sich getrennt haben. Seine Mutter hat ihren Mann verlassen und ist mit Donny nach Venedig gegangen. Sie hat sich als Putzfrau durchgeschlagen. Er hat nie viel über diese Zeit erzählt, aber es muss ziemlich hart gewesen sein. Sie hatten kaum Geld. Er war ein Außenseiter, ist wegen der Hasenscharte ständig gehänselt worden.«
Die Sonne tauchte das Büro in flirrendes Licht, spiegelte sich auf der polierten Fläche des großen Schreibtischs. An der Wand dahinter prangte ein riesiges abstraktes Gemälde, das Zorn an die Papierunterlagen erinnerte, auf denen Edgar beim Tuschen seine Pinsel säuberte.
»Gibt es noch jemanden, der von seinem Tod profitiert?«, fragte er.
»Noch
jemanden?« Victor Kurtz neigte den Kopf. Die grauen Augen verengten sich. »Sie meinen, jemanden außer mir?«
Zorn antwortete nicht.
Woher, dachte er, kenne ich dich, verdammt nochmal?
»Ich weiß es nicht.« Kurtz beugte sich kopfschüttelnd vor, strich mit der Hand über die gläserne Tischplatte. Der schwere Siegelring blitzte auf. »Abgesehen vom Geld«, er zerrieb ein
unsichtbares Staubkörnchen zwischen Daumen und Zeigefinger, »würde ich nicht unbedingt behaupten, dass mir Donnys Tod in irgendeiner Weise nutzt. Er war das Herz dieser Firma, ich bin nicht viel mehr als ein Buchhalter. Über kurz oder lang werde ich den Laden wohl dichtmachen.«
Und dann, dachte Zorn, verlieren deine Leute ihren Job. Aber das ist dir egal, solange du genügend Kohle auf dem Konto hast. Nee, Freundchen, du bist genauso verdächtig wie vorher, du …
»Als Donny starb«, sagte Kurtz, »war ich an der Ostsee. Das hatte ich Ihrem Kollegen bereits erzählt. Astrit, meine Sekretärin, hat mich begleitet. Ich habe Geschäftspartner getroffen, die fragliche Nacht habe ich mit einer polnischen Prostituierten in meinem Hotelzimmer verbracht. Astrit hat eine Liste mit sämtlichen Personen, die ich gesprochen habe. Adressen, Telefonnummern, alles, was Sie brauchen.«
Victor Kurtz sah Zorn an.
»Ich habe Donny geliebt«, sagte er leise. »Er war wie ein Bruder für mich. Es ist Ihr Job, mich zu verdächtigen. Prüfen Sie mein Alibi, aber tun Sie’s schnell. Wenn das erledigt ist, finden Sie den Kerl, der ihn umgebracht hat. Ich will, dass er bestraft wird.«
Kurtz’ Tonfall hatte sich nur unmerklich geändert. Der warme, samtige Bariton eines Mannes, der seit Jahrzehnten daran gewöhnt ist, dass man ihm zuhört.
Zorn fühlte sich unbehaglich, in die Defensive gedrängt. Er überlegte einen Moment, und als ihm keine weitere Frage einfiel, bedankte er sich für das Gespräch und erhob sich. Auf dem Weg zur Tür streifte sein Blick ein gerahmtes Foto, das neben einem Terminplaner an der Wand hing.
Zwei junge Männer saßen auf einer Hafenmole und lachten in die Kamera. Hinter ihnen glitzerte das Meer in der Sonne, Möwen zogen über den strahlend blauen Himmel.
Der eine war Donald Piral. Bisher hatte Zorn nur das
Lichtbild aus Pirals Ausweis gesehen, und obwohl er auf dieser Aufnahme mindestens zwanzig Jahre jünger war, erkannte Zorn ihn sofort. Der schlaksige Junge mit dem südländischem Teint und dem wirrem Lockenkopf hatte wenig gemein mit dem schlipstragenden Mann auf dem Ausweisbild. Im Laufe der Jahre hatte er deutlich zugenommen, doch die Hasenscharte, die Pirals Oberlippe teilte, war unverkennbar.
»Das war in Venedig.« Victor Kurtz war näher getreten. Zorn roch sein Rasierwasser und den Duft des weißen, frisch gewaschenen Hemdes. »Wir hatten uns gerade kennengelernt.«
Zorn betrachtete die zweite Person auf dem Foto. In seiner Jugend musste Victor Kurtz viel Sport getrieben haben, er trug ein geblümtes Hawaiihemd, das über dem Bauchnabel verknotet war und den Blick auf den durchtrainierten Oberkörper freigab. Sein kräftiger Arm lag um Pirals schmale Schultern, den Strohhut, der seine empfindliche Haut vor der Sonne schützte, hatte er keck in den Nacken geschoben. Grinsend hielten die beiden ein Bier in die Kamera, zwei unbeschwerte Jugendliche auf einem sommerlichen Trip an der Adria.
»Mein Gott«, seufzte Kurtz. »Wir waren so jung.«
Zorn antwortete nicht. Er war noch immer nicht sicher, was er von Victor Kurtz halten sollte. Doch eines war ihm jetzt klar.
»Waren Sie schon mal in Venedig, Herr Kommissar?«
»Allerdings«, nickte Zorn.
Er wusste jetzt, woher er Victor Kurtz kannte.