Dreizehn
Venedig, Sommer 1992 .
Scheiße, denkt er. Was für ’ne dämliche Scheiße.
Er sitzt in einer kleinen Bar in der Nähe des Markusplatzes und starrt trübsinnig in sein Bier. Die Luft ist verqualmt. Menschen drängen sich um den Tresen. Italiener. Franzosen. Engländer. Es riecht nach Schweiß, Kippen und frittiertem Fisch. Draußen regnet es in Strömen.
Scheiße, denkt er.
Er hat keine Ahnung, was er hier soll.
Claudius Zorn. Neunzehn Jahre alt. Vor kurzem noch unbeschwerter Abiturient, Hobbyfußballer und bis über beide Ohren verliebt in Heidrun, die süße Blondine aus der 12  B mit dem umwerfenden Busen. Jetzt, ein paar Monate später, ist er Student an der Polizei-Fachhochschule, angehender Kettenraucher und stinksauer auf Heidrun, die zwar immer noch blond (und großbusig) ist, aber auch eine doofe Kuh, weil sie ihn verlassen hat.
Die Bar ist winzig, ein schmaler Schlauch an der Calle del Lovo. Ein paar Tische mit gusseisernen Beinen und runden, rotgeäderten Marmorplatten. Stühle, mit rotem Leder bezogen. Er hockt auf einer ebenso gepolsterten Eckbank neben dem Klo, sein Rucksack liegt neben ihm. An den Wänden venezianische Masken, Kunstdrucke, kitschige Ansichten von San Marco. Überall goldverzierter Stuck, blitzendes Messing. Er drückt seine Zigarette in einem klobigen Glasaschenbecher aus, nimmt das Tabakpäckchen und dreht sich eine neue. Sein Blick fällt auf einen geschliffenen Kristallspiegel gegenüber. Er betrachtet den glattgesichtigen Jungen, der ihm aus dunklen, mürrischen Augen entgegenstarrt. Das weiße Hemd, bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Die verspiegelte Sonnenbrille hat er in die Stirn geschoben, um zu verhindern, dass ihm das lange, schwarze Haar über die Augen hängt.
Er prostet seinem Ebenbild zu, nippt an seinem Bier.
Es schmeckt beschissen.
Venedig im Hochsommer. Wie doof kann man eigentlich sein? Tausende Menschen quetschen sich durch handtuchbreite Gassen. Es war Heidruns Idee, sie hat die Reise gebucht. Ich will was erleben, hat sie gemeint. Was anderes machen, als den ganzen Tag Final Fantasy spielen oder MTV gucken. Na gut, hat er gesagt. Er musste sein gesamtes Geld zusammenkratzen. Neunhundert Mark für den Flug und zwei Übernachtungen. Heidrun ist ’ne Granate im Bett. War ’ne Granate, verbessert er sich und zündet die nächste Kippe an.
Eine Woche, bevor es losging, hat sie Schluss gemacht. Ihr neuer Freund heißt Gernot. Ein alter Sack, der bestimmt schon Ende zwanzig ist. Gernot studiert Kunstgeschichte.
Heidrun auch.
Und Claudius Zorn? Der wird Bulle.
Die Kellnerin drängt sich herbei. Sie stellt ein Tablett auf dem Nebentisch ab. Vier rotgesichtige Engländer greifen johlend nach ihrem Bier, einer lehnt sich zurück und gibt ihr einen Klaps auf den Hintern. Sie trägt einen schwarzen Rock und eine spitzenbesetzte Schürze. Ihr Lächeln wirkt ein bisschen bemüht, als sie sich aufrichtet und fragend auf Claudius Zorns halbvolles Bier deutet.
Ich nehm noch eins, sagt er. Prego.
Diesmal ist das Lächeln der Kellnerin echt.
Subito, signore.
Ihre Beine sind toll. Die Strumpfhose hat eine Laufmasche.
Natürlich hätte er die Reise sausen lassen können. Die Hälfte der Kohle war weg. Stornierungsgebühr, hatte der Typ vom Reisebüro gesagt. Das war Claudius Zorn egal gewesen, Geld hat ihn noch nie sonderlich interessiert. Nee, hatte er trotzig gedacht, jetzt erst recht. Dann fahre ich eben allein. Vielleicht wird’s ja gar nicht so schlimm.
Das, hatte er sehr schnell festgestellt, war ein Irrtum gewesen. Als er ankam, hatte die Sonne noch geschienen, er war in einem hoffnungslos überfüllten Vaporetto über den Canale Grande geschippert, eingezwängt zwischen Koffern, Rucksäcken und schwitzenden Touristen aus aller Herren Länder, unfähig, auch nur den kleinen Finger zu rühren. Das Hotelzimmer hatte sich als ein muffiges Kabuff mit schimmelnden Wänden und undichten Fenstern erwiesen, und später, als er nach stundenlangem Umherirren durch enge, überfüllte Gassen regelrecht auf den Markusplatz gespült wurde, da hat er nur einen kurzen Blick über die Köpfe der Menschenmassen auf die gleißende Fassade des Dogenpalastes geworfen, auf dem Absatz kehrtgemacht und ist schließlich – wie genau, weiß er nicht – in dieser Bar gelandet.
Kaum war er hier, begann es zu regnen.
Was für eine verdammte Scheiße, denkt Claudius Zorn, der in einem halben Jahr seinen zwanzigsten Geburtstag feiern wird.
Er hat keine Jacke dabei. Im Rucksack sind nur das rot-weiß bestickte Palästinensertuch, der zerkratzte Discman, ein paar CD s und seine Brieftasche. Knapp zwanzigtausend Lire hat er noch. Und drei Fünfzigmarkscheine, die er im Notfall wechseln kann. Das reicht auf jeden Fall, um sich zu besaufen.
Der Regen läuft in trüben Schlieren das Schaufenster hinab, tropft von der gestreiften Markise, den glänzenden Kapuzen der vorbeiströmenden Massen, den bunten Regenschirmen, gurgelt unter dahinstolpernden Gummistiefeln.
Übermorgen bin ich hier wieder weg, überlegt er und drückt die Kippe im überquellenden Aschenbecher aus. Ich sollte mich also nicht fragen, was ich hier will. Sondern, was ich überhaupt will.
Es ist das erste Mal, dass sich Claudius Zorn diese Frage stellt.
Er wird sie noch sehr, sehr oft in seinem Leben stellen.
Die Kellnerin bringt das Bier. Sie ist ungefähr in Zorns Alter. Er sieht nicht auf und bemerkt weder ihr Lächeln, noch, dass sie sich die Lippen nachgezogen hat. Seine Gedanken sind bei einem Thema, über das er noch nie ernsthaft nachgedacht hat.
Polizei? Was, verdammt nochmal, hat mich bloß geritten?
Er hat sich immer treiben lassen. Pläne sind blöd, was für Spießer. Spießer wie Cornelius, sein feiner Herr Bruder, der jetzt schon genau weiß, dass er in spätestens fünf Jahren seine eigene Baufirma haben wird. Oder Renate, seine Mutter. Seit der neunten Klasse hat sie ihn gelöchert. Was, hat sie ständig gefragt, willst du später mal machen, Claudius?
Leben, hat er geantwortet. Ich will vor allem leben .
Das kam ihm ziemlich cool vor.
Stühle scharren, die Engländer stehen auf. Ein Windstoß, gemischt mit einem Nieselschwall, strömt herein, als sie lärmend die Bar verlassen. Es wird ein wenig stiller. Eine Stereoanlage läuft. Nirvana. Claudius mag die Band, er hat die CD erst neulich gekauft, hört sie andauernd auf dem Discman.
Er hat brav sein Abi gemacht. Es war klar, dass er irgendwann studieren würde, das tun schließlich alle. Während die anderen irgendwelche Vorbereitungskurse und Beratungen besucht haben, hat er vor dem Gameboy gesessen und Tetris gespielt. Und als es dann so weit war, da hatte er keine Zeit mehr, lange nachdenken zu können.
Mach was, hatte Renate, seine Mutter, gesagt. Irgendwas, Claudius. Studium oder Lehre, ist mir egal. Ich werde dich jedenfalls nicht länger durchfüttern.
Am nächsten Tag hat er sich an der Fachhochschule eingeschrieben.
Ausgezogen ist er trotzdem.
Here we are now, entertain us!, schreit Kurt Cobain.
Bässe wummern, das Schlagzeug dröhnt. Claudius dreht eine neue Zigarette, nickt rhythmisch mit dem Kinn und überlegt, warum er sich ausgerechnet für dieses Studium entschieden hat. Vielleicht hat er an Columbo gedacht? Oder an eine andere Fernsehserie? Er weiß es nicht mehr. Eines allerdings weiß er, jetzt, nach den ersten Monaten: Es ist langweilig. Vorschriften büffeln, Gesetze auswendig lernen. Sport. Und natürlich die Ausbildung an der Waffe. Furchtbar. In irgendeinem Fragebogen hat er angegeben, dass er sieben Jahre Querflöte gespielt hat, und die wollten tatsächlich, dass er im Polizeiorchester mitspielt. Aber das hat Claudius knallhart abgeschmettert. So weit kommt’s noch!
Er nippt an seinem Bier. Es ist das dritte.
Schmeckt immer noch beschissen.
Nicht genug, dass er mit diesem dämlichen Vornamen gestraft ist.
Claudius, Polizeischüler. Außerdem Querflötist im Blasorchester.
Ganz, ganz furchtbar.
Die Tür wird schwungvoll aufgestoßen, ein kräftiger, hochgewachsener Typ in Jeans, weißen Turnschuhen und durchnässter Schimanski -Jacke kommt rein und sieht sich suchend nach einem freien Platz um. Claudius senkt sofort den Blick, nimmt sein Zippo und zündet die Kippe an. Er will seine Ruhe.
Nee, denkt er. Nie im Leben werde ich Bulle. Ich mach was anderes.
Und was?
Mal sehen. Das wird sich noch früh genug zeigen, ich …
»Ist hier frei?«
Der Typ wartet nicht auf eine Antwort. Er wirft seine durchgeweichte Jacke auf Zorns Rucksack, schiebt beides zur Seite und sinkt wie selbstverständlich neben Zorn auf die Eckbank. Die Schultern des schreiend bunten Hawaiihemdes sind ebenfalls feucht, er streicht das rote, tropfnasse Haar aus der Stirn und gibt der Kellnerin mit ausgestrecktem Zeigefinger ein Zeichen, offensichtlich ist er öfter hier. Sie nickt, und während sie ein Bier zapft, wendet sich der Rothaarige grinsend an Zorn. Dieser wirft einen hilflosen Blick auf zwei leere Barhocker am Tresen, doch er traut sich nicht, den anderen wegzuschicken.
»Ich bin Victor«, sagt der Rothaarige. »Du kannst mich Vic nennen. Hast du ’n bisschen Gras dabei?«
*
»Ich hab gewusst, dass du Deutscher bist.« Victor langt sich vielsagend an die Nase. »Ich hab ’nen Riecher für so was. Aus dem Osten, stimmt’s?«
Zorn nickt widerstrebend. Er ist so weit wie möglich in die Ecke gerutscht, trotzdem fühlt er sich beengt. Victor ist nur ein paar Zentimeter größer als Zorn, doch er wiegt bestimmt fünfzehn Kilo mehr.
»Du siehst nicht aus wie ’n Touri«, sagt Victor.
»Bin ich auch nicht.«
»Und was machst du hier?«
»Urlaub.«
Victors Lachen dröhnt durch die Bar. Die Kellnerin kommt. Während sie das Bier abstellt, redet Victor, noch immer lachend, in fließendem Italienisch auf sie ein. Zorn lauscht den seltsamen Klängen und starrt betreten in sein Glas. Als er den Kopf hebt, bemerkt er, dass ihn die Kellnerin ansieht.
»Ich hab ihr gesagt, dass du zwar Urlaub machst, aber kein Touri bist«, lacht Victor. Zorn weiß nicht genau, was daran lustig sein soll. Die Kellnerin lächelt ihm zu, wird ein bisschen rot und stöckelt davon.
»Sofia.« Victor senkt vertraulich die Stimme. »Geile Braut, oder?«
Zorn brummt etwas Unverbindliches.
»Willst du sie ficken?«, grinst Victor. Er rückt ein bisschen näher. »Ich kann das einfädeln. Hab sie auch schon ein paarmal gevögelt.«
Jetzt ist es an Zorn, zu erröten. Klar, er hatte schon Sex, mehr als genug. Zwar nur mit Heidrun, aber er weiß, wie’s geht. Darüber zu reden allerdings ist ihm ziemlich peinlich. Abgesehen davon kann er sich nicht so richtig vorstellen, dass Victor was mit der zierlichen Kellnerin hat. Klar, er ist ein eindrucksvoller Typ, redet wie ein Wasserfall, trägt coole Klamotten. Aber das rostrote, streng nach hinten gekämmte Haar wird bereits dünn, die Kopfhaut schimmert durch, obwohl er nicht älter als Mitte zwanzig sein kann. Ein seltsamer Widerspruch zu den Pickeln, die seine Wangen bedecken, als wäre er noch in der Pubertät.
»Also.« Victors Arm legt sich um Zorns Schultern. »Was ist nun?«
Zorn versteift sich. Victors kräftiger Unterarm pendelt direkt vor seiner Nase, er sieht die Sommersprossen auf der bleichen Haut, die feinen, durchsichtigen Haare. Er stemmt sich gegen das Gewicht, die Berührung ist ihm unangenehm.
»Lass mal«, murmelt er in sein Bierglas. »Ich hab ’ne Freundin, ich …«
»Ich meine das Gras , Alter! Hast du welches?«
»Nee.«
Auch das ist Claudius Zorn peinlich, obwohl ihm natürlich bewusst ist, wie schwachsinnig das ist. Er macht sich nichts aus Gras, hat es noch nie probiert. Ein paar Bier reichen aus, und er bekommt einen Schwips. Trotzdem hat er das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen.
»Kein Problem.« Victors kräftige Finger graben sich kurz in Zorns Oberarm. Ein freundschaftlicher Klaps auf den Rücken, dann gibt er ihn wieder frei. »Ich besorg uns was. Sofia!« Er richtet sich auf, schnipst mit den Fingern. »Due birre per favore! « Ein Zwinkern in Richtung Zorn. »Ich lad dich ein.«
»Cool.«
Zorn fühlt sich ein wenig überrumpelt. Er hat keine Ahnung, wie Victor das anstellt. Vor ein paar Minuten erst ist er hier reingekommen, und trotzdem vermittelt er das Gefühl, als würden sie sich jahrelang kennen.
»Geiles Teil.« Victor deutet auf Zorns Stirn. »Pilotenbrille, oder?«
»Hab ich am Flughafen gekauft.«
Wieder lacht Victor schallend auf. Wieder hat Claudius Zorn keine Ahnung, warum. Zwei Japaner erscheinen in der Tür. In ihren gelben, tropfenden Regenjacken mit den spitzen Kapuzen sehen sie aus wie Gartenzwerge. Die Kellnerin deutet bedauernd auf die vollen Tische. Die beiden verbeugen sich höflich und gehen wieder hinaus in den Regen.
»Und?«, fragt Victor. »Was machst du heute Abend noch?«
Zorn hebt die Schultern.
»Weiß noch nicht. Mal gucken.«
Die Stereoanlage wird aufgedreht. Zorn hebt den Kopf, lauscht dem trockenen, treibenden Beat, dem wummernden Bass, der spitzen, kreischenden Gitarre.
Give it away, give it away, give it away now!, schreit Anthony Kiedis.
Zorns Stimmung hebt sich augenblicklich. Er mag die Peppers.
»Und du?«, fragt er. »Was machst du noch so?«
»Was schon? Party natürlich.«
Sofia, die Kellnerin, erscheint mit dem Bier.
»Richtige Party.« Victor zwinkert ihr zu, nimmt die Gläser entgegen. »Damit meine ich jetzt nicht irgend ’ne Touri-Spelunke. Ich hab ’nen Kumpel, der wohnt oben in Cannaregio.« Sein Blick folgt der Kellnerin, die sich zwischen den Stühlen wieder zurück zum Tresen zwängt. »Donny kennt sich hier aus, der weiß genau, was abgeht.«
Zorn nippt an seinem Bier. Mittlerweile schmeckt es ganz gut. Er ist jetzt ein bisschen beschwipst, aber es fühlt sich gut an. Aus den Boxen dringt das Gitarrenriff von Under the bridge . Cool. Er mag die Peppers nicht nur. Er liebt sie.
»Und?« Victor legt den Kopf schief, kneift ein Auge zusammen. »Wie heißt du eigentlich?«
»Ich … äh … Claudius.«
»Ach du Scheiße.« Victor hebt grinsend sein Bierglas. »Mein Beileid.«
Sie prosten einander zu.
»Na dann, Claudius. Mach dich bereit für ’ne unvergessliche Nacht.«
Nun, damit wird Victor recht behalten.