Neunzehn
Venedig, Sommer 1992 .
Was für’n Spinner, denkt Vic.
Er hebt die Hand, streckt Zeige- und Mittelfinger in die Höhe und gibt Sofia zu verstehen, noch zwei Bier zu bringen. Milchgesicht verträgt offensichtlich nicht viel. Er taut langsam auf, erzählt irgendwas von der neuen Metallica -Scheibe.
»Die höre ich ständig«, sagt er. »Der Hammer.«
»Aber so was von«, stimmt Vic zu.
»Der absolute Oberhammer.«
Claudius heißt er also. Die arme Sau, wer will schon so heißen? Okay, Victor ist auch nicht das Gelbe vom Ei. In der Grundschule haben sie ihn Fick-Tor genannt. Oder – haha, noch witziger – Kurzer . Weil er mit Nachnamen Kurtz heißt.
Draußen regnet es noch immer in Strömen. Die Dämmerung setzt ein. Die Bar ist rammelvoll, am Tresen drängen sich durchnässte Touristen in halblangen Khakihosen und durchweichten Turnschuhen. Kameras baumeln vor dicken Bäuchen. Es riecht nach Zigaretten, schalem Bier und billigem Parfüm.
»Ich muss pissen«, sagt Milchgesicht.
Er stemmt sich hoch, stützt sich am Tisch ab und bleibt ein wenig schwankend stehen. Die schwarzen Haare baumeln neben seinem Gesicht, die Sonnenbrille hängt schief auf der Stirn. Eine Silbermünze pendelt an einem Lederband um seinen Hals. Die verwaschenen Jeans sind an den Oberschenkeln feucht, die nackten Füße stecken in braunen Jesuslatschen.
»Nicht gegen den Wind schiffen!«, grinst Vic.
Milchgesicht verschwindet im verqualmten Gedränge. Vic sieht auf die Armbanduhr, ein ziemlich gutes Imitat, das man auf den ersten Blick tatsächlich für eine Rolex halten könnte. Kurz vor neun, noch eine halbe Stunde Zeit.
Sofia bringt das Bier.
Er sieht grinsend zu ihr auf.
»Amo il tuo culo.«
Ich liebe deinen Arsch.
Sie stellt die Gläser ab und sagt leise: »Salti del ponte.«
Spring von der Brücke.
Dann, noch leiser: »Faccia brufolo.«
Pickelgesicht.
Vics Grinsen wird breiter. Der Letzte, der ihn so genannt hat, war ein Typ aus der elften Klasse. Vic selbst war damals in der neunten, er hat ein paar Monate Gewichte gestemmt, dann hat er dem Kerl zwei Rippen und das Nasenbein gebrochen. Seitdem hatte Vic seine Ruhe.
Während Sofia sich wieder zum Tresen schlängelt, überlegt Vic, wie gern er sie tatsächlich ficken würde. Wahrscheinlich wird sie ihn niemals ranlassen. Egal, Hauptsache, er kann bei ihr anschreiben.
Claudius – nein, Milchgesicht passt besser – schält sich aus dem Gewühl. Von dem würde sich Sofia garantiert flachlegen lassen. Er sieht ein bisschen aus wie Johnny Depp, obwohl er wesentlich größer ist. Sein Aussehen scheint ihm egal zu sein, womöglich ist er sich dessen gar nicht bewusst. Er ist ein paar Jahre jünger als Vic, wahrscheinlich noch nicht mal zwanzig. Trotzdem sind seine Bewegungen langsam, müde. Er verströmt die Aura eines resignierten Frührentners.
»Alter«, seufzt er und sackt neben Vic auf die Eckbank. »Das Scheißhaus stinkt wie’n Affenkäfig.«
»Haha«, macht Vic und schiebt ihm das Bier zu.
Milchgesicht trinkt einen Schluck, fängt wieder mit Metallica an. An der Rhythmusgitarre, sagt er, ist Hetfield unschlagbar. Wenn man bedenkt, dass er gleichzeitig singt. Musik scheint so ziemlich das Einzige zu sein, was ihn interessiert.
»Lars Ulrich ist ein genialer Trommler«, fährt Milchgesicht mit etwas schwerer Stimme fort, »aber Dave Grohl ist richtig genial.«
Er ist schlank, ganz gut trainiert. Aber kein ernstzunehmender Gegner.
»Grohl«, bestätigt Vic ernst, »ist der Beste von allen. Keiner kann dem das Wasser reichen.«
»Bis auf Bonham.«
»Genau, Alter. Bonham ist der Allergrößte.«
»War der Allergrößte«, korrigiert Milchgesicht. »Bonham ist seit über zehn Jahren tot.«
Der Blick, den er Vic unter hochgezogenen Brauen zuwirft, ist eindeutig: Das weiß jeder Vollidiot. Vic hat keine Ahnung von Musik. Aber irgendwie muss er das Gespräch am Laufen halten.
»Und?« fragt er. »Was machst du sonst so?«
Milchgesicht greift nach seinem Bier.
»Studieren«, murmelt er in das beschlagene Glas. Er trinkt einen Schluck, hat offensichtlich keinen Bock, darüber zu reden. Eigentlich müsste er jetzt die Gegenfrage stellen, wissen wollen, was Vic so treibt. Vic würde erzählen, was er an dieser Stelle immer erzählt, dass er einen Haufen Kohle geerbt hat und seit einem halben Jahr einen Trip quer durch Europa macht. Aber Milchgesicht fragt nicht, er starrt gelangweilt in sein Bier und beobachtet, wie sich die Schaumkrone allmählich auflöst.
»Weißt du was?« Vic gibt ihm einen Klaps auf die Schulter. Milchgesicht versteift sich. »Ich bestell uns ’nen Schnaps.«
»Nee, lass mal. Ich bin sowieso schon angesoffen.«
Vic redet weiter. Es gebe da einen coolen Club, erzählt er, drüben in Dorsoduro. »Weiber ohne Ende. Bis Mitternacht Happy Hour. Danach spielt ’ne richtig geile Band. Die covern Pink Floyd.«
»Pink Floyd?« Milchgesicht verdreht die Augen. »Alter, lass mich bloß in Ruhe mit dieser lahmen Scheiße.«
Krass. Der Typ interessiert sich weder für Weiber noch fürs Saufen. Kiffen ist ihm auch egal. Vic setzt alles auf eine Karte.
Ein Blick auf die Uhr, ein übertriebenes Seufzen.
»Ich muss los, mein Kumpel Donny wartet.« Vic zwängt sich hinter dem Tisch hervor. »Wenn du noch ’n Bier willst, bestell dir eins. Geht alles auf mich, Sofia weiß Bescheid. War nett, dich kennenzulernen.«
Ein freundschaftlicher Klaps, Vic wendet sich ab.
»Warte«, sagt Milchgesicht. »Ich komme mit.«
*
Na ja, denkt Claudius Zorn. So schlecht ist’s hier ja gar nicht.
Es hat aufgehört zu regnen. Sie sitzen auf einer Mole, Vic links, sein Kumpel Donny rechts von ihm. Ein kleiner, lockiger Typ, den sie irgendwo unterwegs aufgegabelt haben.
»Na?«, fragt Vic. »Hab ich dir zu viel versprochen?«
Nee, hat er nicht.
Der Platz ist ziemlich cool. Eine Landzunge an der Mündung des Canale Grande, schräg gegenüber vom Markusplatz. Die Fassaden der Paläste leuchten im rötlichen Licht der untergehenden Sonne, spiegeln sich im dunklen Wasser. In den unzähligen Restaurants am anderen Ufer drängen sich die Menschen, laufen sich in den labyrinthischen Gassen die Füße wund, schleppen Plastiktüten mit venezianischen Masken, albernen Glasfiguren und billigen Kunstdrucken durch die Gegend. Hier ist nichts davon zu spüren, nur leise Musik weht über die Lagune herüber.
»Hier.« Donny reicht Zorn eine Schnapsflasche. »Trink, Bruder.«
Seine Stimme ist hoch, ein wenig schrill. Er spricht hervorragend Deutsch, unterlegt mit dem typischen, rollenden R der Italiener. Und er lispelt ein bisschen, eine Folge der Hasenscharte, die seine schmale Oberlippe teilt.
»Nee«, sagt Zorn. »Ich vertrag keinen Schnaps.«
»Schnaps?« Donny richtet sich entrüstet auf. »Schnaps?! Das ist echter italienischer Grappa!«
Grrrrrrrrrappa!
Zorn trinkt einen Schluck von der klaren, öligen Flüssigkeit. Es schmeckt furchtbar. Er schüttelt sich, wischt den Mund mit dem Handrücken ab und reicht die Flasche weiter an Vic.
Ihre Beine baumeln über dem Wasser. Möwen flattern über der Lagune. Der Regen verdunstet auf den Dächern der uralten Stadt, hängt in nebligen Schwaden über den verzierten Türmchen, den hohen, geschwungenen Fenstern, den schlanken Marmorsäulen.
»Da drüben«,
drrrrrrüben
sagt Donny, »ist der Dogenpalast.«
»Ich weiß«, sagt Zorn.
»Warst du drin?«
»Nee«, sagt Zorn. »Zu voll.«
Vic stößt ein glucksendes Lachen aus.
»Das da«, Donny deutet über das Wasser, »ist die Nationalbibliothek.« Er hält eine Zigarette zwischen den ausgestreckten Fingern. »Dahinter siehst du die Kuppel der Basilika. Die Grundmauern …«
»Alter«, unterbricht Zorn. »Du musst hier echt nicht den Reiseführer spielen.«
Donny schnieft beleidigt.
»Ich muss mir ständig seine Vorträge anhören«, erklärt Vic und reicht Zorn die Flasche. »Donny studiert Architektur.«
Es klingt wie eine Entschuldigung.
»Aha«, sagt Zorn.
An der Flusspromenade gegenüber gehen die Lichter an. Die schlanke Fassade des Glockenturms schwebt über den Kuppeldächern wie ein ausgestreckter Mittelfinger. Zorn muss kichern. Er fühlt sich leicht und beschwingt, ein bisschen schwindlig.
Er trinkt, gibt die Flasche an Donny weiter. Ein süßlicher Duft kribbelt in seiner Nase. Vic hält einen Joint zwischen Daumen und Zeigefinger, sieht ihn fragend an.
»Ich … ich vertrag das Zeug nicht.«
Zorn schüttelt den Kopf. Er lallt jetzt ziemlich doll.
»Kein Problem.« Vic klemmt den Joint zwischen die Lippen, gibt Zorn einen Klaps auf den Rücken. Dieser rutscht ein Stück vor. Sein Blick fällt auf Donnys schwarzes T-Shirt.
»Alter!« Er deutet mit großen Augen auf den geschwungenen Schriftzug auf Donnys schmaler Brust. »Du stehst auf die Pixies
»Logisch.« Donny sieht ihn an, als sei er nicht ganz bei Trost. »Du nicht?«
»Mann!«, lallt Zorn. »Die Pixies sind … Götter
Eine Barkasse tuckert vorbei. Wellen schwappen an die Mole. Rechts von ihnen sind ein paar Gondeln vertäut. Die Beschläge am Bug erinnern an Pferdeköpfe, sie schwanken auf und ab, als würden sie nicken.
»With your feet in the air and your head on the ground!« Zorns Stimme hallt über die Lagune. Donny fällt ein, ebenso laut, ebenso schief: »Your head will collapse, but there’s nothing in it!«
Zorn hebt die Hand. Sie klatschen sich ab. Der Joint erscheint wieder vor seiner Nase. Diesmal ist es Donny, der ihn zwischen den Fingern hält.
»Alter«, murmelt Zorn. »Ich liebe die Pixies.«
Er greift zu.
*
»Nur das Geld«, sagt Donny. »Ausweis und Ticket kann er behalten.«
Vic kniet auf dem Boden, durchwühlt den Rucksack. Milchgesicht liegt schnarchend neben einem eisernen Poller auf den feuchten Steinen. Sein Kopf ruht in einer Pfütze, das Gesicht ist unter dem nassen Haar verborgen.
»Ungefähr zwanzigtausend Lira und hundertfünfzig Mark.« Vic hält ein Bündel Geldscheine in die Höhe. »Und ’ne Geldkarte.«
»Gut«, nickt Donny. »Dann Abmarsch.«
»Was haben wir denn hier?« Vic richtet sich kichernd auf, er hält Zorns Studentenausweis in den Fingern. »Der wird mal Bulle.«
»Soll er uns ruhig anzeigen.«
Die Pilotenbrille liegt neben Milchgesichts Kopf im Dreck. Donny hebt sie auf, klappt die Bügel zusammen und steckt sie in die Brusttasche seines grünen Seidenhemds.
»Los, wir müssen weiter.« Er klingt ungeduldig. »Ich kümmere mich um die Geldkarte. Du gehst rüber nach San Marco, vielleicht reißt du noch jemanden auf. Wir treffen uns um Mitternacht am Dogenpalast.«
»Du willst noch jemanden hochnehmen?« Vic verstaut die Geldscheine in der Hosentasche. »Haben wir nicht genug für heute?«
Donny sieht hinüber zu den flimmernden Lichtern der Altstadt.
»Es ist nie genug«, sagt er. »Nie.«