Zwanzig
Jetzt.
»Die haben mich ausgenommen wie ’ne Weihnachtsgans.«
»Scheiße«, sagte Frieda. Zorn konnte sich nicht erinnern, dieses Wort jemals aus ihrem Mund gehört zu haben. »Bist du wirklich …«
»Ob ich sicher
bin?«, schnaubte Zorn. »Klar bin ich das. Das Foto hing direkt vor meiner Nase!«
Sie lagen mit hochgelegten Füßen nebeneinander in ihren Korbstühlen auf Schröders Terrasse. Ein Bild, das an Pauschalurlauber am Swimmingpool eines All-Inclusive-Hotels erinnerte.
»Was ist mit Victor Kurtz?«, fragte Schröder. »Kann es sein, dass er dich ebenfalls erkannt hat?«
»Nee.« Zorn schüttelte den Kopf. »Das ist ’n Vierteljahrhundert her. Außerdem war ich garantiert nicht der Einzige. Ich will nicht wissen, wie viele Touristen die damals ausgenommen haben.«
Die Nacht war klar. Der Mond stand zwischen den Kiefern, warf einen silbernen Streifen auf den spiegelglatten See.
»Du solltest Kurtz zur Rede stellen«, sagte Frieda.
»Und was soll ich ihm sagen?« Zorn zog heftig an seiner Zigarette, stieß den Rauch durch die Nase aus. »Du Schwein hast mich ausgeraubt!« Er hob die Stimme. »Zwei Tage bin ich wegen dir durch dieses italienische Dreckskaff gestolpert, ohne einen Pfennig in der Tasche! Und mein Konto habt ihr auch leergeräumt! Immerhin habt ihr mir das Ticket gelassen, damit ich wieder nach Hause komme. Herzlichen Dank auch.« Er zerdrückte die Kippe im Aschenbecher auf seinem Schoß. »Kurtz würde mich nur auslachen. Selbst wenn die beiden damals halb Venedig ausgeraubt hätten, wir könnten ihnen nichts nachweisen.«
»Ein halbes Jahr später sind sie nach Deutschland gekommen«, sagte Schröder. »Sie haben ihre Firma gegründet und sind nie auffällig geworden.«
»Klar doch«, knurrte Zorn. »Sauber wie ’n frisch gepuderter Babyhintern.«
»Vielleicht«, Frieda nippte an ihrem Rotwein, »sind die beiden damals aktenkundig geworden. Ihr solltet euch mit den italienischen Behörden in Verbindung setzen.«
»Hab ich schon gemacht«, sagte Zorn.
»Respekt.« Schröder warf Zorn einen anerkennenden Blick zu. »Womöglich«, er faltete die Hände über dem Kugelbauch, »haben sie ja mal den Falschen ausgeraubt. Jemanden, der’s ihnen heimzahlen wollte.«
»Sind wir jetzt wieder bei der Mafia?« Zorn schüttelte den Kopf. »Nee, nicht nach all den Jahren, das wäre …«
»Ich meine nicht die Mafia.«
»Wen dann?«
»Dich.«
»Sehr witzig, Blödmann.«
»Du hast ein glasklares Motiv.« Schröder sah verträumt in den sternklaren Himmel. »Und du bist ein sehr, sehr
nachtragender Mensch. Erst heute habe ich das wieder zu spüren bekommen.«
»Ach!« Zorn richtete sich auf. »Sei bloß vorsichtig, sonst bist du der Nächste, dem ich ’ne Ladung Löschkalk über die Rübe kippe!«
Frieda, die zwischen ihnen lag, griff sanft nach seinem Oberarm. Eine Geste, die Claudius Zorn im Normalfall umgehend zur Ruhe gebracht hätte. Jetzt allerdings nicht. Er richtete sich auf, stützte sich auf den Ellbogen, kniff die Augen hinter der Brille zusammen und bedachte Schröder mit einem finsteren, vernichtenden Blick.
»Verhafte mich doch!«, blaffte er.
»Meinen Vorgesetzten?« Schröder schloss die Augen, räkelte sich lächelnd in seinem Liegestuhl. »Das darf ich doch gar nicht.«
»Mieser Giftzwerg.«
»Du scheinst ein bisschen verkrampft. Möchtest du vielleicht ein Bier? Das lockert dich bestimmt auf.« Pause. »Chef.«
»Dein dämliches Bier kannst du dir in den …«
»Nein«, unterbrach Frieda, »Claudius möchte kein Bier. Er muss noch fahren.«
Eine kühle Brise wehte vom See herauf, trocknete den Schweiß auf Zorns Stirn.
»Du hast es versprochen, Schröder«, knurrte er.
»Hab ich nicht.«
»Hast du doch.«
Friedas Kopf bewegte sich zwischen den beiden hin und her, als würde sie ein Tennisspiel verfolgen.
»Es war immer klar, dass das ’ne Zwischenlösung ist, Schröder! Dass du den Laden wieder übernimmst, wenn du …«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Sag mal, hast du Leukämie?«
»Leukämie?«
Schröder runzelte die Stirn. »Du meinst Alzheimer. Meines Wissens hat Leukämie keinerlei messbaren Einfluss
auf das Erinnerungsvermögen, zumindest im Anfangsstadium. Ich bin kein Mediziner, aber …«
»Ach, hör doch auf! Es reicht, wenn du hier rumlügst, da musst du nicht auch noch den Besserwisser spielen!«
»Besserwisser?« Schröder schüttelte empört den Kopf. »Das sind Fakten
! Leukämie ist eine Krebserkrankung, die nicht das Hirn, sondern das Blut angreift. Es ist also absurd, dass …«
»Jungs.«
Augenblicklich herrschte Ruhe.
Frieda lag zwischen ihnen, die Augen geschlossen, als würde ihr nicht der Mond, sondern eine tropische Sonne ins Gesicht scheinen.
»Wenn ihr nicht sofort die Klappe haltet, sorge ich dafür, dass ihr für den Rest eures Lebens auf Streife geht. Alle beide. Hab ich mich klar ausgedrückt?«
Verlegenes, zustimmendes Gemurmel.
»Fein. Und jetzt möchte ich noch ein Glas Rotwein.«
Schröder machte Anstalten, sich zu erheben, doch Frieda hielt ihn am Arm zurück.
»Das macht Claudius«, sagte sie, die Augen noch immer geschlossen.
»Aber natürlich, Madame!« Zorn sprang auf, winkelte den Arm unter einer imaginären Serviette an und verbeugte sich zackig. »Mit oder ohne Eis?«
»Herrgott«, murmelte Schröder kopfschüttelnd. »Nur ein Barbar käme auf die Idee, Rotwein mit Eis zu …«
»Ohne«, unterbrach Frieda.
»Sehr wohl«, flötete Zorn, den Blick wütend auf Schröder gerichtet.
Du kannst mich mal,
formte er lautlos mit den Lippen.
»Du bist so lieb.« Frieda öffnete die Augen, strahlte Zorn an. »Lass dir Zeit, mein Schatz. Schröder und ich müssen kurz was besprechen.«