Achtundzwanzig
2 . September.
Es war eine Familienfeier wie jede andere. Man trank Kaffee, aß Kuchen. Geschenke wurden übergeben, Lieder gesungen. Blumen standen auf dem Tisch, Kerzen funkelten. Menschen, die einander wichtig sind, hatten sich versammelt, um einem Mitglied ihrer kleinen Gemeinschaft zum Geburtstag zu gratulieren.
Zorn saß neben Frieda auf dem Sofa. Malina hatte eine Sektflasche geöffnet und verteilte die Gläser. Edgar flitzte mit einem Lego-Hubschrauber umher. Schröder, der Albert mitgebracht hatte, hob sein Mineralwasserglas.
»Auf Rufus!«
»Auf Rufus!«, erwiderten die anderen im Chor. Sektgläser klirrten aneinander, Schröder erhob sich aus seinem Sessel und wünschte dem höchst verehrten Jubilar schmunzelnd alles Gute für die nächsten Jahrzehnte, was dieser mit einem leisen Lächeln quittierte.
Rufus war kaum wiederzuerkennen, fand Zorn. Malina hatte ihn rasiert, auch sein Haar war geschnitten. Sicherlich, er war immer noch bleich wie ein Gespenst, hatte mindestens fünfzehn Kilo abgenommen und saß verkrümmt in einem stählernen Ungetüm, das sich erst bei näherem Betrachten als Rollstuhl erwies, stabilisiert von einem komplizierten System aus Stützen, Riemen und Bändern, das seinen Oberkörper in aufrechter Lage hielt. Die Haut spannte wie Pergament über den Wangenknochen, das frisch gebügelte Hemd, das Malina ihm zur Feier des Tages übergestreift hatte, schien mindestens drei Nummern zu weit, doch seine Augen, unnatürlich groß in dem eingefallenen Gesicht, waren zum ersten Mal seit Monaten wach, verfolgten jede Bewegung.
So saßen sie denn beisammen, lachten und unterhielten sich über dies und das. Rufus beteiligte sich am Gespräch in kurzen, heiseren Einwürfen. Das Beatmungsgerät, dessen Schlauch zwischen den Enden des gestärkten Hemdkragens kurz unter dem Kehlkopf in seinem Hals steckte, hinderte ihn am Sprechen.
Der Nachmittag ging in den Abend über, Malina servierte belegte Brote, und Zorn registrierte verwundert, dass Edgar wie selbstverständlich auf Alberts Schoß kletterte und diesem wortreich den Warp-Antrieb seines selbstentworfenen Raumschiffs erläuterte. Die Dämmerung brach herein, Zorn brachte seinen nur schwach protestierenden Sohn zu Bett, und als er eine halbe Stunde später zurückkehrte, war auch Rufus im Schlafzimmer verschwunden, Malina nahm Zorn beiseite und teilte ihm mit, dass Rufus noch einmal mit ihm sprechen wolle.
*
»Du siehst …«
»Vorsicht«, unterbrach Rufus heiser. »Wenn du jetzt sagst, dass ich gut aussehe, hau ich dir eine rein.«
Zorn saß auf einem Stuhl am Kopfende des Krankenbetts. Die Sitzfläche war noch warm, Malina hatte den Raum gerade erst verlassen.
»Kannst du gar nicht«, grinste Zorn. »Abgesehen davon hatte ich das auch nicht vor. Du siehst genauso beschissen aus wie immer.«
»Gleichfalls.« Rufus’ Stimme erinnerte an das Knarren eines verwitterten Gartentors. »Bist du unter die Versicherungsvertreter gegangen?«
»Du meinst das Sakko?« Zorn ordnete den Aufschlag seines Jacketts. »Das hat Frieda gekauft. Ich musste das Scheißding anziehen, sie hätte mir sonst den Kopf abgerissen. Immerhin, den Schlips konnte ich ihr noch ausreden.«
Malina hatte die Vorhänge zugezogen. Im Fensterbrett brannte eine kleine Nachttischlampe. Die Monitore der Überwachungsgeräte flimmerten im Halbdunkel.
»Ist alles okay?«, fragte Rufus.
Komisch, dachte Zorn. Müsste nicht ich diese Frage stellen?
»Klar«, sagte er.
»Ich meine, mit dir und Frieda.«
Rufus gab ein trockenes Husten von sich. Die Umrisse seines bleichen Gesichts schienen mit dem weißen Kopfkissen zu verschmelzen.
»Klar«, wiederholte Zorn.
»Gut. Sie würde dasselbe für dich tun, was Malina für mich tut.«
»Ja«, nickte Zorn. »Das würde sie.«
Gedämpfte Stimmen drangen aus dem Wohnzimmer. Albert, der nach und nach aufgetaut war, schien eine witzige Bemerkung gemacht zu haben. Malina lachte auf.
»So hat sie seit Ewigkeiten nicht mehr gelacht«, murmelte Rufus. »Richtig , meine ich. Sie … Scheiße, meine Nase juckt. Wärst du vielleicht so freundlich?«
»Sicher doch.« Zorn beugte sich über das Bett. »Besser?«
»Weiter rechts.«
»Hier?«
»Ja.«
Rufus schloss seufzend die Augen.
»Ich hab nie verstanden, was Malina an dir findet«, sagte Zorn.
»Arschloch.«
»Gleichfalls«, grinste Zorn.
Das Piepsen der Monitore mischte sich mit dem rhythmischen, hydraulischen Schnaufen des Beatmungsgeräts.
»Malina liebt dich, Rufus.«
»Ich weiß.«
»Edgar liebt dich auch.«
»Auch das weiß ich.«
»Du …« Zorn räusperte sich, dachte kurz nach. »Es klingt bescheuert, aber ich hab keine Ahnung, wie ich’s sonst ausdrücken soll. Du darfst dich nicht aufgeben.«
»Ich kann nicht selbständig atmen«, murmelte Rufus, die Augen noch immer geschlossen. »Ich kann mir nicht mal die verdammte Nase kratzen. Du könntest mir die Beine abhacken, ich würd’s nicht merken. Ich spüre, wenn meine Blase voll ist, aber ich hab’s nicht unter Kontrolle. Ich muss ständig von einer Seite auf die andere gelegt werden, weil ich sonst verfaule. Malina tut, als würde ihr das alles nichts ausmachen, aber lange hält sie das nicht mehr durch. Sie kann mir nicht für den Rest ihres Lebens die Windeln wechseln.«
Das Sprechen hatte Rufus erschöpft. Er verstummte, seine schmale Brust hob und senkte sich unter dem Laken im Rhythmus der Maschine. Fast dachte Zorn, er wäre eingeschlafen, doch plötzlich öffnete er die Augen.
»Ich war mal Arzt.«
»Das bist du immer n…«
»Nein, bin ich nicht mehr. Aber ich weiß, was mit mir passiert.«
»Ihr solltet einen Pflegedienst einstellen.«
»Malina will nicht.«
»Warum? Du bist versichert, du …«
»Sie kriegt das allein hin. Sagt sie zumindest.«
»Ich rede mit ihr.«
»Mach das.«
»Kann ich … sonst noch was tun?«
Zorn ahnte, dass ihn Rufus aus einem anderen Grund hatte sprechen wollen. Dieser sah aus großen, fiebrig glänzenden Augen zu ihm auf.
»Du bist ein guter Kerl«, sagte er nach einer Weile.
Zorn setzte zu einer neuerlichen flapsigen Erwiderung an, doch Rufus kam ihm zuvor.
»Nee.« Ein schmales, wehmütiges Lächeln. »Du kannst nichts für mich tun. Du bist zu weich.«
»Wie jetzt, zu weich ? Was meinst du …«
»Was hältst du von Albert?«
Zorn blinzelte, verwirrt über den plötzlichen Themenwechsel.
»Keine Ahnung. Schröder mag ihn jedenfalls.«
»Und du?«
»Ich … ich bin nicht sicher.«
»Du bist Polizist. Du solltest die Menschen beurteilen können.«
»Das könnte ich auch«, nickte Zorn. »Wenn ich ein guter Bulle wäre. Aber das bin ich nicht.«
»Ich möchte mit ihm sprechen.«
»Jetzt? Mit Albert?«
»Sagst du ihm Bescheid?«
Zorn öffnete den Mund, um nach dem Grund zu fragen, doch er ließ es bleiben. Irgendwie wusste er, dass Rufus nicht antworten würde.
»Okay.«
Zorn beugte sich vor, tätschelte unbeholfen über eine Wölbung auf dem Laken, unter der er eine von Rufus’ Händen vermutete.
»Ich spüre das nicht«, lächelte Rufus.
»Es … es tut mir leid«, murmelte Zorn und stand auf. »Wirklich, ich wünschte, ich könnte dir irgendwie …«
»Weißt du, was Edgar mich heute Morgen gefragt hat?«
»Sag’s mir.«
»Der Junge ist was Besonderes.«
»Natürlich ist er das. Er ist mein Sohn.«
»Ich meine, er ist wirklich besonders. Er kennt die Wahrheit. Sieht die Dinge, wie sie sind.«
»Keine Ahnung, was du meinst«, erwiderte Zorn.
»Er hat gefragt, ob er meinen Laptop haben kann«, sagte Rufus. Seine Augen funkelten amüsiert. Das Lächeln, mit dem er zu Zorn aufsah, erinnerte ein wenig an den humorvollen, kräftigen Mann, der er früher einmal gewesen war. »Er meinte, ich würde ihn sowieso bald nicht mehr brauchen. Ich hab gefragt, wann genau Edgar den Laptop denn haben wolle, und er sagte, dass es sowieso nicht mehr lange dauern würde, bis ich …«
Rufus ließ eine Pause einfließen, wie jemand, der die Pointe eines besonders guten Witzes besser zur Geltung bringen will.
»Bis du was ?«, fragte Zorn.
»Bis ich sterbe«, lächelte Rufus. »Tote brauchen keinen Laptop.«