Neunundzwanzig
Da stand Beatrix nun, hoch oben auf den Klippen im tosenden Sturm. Tief unter ihr tobte das Meer gegen die Felsen, Gischt wehte zu ihr herauf, mischte sich mit dem eiskalten Regen und den Tränen, die ihr zartes Gesicht
überströmten. Da stand sie, geschändet, entehrt von Graf Hugo, ihrer Unschuld beraubt, die sie doch für Eric hatte aufheben wollen. Eric, den Mann ihrer gelähmten Schwester, unendlich geliebt und doch unerreichbar! Ja, da stand Beatrix, entschlossen, ihrem jungen Leben ein Ende zu setzen. Ein Schritt nur, ein einziger Schritt, und die unendlichen Qualen wären vorbei!
Jenny Vaatz überflog den letzten Absatz, nickte zufrieden und schrieb weiter.
»Verzeih mir, Geliebter«, kam es Beatrix über die bleichen, bebenden Lippen.
Schwankend stand sie über dem Abgrund. Sie trat einen Schritt vor, doch was war das? Rief jemand ihren Namen, oder narrte sie der tosende Sturm? Sie sah sich um. Nein, es war keine Einbildung! Sie hatte die Stimme ihrer Schwester gehört, aber was sie sah, musste ein Trugbild sein!
»Angelina!«, rief Beatrix. »Du kannst wieder laufen!« Sie stürzte zu ihrer Schwester, sah sie mit ungläubigen Augen an. »Ist es das neue Medikament, das Professor Paulus dir verschrieben hat?«
»Ja«, lächelte Angelina. »Es hat endlich gewirkt.«
Schluchzend lagen die Schwestern einander in den Armen, umtost vom Pfeifen des Orkans und dem wütenden Brüllen der Wellen.
»Komm«, murmelte Angelina, »ich bringe dich nach Hause.«
»Ich kann nicht«, schluchzte Beatrix. »Ich kann einfach nicht! Graf Hugo …«
»Graf Hugo ist tot«, sagte Angelina. »Dieser Widerling hat heute Nachmittag seine gerechte Strafe erhalten. Er ist mit seinem Privathubschrauber in eine Starkstromleitung geflogen und
Jenny Vaatz hob den Kopf, dachte einen Moment nach und korrigierte den letzten Satz.
Er ist mit Stardust, seinem Lieblingspferd, über ein Hindernis gesprungen und hat sich das Genick gebrochen.«
»Trotzdem«, weinte Beatrix. »Ich kann nicht zurück, Angelina! Ich kann so nicht mehr leben!«
»Doch«, widersprach Angelina ernst. »Du musst sogar. Für mich, und für Eric.«
»Aber …«, hauchte Beatrix.
»Ich weiß es schon lange.« Angelina strich ihrer Schwester zärtlich die nassen blonden Locken aus der glatten Stirn. »Ich habe es von Anfang an gewusst. Und ich will eurer Liebe nicht im Wege stehen. Verstehst du, was ich dir damit sagen will?«
»Nein«, flüsterte Beatrix.
»Ich habe mit Eric gesprochen«, sagte Angelina leise. »Er wartet unten am Schloss auf dich.« Ihr Lächeln war unendlich traurig, doch ihre Stimme klang fest und entschlossen, als sie sagte: »Ich gebe ihn frei.«
»Geschafft«, murmelte Jenny Vaatz und tippte vier Großbuchstaben ein:
ENDE
Das Feuerzeug klickte, sie zündete die nächste Zigarette an, stieß den Rauch durch die Nase aus und seufzte erleichtert. Ein paar Sekunden starrte sie durch die verqualmte Luft auf den Monitor ihres iMacs, die Uhrzeit oben rechts stand auf zwei Uhr morgens. Jetzt fehlte nur noch die Danksagung, doch die würde sie morgen schreiben. Die üblichen Floskeln, mit denen sie dem Verlag, ihren treuen Leserinnen
und ihrer über alles geliebten Agentin
dankte, waren im Handumdrehen in die Tastatur getippt. Vielleicht, überlegte sie gähnend, sollte sie Hendryk erwähnen, obwohl sich ihr Sprössling einen Dreck für ihre Bücher interessierte. Doch es war gut fürs Image, wenn die Leserschaft erfuhr, dass die große Erica de Gabalier einen Sohn hatte, dem sie in unendlicher Liebe
zugetan war, und es konnte nicht schaden, wenn sie ihm für seine Geduld dankte und die Kraft, mit der er sie in der Einsamkeit des Schreibens
unterstützte.
Ihr Handy vibrierte. In den letzten Stunden war Jenny Vaatz in die Arbeit vertieft gewesen und hatte nicht einen Moment an ihren Verfolger gedacht. Dies änderte sich schlagartig, als sie die Nachricht auf dem Display las.
Bald.
Jenny Vaatz reagierte sofort. Sie hatte keine Angst, nur eine grenzenlose, unbändige Wut, und so tippte sie, ohne nachzudenken, eine Antwort.
LASS MICH IN RUHE
!!!!!
Die Reaktion erfolgte prompt.
Sieh nach oben.
Unwillkürlich hob sie den Kopf. Die Decke des Arbeitszimmers war hellgrün gestrichen. In der Ecke hing eine Spinnwebe. In der Mitte baumelte die dreiarmige Messinglampe. Daneben war ein Haken befestigt. Sie konnte sich nicht erinnern, dieses Ding jemals dort angebracht zu haben, aber sie wohnte jetzt seit zwanzig Jahren hier, und wer, verdammt nochmal, sah schon jeden Tag zur Decke? Woher wusste er überhaupt, wo sie gerade war? Woher
Es ist alles vorbereitet.
WER BIST DU
????
Zwei Sekunden später kam die Antwort.
Das weißt du genau.