Dreiunddreißig
Jenny Vaatz.
Die Nacht, in der Donald Piral starb, war wunderschön.
Bei Jenny Vaatz verhält es sich ähnlich. Ein lauer, spätsommerlicher Abend. Sterne funkeln am Himmel. Mücken schwirren umher. Schmetterlinge tanzen zwischen den Bäumen. Die Vorhänge bewegen sich sacht im Wind, der durch das gekippte Fenster in das Arbeitszimmer weht.
Jenny Vaatz bekommt davon nichts mit. Das liegt am Adrenalin, das ihren Körper in tobenden Wellen geflutet hat. Dem Blut, das zwischen ihren Ohren rauscht, und an ihrem Herzen, dessen Schläge an das wilde Flattern eines gefangenen Schmetterlings erinnern. Und natürlich an der Plastiktüte über ihrem Kopf.
Sie weiß nicht, wie er in die Wohnung gekommen ist. Am Abend hat sie eine Flasche Rotwein getrunken, danach hat sie geschlafen, tief und fest, das erste Mal seit Wochen. Aber sie weiß jetzt, was er meinte, als er ihr geschrieben hat, dass alles vorbereitet sei. Als er vor zwei Wochen bei ihr eingebrochen ist, hat er nicht nur das Foto auf dem Schreibtisch hinterlassen, sondern auch diesen Haken an der Decke befestigt, der ihr neulich aufgefallen ist. Sie hat diesem kleinen Ding keine weitere Beachtung geschenkt, kein Wunder, sie war fix und fertig. Jetzt, da sie in ihrem Arbeitszimmer von der Decke baumelt, gehalten von einem kurzen Seil, das sich um ihre Handgelenke schlingt und mit ebendiesem Haken verknotet ist, ist es zu spät, sich darüber zu ärgern.
Ein Klicken. Sie kennt das Geräusch, es ist der Lichtschalter. Als ihr die Tüte vom Kopf gestreift wird, bemerkt sie, dass er das Licht nicht ein-, sondern ausgeschaltet hat. Einen Moment ist es stockdunkel, dann strahlt ihr eine Taschenlampe direkt ins Gesicht.
»Nicht schreien.«
Sie schließt geblendet die Augen. Ihre nackten Füße baumeln einen halben Meter über dem Teppich.
»Möchtest du noch etwas sagen, bevor wir anfangen?«
Die Stimme. Nur ein Flüstern, kühl, gepresst. Gleichzeitig ruhig. Neutral, irgendwie … geschlechtslos.
»Wer … wer bist du?«, keucht sie.
»Keine Fragen.« Die Taschenlampe wird auf den Schreibtisch gelegt, der Strahl richtet sich auf ihre Augen. »Ich will wissen, ob es dir leidtut.«
»Ja.«
Schritte, gedämpft durch den Teppich.
»Du lügst.«
Ein Schatten, der sich wie ein Geist im grellen Lichtkegel bewegt. Sie spürt, wie sie prüfend gemustert wird.
»Es ist nicht mehr wichtig.«
Jenny Vaatz sieht die Bewegung, doch bevor sie den Kopf abwenden kann, ist ihr Mund mit einem Stück Klebeband verschlossen.
»Ich bin nicht mehr sicher, mit welchem Bein du angefangen hast.« Pause. »Ob es das linke war oder das rechte.«
Sie versteift sich, beginnt zu strampeln. Ein absurdes Bild, als würde sie einen halben Meter über dem Boden durch das Zimmer rennen, ohne sich einen Millimeter von der Stelle zu bewegen.
Ihre Beine werden umklammert, an den Waden zusammengepresst. Klebeband schlingt sich um ihre Knöchel.
»Also dann.«
Metall klirrt. Jenny Vaatz hat geahnt, wie es beginnen würde, und als sie das Sausen hört, da weiß sie es. Mit den Schmerzen hat sie ebenfalls gerechnet, doch die Gewalt, mit der die Eisenstange ihr linkes Schienbein zertrümmert, sprengt jegliche Vorstellungskraft. Ihre Schreie gellen ausschließlich in ihrem Kopf, durch den Knebel gedämpft zu einem erstickten Gurgeln. Wimmernd, mit hervorquellenden Augen hängt sie am Strick und beginnt, um die eigene Achse zu rotieren. Eine Hand greift nach ihrer Hüfte, dreht sie wieder um.
»Jetzt «, sagt die Stimme, »tut es dir leid, richtig?«
Blut läuft ihren Unterschenkel entlang, tropft von den Zehen auf den Teppich.
»Ich werde mich genau an den Ablauf halten.« Es klingt wie ein Chirurg, der einem Patienten einen komplizierten Eingriff erklärt. »Ich werde allerdings nicht versuchen, dir die Fingernägel herauszureißen.«
Ihr selbst, fährt die Stimme fort, sei dies damals schließlich ebenfalls nicht gelungen.
Wieder Schritte, diesmal zum Bücherregal. Das CD -Fach der Stereoanlage fährt surrend heraus, schließt sich. Das fröhliche Gitarrenriff eines Popsongs aus den Achtzigern erklingt. Ein Gesicht erscheint für den Bruchteil einer Sekunde im gleißenden Lichtkegel.
»Du kennst dieses Lied.«
Dieser Mensch weiß alles. Alles .
Die Eisenstange hebt sich.
Jenny Vaatz schließt wimmernd die Augen.