Sechsunddreißig
8
. September.
»Wir haben Besuch.«
Schröder führte den sichtlich verunsicherten Hendryk ins Wohnzimmer. Albert, der auf dem Sofa gelegen hatte, nahm den Laptop vom Schoß, klappte ihn zusammen und richtete sich auf.
»Ich weiß, es ist spät«, stammelte Hendryk, der Schröder um knapp eine Kopflänge überragte. »Und ich will wirklich nicht …«
»Willst du was trinken?«, fragte Schröder.
»Ich …«
»Ein Bier?« Albert reichte Hendryk lächelnd die Hand. »Da müsste noch was im Kühlschrank sein. Ich hol dir eins.«
Er ging, das rechte Bein ein wenig nachziehend, hinter den Küchentresen. Hendryk, der offensichtlich erwartet hatte, Schröder allein anzutreffen, bedankte sich leise, während Schröder ihn zu dem großen Ohrensessel neben dem Kamin führte.
»Setz dich«, sagte er und nahm gegenüber auf dem Sofa Platz. Albert brachte das Bier, warf Schröder einen Blick zu und deutete zur Tür. Seine stumme Frage, ob er die beiden allein lassen solle, wurde von Schröder mit einem unmerklichen Senken der Augenlider bejaht. Albert erklärte, dass er noch ein bisschen
lesen werde, nickte Hendryk freundlich zu und verließ das Zimmer.
»Herr Kommissar, ich wollte wirklich nicht stören. Ich …«
»Du störst nicht. Ich hab euch gesagt, dass ich immer für euch da bin. Für jeden von euch. Jetzt trink einen Schluck«, Schröder deutete auf die beschlagene Flasche in Hendryks Hand, »und dann erzähl mir, was los ist.«
»Ehrlich gesagt«, Hendryk nippte gehorsam an seinem Bier, »weiß ich’s selbst nicht. Ich glaube, ich wollte einfach nicht allein sein. Und ich wollte fragen, ob Sie … ob Sie schon eine Spur haben.«
Der Abend war kühl. Schröder trug eine graue Strickjacke mit Zopfmuster über dem karierten Hemd. Im Kamin flackerte ein Feuer, der Widerschein der Flammen huschte über die lackierten Dielen.
»Es gibt Unmengen an Spuren, Hendryk. Seit sechsunddreißig Stunden sind wir dabei, alles auszuwerten. Bisher hat sich kaum etwas als hilfreich erwiesen. Wir haben das Handy deiner Mutter geprüft. Sie hat Nachrichten bekommen. Der Absender ist nicht zu ermitteln, aber wir wissen, dass sie tatsächlich bedroht wurde. Und wir wissen, dass sie den Absender dieser Nachrichten nicht kannte, woraus man schließen könnte, dass sie ihren Mörder ebenfalls nicht gekannt hat. Mehr«, seufzte Schröder, »kann ich dir im Moment nicht sagen. Aber es kommen ständig neue Informationen. Unsere Aufgabe ist es, die wichtigen …«
»… von den unwichtigen zu unterscheiden.«
»Stimmt«, lächelte Schröder. »Du hast ein gutes Gedächtnis.«
»Vor allem hatte ich einen guten Lehrer.«
»Wie meinst du das?« Schröder richtete sich auf. »Hatte?«
»Ich sehe einfach keinen Sinn mehr.« Hendryk betrachtete die Flasche, puhlte mit dem Fingernagel am Etikett. »Wie soll jemand Polizist werden, der es nicht mal schafft, seine Mutter zu schützen?«
»Hendryk, das ist …«
Schröder sah kopfschüttelnd zum Fenster. Draußen schwankten die Kiefern im Wind. Der Mond spiegelte sich auf dem dunklen See.
»Es war meine
Aufgabe«, sagte Schröder, nachdem er eine Weile geschwiegen hatte. »Du hast sie zu mir geschickt. Ich hätte es erkennen müssen.«
»Aber Sie werden rauskriegen, wer das getan hat. Sie werden diesen Kerl schnappen. Trotzdem frage ich mich, was Ihnen das nutzt.«
»Es ist meine Arbeit. Irgendwann wird’s auch deine sein.«
»Und dann?« Hendryk lachte auf. Ein freudloses, unglückliches Lachen. »Wissen Sie eigentlich, wie man Sie im Präsidium nennt? Den dicken
Schröder! An der Schule würde nie im Leben jemand auf diesen Gedanken kommen! Ich meine«, er hob die Stimme, »Sie sind klug! Sie sind witzig! Sie … Sie sind immer für uns da! Jeder von uns vergöttert Sie! Und was machen Ihre Kollegen? Die lachen Sie aus!« Hendryk riss das Etikett von der Flasche, zerknüllte das glänzende Papier. »Dafür soll ich meine Ausbildung machen? Damit ich später von Idioten umgeben bin?«
Schröder hatte die kurzen Beine übereinandergeschlagen und sah Hendryk an, ein feines Lächeln auf den Lippen.
»Entschuldigung«, murmelte Hendryk.
»Es stimmt«, sagte Schröder. »Als ich damals angefangen habe, da haben fast alle über mich gelacht. Aber es wurden immer weniger. Und die, die’s immer noch tun, sind nicht wichtig.«
»Trotzdem wehren Sie sich nicht.«
»Weil ich Besseres zu tun habe.«
»Ihre Arbeit.«
»Exactamente
, junger Mann.«
Schröder ließ ein paar Sekunden verstreichen.
»Du bist einer meiner besten Schüler«, sagte er dann. »Du wirst dir das überlegen.«
»Ich …«
»Abgemacht?«
»Okay.«
»Gut. Und jetzt trink dein Bier. Albert war heute einkaufen, ich wette, es ist noch was im Kühlschrank.«
*
»Ich war sechs, als ich mit der Geige angefangen habe.«
Albert saß neben Schröder auf dem Sofa, eine Hand über die Lehne gelegt, in der anderen ein Bier. Schröder hatte ihn gebeten, sich ebenfalls eines zu holen und ihnen Gesellschaft zu leisten.
»Es war Zufall«, fuhr Albert fort. »Das Konservatorium hat Leute geschickt, die in den Kindergärten nach musikalisch Begabten suchten. Ich gehörte offensichtlich dazu. Als sie gefragt haben, welches Instrument ich lernen wolle, hab ich Geige gesagt.« Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich weiß immer noch nicht, welcher Teufel mich geritten hat.«
Es ging auf Mitternacht zu. Hendryk, dessen Gesicht allmählich Farbe bekommen hatte, schien das Gespräch zu genießen.
»Im Grunde genommen«, Albert fuhr sich mit der Hand durch die dichten schwarzen Locken, »ist meine Mutter schuld. Sie hat dafür gesorgt, dass ich dranbleibe. Es hat Monate gedauert, bis ich den ersten geraden Ton hinbekommen habe. Jahrelang nur Tonleitern, Strichübungen. Es ist eine Qual für jeden, der sich das anhören muss. Aber meine Mutter war … na ja. Was man einmal anfängt, meinte sie immer, muss man auch beenden.«
»Ich kenne die Dame nicht«, sagte Schröder.
»Sei froh«, schmunzelte Albert. »Sie hat Haare auf den Zähnen.«
»Trotzdem finde ich, dass sie recht hat.«
»Falls Sie damit meinen Abschluss meinen«, sagte Hendryk, »hab ich den Wink verstanden, Herr Kommissar.«
»Fein.«
Schröder prostete ihm mit seinem Mineralwasserglas zu.
»Woher kannst du so gut Deutsch?«, fragte Hendryk, an Albert gewandt.
»Mein Vater ist Deutscher. Er war stellvertretender Botschafter in Tirana, dort hat er meine Mutter kennengelernt. Sie hat damals in der Verwaltung gearbeitet. Die beiden sind längst in Rente. Aber sie behandelt mich immer noch, als wäre ich zwölf.« Albert seufzte ein wenig übertrieben. »Wenn ich nicht mindestens einmal am Tag anrufe, macht sie mir die Hölle heiß.«
»Ich wünschte, ich hätte früher dasselbe sagen können.« Hendryks Finger zupften am Etikett der Bierflasche. »Aber jetzt ist’s sowieso zu spät.«
Schröder bemerkte Alberts fragenden Blick.
»Die Frau, die wir gestern gefunden haben«, sagte er leise. »Ich hab dir davon erzählt. Sie war Hendryks Mutter.«
»Das …« Albert wurde bleich. »Das … das tut mir leid, ich …«
»Ich hab sie kaum gekannt«, murmelte Hendryk. »Sie war wie ’ne Fremde. Ich war ihr immer egal. Das Einzige, was sie interessiert hat, waren ihre bekloppten Bücher. Seit gestern frage ich mich ununterbrochen, wer das getan haben könnte. Soll ich Ihnen was sagen?« Hendryk hob den Kopf. »Mir fällt niemand ein. Sie hatte keine Freunde. Auch keine … Männer. Außer mir gibt es niemanden, der etwas über sie wissen könnte. Und ich weiß auch nichts. Ich weiß ja nicht mal, wer mein Vater ist. Entschuldigt, ich … ich will hier niemandem die Stimmung versauen.«
Das, erwiderte Albert, sei nicht der Fall. So redeten sie noch eine Weile, während Schröder, der seit sechs Uhr morgens auf den Beinen war, zunehmend stiller wurde, und erst als sein Kinn auf die Brust sackte und ein leises Schnarchen ertönte, bemerkten Albert und Hendryk, dass er eingeschlafen war.
*
»Hier, nimm.«
Albert reichte Hendryk einen Joint.
»Ich hätte nicht gedacht, dass du kiffst«, sagte Hendryk.
Sie standen auf der Terrasse. Schräg über ihnen stand der Vollmond, eine grelle, käsige Scheibe, deren Licht so hell war, dass sich ihre Schatten auf den gehobelten Terrassendielen abzeichneten.
»Wieso?«, fragte Albert. »Weil ich Musiker bin? Ich wette, Mozart hätte sich die Seele aus dem Leib gekifft, wenn er an das Zeug rangekommen wäre.«
Schröder war schlafen gegangen, nachdem Albert ihn vorsichtig geweckt hatte. Zuvor hatte er sich wortreich und ein wenig verlegen für die Unhöflichkeit entschuldigt, und als Hendryk sich ein Taxi rufen wollte, da hatte er Bettzeug geholt und auf dem Sofa verteilt mit der Bemerkung, dass der junge Mann hier übernachten werde. Punkt, aus, keine Diskussion.
»Ich frage mich …« Hendryk nahm einen tiefen Zug. »Was …«
»Was er
dazu sagt?« Albert sah über die Schulter. »Gar nichts. Obwohl er’s nicht gut findet. Aber ich rauche nur selten, höchstens einmal pro Woche.«
Hendryk spuckte einen Tabakkrümel aus.
»Das mit deiner Mutter«, Albert griff nach dem Joint, »tut mir leid.«
»Danke.«
»Er wird rauskriegen, wer sie getötet hat.«
»Ja.«
Albert blies eine süßliche Rauchwolke aus.
»Ich frage mich, wie er das aushält«, sagte Hendryk.
»Polizist zu sein?«
»Die … die haben ihn degradiert.«
»Er hat’s mir erzählt.«
»Und trotzdem lässt er sich das alles gefallen.«
»Es ist alles, was er hat.«
»Hört sich ziemlich einsam an.«
»Das ist er nicht«, erwiderte Albert. »Es gibt Menschen, die ihm sehr nahestehen.«
Hendryk sah ihn an. Seine Augen waren ein wenig glasig.
»Dich zum Beispiel?«
»Na ja.« Albert neigte lächelnd den Kopf. »Ich hoffe es.«
Er bot Hendryk den Joint wieder an. Dieser verneinte kopfschüttelnd, schlang fröstelnd die Arme um den kräftigen Brustkorb. Albert schien die kühle Nachtluft nichts auszumachen, obwohl er nur ein kurzärmliges weißes Hemd trug.
»Scheiße«, murmelte Hendryk. »Ich bin fünfundzwanzig und hab keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anstellen soll.«
»Ich bin über zehn Jahre älter als du.« Albert schnippte die Asche fort. »Trotzdem geht’s mir wie dir. Ich bin Musiker. Ich weiß, dass ich dazu geboren bin, aber ich weiß immer noch nicht, ob ich das Richtige tue.«
Hendryk schüttelte ungläubig den Kopf.
»Ich hab deine Plakate gesehen, die halbe Stadt war zugeklebt. Du bist überall unterwegs mit deiner Musik, du …«
»Ich spiele Geige«, sagte Albert. Das Mondlicht ließ sein Gesicht bleich erscheinen. »Ich fiedele den Leuten was vor. Ein, zwei Stunden lang, danach gehen sie nach Hause. Glaubst du, dass sie danach bessere Menschen sind?«
Hendryk ließ sich den Joint geben.
»Keine Ahnung.« Grinsend blies er die Backen auf und stieß den Rauch wieder aus. »Ich stehe eher auf Heavy Metal.«
»Ich auch.«
»Echt?«
»Klar, wenn’s gut gemacht ist. Du solltest mal Paganini hören, da fliegen dir die Ohren weg.«
Ein paar Minuten vergingen. Schweigend, die Augen zum sternklaren Himmel gerichtet, standen sie da, während der Joint zwischen ihnen hin- und herwanderte.
»Darf ich dich was fragen?«, sagte Hendryk schließlich.
»Klar.«
»Lebst du … ich meine, wohnst
du hier?«
Albert schien einen Moment unschlüssig.
»Ja«, sagte er dann. »Irgendwie schon.«
»Und wie lange willst du bleiben?«
Diesmal antwortete Albert sofort.
»Ich weiß noch nicht. Es liegt an ihm.«