Siebenunddreißig
9
. September.
»Darf man fragen, was du da machst, Schröder?«
»Überlegen.«
Als Zorn das Büro betrat, hatte Schröder am Fenster gestanden und hinausgesehen. Zorns knappen Gruß hatte er ebenso einsilbig erwidert. Das war jetzt ein paar Minuten her, und noch immer hatte er sich nicht von der Stelle gerührt.
»Ich hab ’ne Überraschung für dich«, sagte Zorn.
Keine Antwort.
»Wird dir gefallen.«
Draußen schien die Sonne. Der Himmel war klar, nur ein paar vereinzelte Wolken trieben vorbei.
»Ich sehe einfach keine Parallelen«, seufzte Schröder.
»Hm«, machte Zorn.
»Ich weiß, dass sie da sind.« Schröder wandte sich um. »Aber ich sehe
sie nicht, verstehst du?«
Nun, das war nicht im Geringsten der Fall.
»Sie haben sich nicht gekannt«, sagte Schröder.
»Äh … wer
hat sich nicht …?«
»Donald Piral und Jenny Vaatz.« Schröder schüttelte den Kopf, ein wenig genervt von Zorns Begriffsstutzigkeit. »Jedenfalls nach allem, was wir momentan wissen. Die Morde liegen knapp drei Wochen auseinander, die Tatorte an völlig unterschiedlichen Ecken der Stadt. Die einzigen Verbindungen sind die Brutalität und die Tatsache, dass wir keinerlei Hinweise auf den Täter haben.«
»Na ja, es könnte …«
»Wir reden später drüber. Ich muss mir das noch eine Weile durch den Kopf gehen …«
Schröder verstummte. Blinzelte und rieb mit dem Zeigefinger über die linke Augenbraue.
»Jenny Vaatz fühlte sich bedroht«, murmelte er. »Sie hatte Angst. Vor wem, konnte sie nicht sagen. Vielleicht wollte sie’s auch nicht. Victor Kurtz scheint ebenfalls Angst zu haben, auch er …«
Zorn wartete, dass Schröder fortfuhr, doch dieser starrte stumm zu Boden, brummelte schließlich gereizt, dass das ebenfalls nicht richtig zusammenpasse, vergrub die Hände in den Taschen der Cordhose und watschelte zu seinem Schreibtisch.
»Welche Überraschung?«, fragte er beiläufig und nahm Platz.
Zorn, der Schröders Gedankensprüngen vergeblich hinterhergaloppiert war, sammelte sich ein paar Sekunden. Dann setzte er ein scheinheiliges Lächeln auf und deutete auf einen Rolltisch, den er mitgebracht und von Schröder unbemerkt neben der Garderobe abgestellt hatte.
»Guck mal.«
Mehr als zwei Dutzend Taschenbücher stapelten sich darauf.
»Die Bücher von Jenny Vaatz«, sagte Schröder, nachdem er einen Blick auf die bunten Einbände geworfen hatte. »Und? Was ist damit?«
»Du liest doch gerne.«
Schröder hob misstrauisch den Kopf.
»Und?«
Zorn bedachte ihn mit einem vielsagenden Lächeln.
»Vergiss es«, knurrte Schröder.
»Wir haben ein Mordopfer«, erklärte Zorn. »Wir wissen sehr wenig über dieses Mordopfer, aber da das Mordopfer Bücher geschrieben hat, sollten wir die lesen, um mehr über dieses Mordopfer zu erfahren, weil möglicherweise …«
»Chef«, unterbrach Schröder. »Ich habe letzte Nacht nur ein paar Stunden geschlafen. Ich bin müde, ich bin gereizt, und ich habe keine Lust auf deine Scherze, besonders nicht …«
»Kein Scherz, Schröder.«
»Ich werde diesen Schund nicht lesen.«
»Schund?«
Zorn riss empört die Augen auf. »Ich muss doch sehr bitten!«
Er sprang auf, schob den Rollwagen zu Schröder an den Schreibtisch wie ein Oberkellner, der seinem Gast den gedünsteten Hummer serviert.
»Hier.« Er griff eines der Bücher, schlug es irgendwo in der Mitte auf und begann, mit theatralischer Stimme zu deklamieren: »Du hast mir alles genommen, Jennifer! Den Weinberg, den meine Familie seit Generationen bestellt! Den geliebten, seit Jahren verschollenen Bruder! Aber eines wirst du mir niemals nehmen können! Meine Würde!«
Zorn klappte das Buch andächtig zu und legte es neben Schröders Tastatur. SCHLOSS DER VERBOTENEN LÜSTE
stand in pinkfarbenen Lettern auf dem Einband. Schröder griff nach dem Buch, drehte es um – vorsichtig, als könnte es jeden Moment in Flammen aufgehen – und betrachtete den Klappentext.
»Nach Jahren der Abwesenheit«, las er halblaut, »kehrt die junge Herzogin von Falkenstein unerkannt zum heimatlichen Schloss zurück. Entsetzt muss sie feststellen, dass gierige Spekulanten den uralten Familienbesitz …«
Seufzend sank er zurück.
»Mein Gott.«
»Also ich finde, das klingt total spannend!«
»Jetzt mal im Ernst.« Schröder räusperte sich. »Wir haben eine Menge zu tun. Der Computer von Jenny Vaatz muss untersucht werden, es gibt Hunderte von Mails. Außerdem ihre Notizen, die Briefe, die …«
»Der Computer«, unterbrach Zorn, »ist in der KTU
. Die nehmen das Ding auseinander. Was den Rest betrifft, die Briefe zum Beispiel, die nimmt sich Kollege Brettschneider vor.«
»Kollege Brettschneider«, Schröder deutete pikiert auf den Rollwagen, »könnte sich genauso gut mit diesem …«
»Vorsicht. Keine Schimpfworte.«
»… Material
befassen.«
»Stimmt«, lächelte Zorn. »Könnte
er.«
»Und warum liest du’s nicht selbst?«
»Würde ich gern, wirklich.« Zorn hob bedauernd die Arme. »Aber ich hab einfach zu viel um die Ohren. Du weißt ja, ich muss mich um die Abteilung kümmern.«
Schröders Augen verengten sich.
»Aha. Daher weht also der Wind.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Du stellst mich vor die Wahl«, knurrte Schröder. »Entweder ich trete meine alte Stelle wieder an, oder ich muss diesen … diese Machwerke lesen.«
»Na ja.« Zorn kratzte sich an der Schläfe. »So hab ich’s noch gar nicht betrachtet, aber im Grunde genommen …«
»Das ist Erpressung. Hinterhältige und gemeine Erpressung.«
»Nicht doch!«, wehrte Zorn unschuldig ab. »Aber es stimmt natürlich. Als Chef müsstest du wichtigere Aufgaben übernehmen. Dann wäre es allein deine Entscheidung, ob dieser Mist, ich meine, diese Romane
«, verbesserte er sich hastig, »wirklich gelesen werden müssen.«
Schröder sprang empört auf.
»Ich gehe!«
Seine Stimme bebte, ebenso wie sein Doppelkinn.
»Wohin?«, fragte Zorn.
»In die Kantine!«, schnaubte Schröder. »Ich bin wütend! Und wenn ich wütend bin, bekomme ich Hunger!«
»Bringst du mir ein …«
RUMMS
!
… Käsebrötchen mit?,
hatte Zorn fragen wollen.
Aber da war Schröder bereits verschwunden.
*
Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hat, bis meine Mutter endlich starb. Ich war sechs Jahre alt, in meinen Augen waren es Ewigkeiten. Es müssen Stunden gewesen sein.
Meine Mutter war stark, wie alle Frauen unserer Familie. Ihre Hände waren groß. Rau und schwielig von der jahrelangen Arbeit auf dem Feld. Sie konnte wunderbar singen. Ihre Kleider waren schwarz. Sie trug keinen Schmuck, nur die Halskette mit dem silbernen Kreuz, die seit Generationen in unserer Familie von der Mutter an die älteste Tochter weitergegeben wurde. Luleta, meine große Schwester, sollte sie bekommen, wenn sie volljährig würde. Ich weiß nicht, ob meine Mutter mit dieser Kette begraben wurde.
Sie war zweiunddreißig, als sie starb.
Luleta war fünfzehn.