Einundvierzig
12
. September.
Am Morgen fand Zorn das Büro verlassen vor. Er streifte die Lederjacke ab, warf sie über den Garderobenständer und spürte das Vibrieren des Handys in der Gesäßtasche seiner Jeans.
Komme später
, lautete Schröders Nachricht.
»Was du nicht sagst«, knurrte Zorn.
Seit achtundvierzig Stunden hatten sie kaum ein Wort
gewechselt. Am Vortag war Zorn von einer Besprechung zur anderen gehetzt, und als er gegen Mittag im Büro erschienen war, hatte Schröder seelenruhig an seinem Platz gesessen, das Buch zugeklappt und war gegangen, um seinen wöchentlichen Kurs an der Polizeischule zu halten.
Seufzend startete Zorn den Rechner, bedachte das Aktenchaos auf seinem Schreibtisch mit einem scheelen Blick, ging zum Fenster und kochte sich einen Kaffee. Dort stand er eine Weile, sah hinaus in den trüben Morgen, nippte ab und zu an seiner Tasse und dachte … an nichts.
Als eine halbe Stunde später die Tür geöffnet wurde, wandte Zorn sich nicht um. Er hörte Schröders Schritte, sein Schnaufen, das Klappern, als eine Schublade aufgezogen wurde, und schließlich das Knarren, mit dem der Sessel auf Schröders Gewicht reagierte.
»Du warst heute früh schon mal hier«, sagte Zorn.
Schröder antwortete nicht.
»Dein Tee.« Zorn wandte sich um, deutete auf die Tasse neben Schröders Tastatur. »Der war eiskalt, als ich kam. Hast du hier gepennt?«
»Ich hatte zu tun«, sagte Schröder. »Aber ich bewundere deine Beobachtungsgabe. Du hättest natürlich viel einfacher darauf kommen können.«
Er wies mit dem Kinn auf seine Windjacke, die bei Zorns Erscheinen bereits an der Garderobe gehangen hatte, öffnete die Verschlüsse der Aktentasche und schien offensichtlich im Begriff, sich wieder einem der Taschenbücher zu widmen.
»Du hast gewonnen.« Die Worte kamen über Zorns Lippen, ohne dass er darüber nachdachte. »Ich geb auf. Ich ertrag’s nicht mehr. Ich kann dieses Zeug nicht mehr hören. Bitte, du musst mich mit deinen querschnittsgelähmten Herzögen und lesbischen Gräfinnen verschonen, ich …«
»Moment«, unterbrach Schröder. »Freifrau von Hassel ist nicht
lesbisch, sondern bisexuell. Das stellt sich erst am Ende raus, als sie Ferdinands Abschiedsbrief finden. Der war nämlich …«
»Schröder, bitte.«
Schröder, eine Hand noch immer in der Aktentasche, sah Zorn an.
»Ja?«
»Ich entschuldige mich, okay?«
»Wofür?«
»Ich wollte dir zeigen, wo der Hammer hängt. Der Schuss ist nach hinten losgegangen, beziehungsweise«, Zorn stellte den Kaffee auf dem Fensterbrett ab, »in mein eigenes Knie. Ich fahre den Laden an die Wand, wenn du nicht mitmachst und stattdessen den ganzen Tag irgendwelchen Blödsinn liest.«
»Das hatte ich nicht vor.«
Schröder kramte in seiner Tasche und förderte zum Erstaunen seines Vorgesetzten an Stelle einer dicken Schwarte eine Klarsichthülle mit einem vergilbten DIN
-A4
-Blatt zutage.
»Das«, sagte Schröder, »wurde im Schreibtisch von Jenny Vaatz gefunden. Es lag ganz hinten in einer der Schubladen.«
»Wo hast du das …«
»Aus der KTU
.«
»Ich dachte, du …«
»Lies.«
*
Victor,
wir hatten besprochen, nie wieder in Kontakt zu treten. Das ist nach wie vor eine richtige Entscheidung. Ich melde mich nur, um dir mitzuteilen, daß du einen Sohn hast. Für dich ergeben sich keinerlei Verpflichtungen, und
ich erwarte (und wünsche) nicht, daß du dich meldest. Ich finde, du hast ein Recht auf diese Information.
C.
»Der Brief wurde nie abgeschickt«, sagte Schröder. »Die Techniker gehen davon aus, dass er vor über zwanzig Jahren geschrieben wurde.«
Zorn ließ das Papier sinken.
»Du hast mich doppelt betrogen.«
»Im Keller von Jenny Vaatz wurde eine alte Schreibmaschine gefunden«, fuhr Schröder ungerührt fort. »Sie sind sicher, dass der Brief damit verfasst wurde.«
»Du … du hast die ganze Zeit so getan, als würdest du …«
»Der Brief hat keine Adresse.«
»… diese Scheiße lesen. Aber in Wahrheit hast du …«
»Die Frage ist …«
»… gearbeitet.«
»… wie viele Menschen heißen Victor?«
»Betrüger. Verbrecher. Lügnerischer … Lump.«
»Ich kenne nur einen Victor.« Schröder stand auf, nahm seine Windjacke. »Und mit dem«, er schloss den Reißverschluss über dem Kugelbauch, »werde ich jetzt mal ein Wörtchen reden.«
Er stülpte den Helm über die Glatze, während Zorns Hirn fieberhaft damit beschäftigt war, seinen Verstand nach weiteren Schimpfwörtern zu durchforsten.
»Heuchler«, knurrte er. »Scharlatan. Tust so, als wäre dir alles egal. Stattdessen arbeitest du heimlich weiter, hinter meinem Rücken. Ohne dass ich’s merke, du hinterhältiger …«
»Ich sag’ dir jetzt was.« Schröder, der bereits die Tür geöffnet hatte, wandte sich noch einmal um. »Es ist meine
Entscheidung. Ich allein bestimme, was mit meinem Leben passiert. Und dazu
gehört auch, ob ich einen Posten annehme oder nicht.« Er schob den Helm aus der Stirn. »Das hab ich auch Frieda gesagt, und im Gegensatz zu dir«, sein Zeigefinger schoss vor, »hat sie’s verstanden. Also überleg dir in Zukunft genau, was du tust, denn wenn du so eine Aktion noch mal abziehst, lasse ich dich auf diesem Posten versauern.« Er reckte den Hals, um die Riemen unter dem Doppelkinn zu schließen. Der Verschluss entglitt seinen kurzen Fingern. »So lange, bis du schwarz wirst.«
»Ich hab mich doch entschuldigt! Was soll ich denn noch …«
»Sind wir uns einig?«
Zorn brummte etwas Unverständliches. Schröder hob die Hand neben das Ohr, als würde er lauschen. Die Riemen pendelten neben seinem runden Gesicht.
»Ich hab dich nicht verstanden.«
»Ja doch! Ich hab’s kapiert!«
»Da brauchst du gar nicht so die Augen zu verdrehen!«
»Mach ich gar nicht!«
»Machst du doch
!« Schröder, der noch immer vergeblich an seinem Helmverschluss fummelte, ließ frustriert die Hände sinken. »Und jetzt hilf mir gefälligst mit diesem bescheuerten Ding!«
*
»Wie kommen Sie darauf, dass ich diese Frau kannte?«
»Das hier«, Schröder öffnete den Reißverschluss seiner Windjacke, »haben wir in ihrem Nachlass gefunden.« Er reichte Victor Kurtz die Klarsichthülle über den Schreibtisch. »Es ist eine Kopie, Sie können den Brief gern behalten.«
Kurtz federte in seinem Sessel zurück, schlug die Beine übereinander und überflog die maschinengeschriebenen Zeilen. Schröder ließ ihn keinen Moment aus den Augen.
Ein paar Sekunden vergingen.
»Haben Sie Kinder?«, fragte Schröder dann.
»Was?«
Victor Kurtz hob den Kopf. Sein Blick war verschleiert. Ein Blinzeln, als kehre er aus weiter Ferne zurück, dann waren seine grauen Augen wieder klar.
»Nein, habe ich nicht.«
»Der Junge heißt Hendryk«, sagte Schröder. »Er wird diesen Brief ebenfalls lesen. Spätestens, wenn er den Nachlass seiner Mutter ordnet.«
Kurtz senkte das Kinn, kratzte sich mit dem Zeigefinger an der Schläfe und schien einen Moment in die Betrachtung des dezenten Streifenmusters auf seiner Krawatte vertieft.
»Herr Kommissar.« Er sah auf. »Was wollen Sie?«
»Ich habe Ihnen eine simple Frage gestellt.«
»Die Antwort ist nein.«
»Sie kannten Jenny Vaatz also nicht.«
»Ich habe diese bedauernswerte Frau noch nie in meinem Leben gesehen.«
Die Tür wurde geöffnet. Astrit, Kurtz’ Assistentin, erschien und fragte, ob er etwas vom Chinesen wolle, die Truppe würde sich gerade Mittagessen bestellen.
»Nee.« Kurtz strich sich grinsend über den Bauch, dessen Wölbung sich unter dem weißen Hemd abzeichnete. »Ich bin auf Diät.«
Astrit nestelte verlegen am Kragen ihrer sandfarbenen Bluse, bedachte Schröder mit einem schüchternen Nicken und ging. Kurtz’ Lächeln verschwand wie Kreide, die mit einem Schwung von der Tafel gewischt wird.
»Sie glauben mir nicht.«
Schröder antwortete nicht.
»Dieser … Wisch
ist an niemanden adressiert.« Die Klarsichthülle segelte über den Schreibtisch und landete zu Schröders Füßen auf dem flauschigen Teppich. »Es gibt nicht mal einen
Nachnamen. Irgendein Mensch, der zufällig denselben Vornamen trägt wie ich. Ich frage mich, ob Sie noch ganz bei Trost sind.«
»O doch, das kann ich Ihnen versichern.«
»Mein bester Freund ist ermordet worden«, sagte Kurtz leise. »Das ist jetzt fast einen Monat her, und die Polizei hat nichts, aber auch gar nichts erreicht. Stattdessen konfrontiert man mich mit diesem … Schwachsinn und hetzt mir eine«, ein abfälliger Blick, »Witzfigur auf den Hals.«
»Was mein Erscheinungsbild betrifft, muss ich Ihnen recht geben.« Schröder strich mit der flachen Hand über den Helm, dessen Riemen tief in den Falten seines Doppelkinns verschwand. »Ich hätte meine Kopfbedeckung natürlich abnehmen sollen, aber«, ein entschuldigendes Lächeln, »ich habe Probleme mit dem Verschluss.«
»Sie strapazieren meine Geduld.«
»Das täte mir leid. Aber ich kann Ihnen versichern, dass im Gegensatz zu meinem Aussehen mein Denkvermögen nicht im Geringsten gelitten hat.«
»Bisher habe ich mich zurückgehalten.« Kurtz klang ruhig, doch die Wangenmuskeln spannten sich unter der narbigen Haut. »Aber ich kann auch andere Saiten aufziehen.«
»Ich bin mir über Ihre Verbindungen bewusst, Herr Kurtz. Und mir ist ebenfalls klar, welchen Einfluss Sie auf die Presse haben. Apropos, ich soll Sie von Staatsanwältin Borck grüßen. Sie haben neulich telefoniert, richtig?«
»Und?«
»Staatsanwältin Borck erwartet, dass jeder Anruf, der auf Ihrer … Hotline
eingeht, minutiös protokolliert und den Behörden übermittelt wird. Egal, ob er Ihnen nebensächlich erscheint oder nicht.«
»Dazu müssten wir …«
»Das«, unterbrach Schröder freundlich, »sollten Sie mit Staatsanwältin Borck direkt klären. Ich selbst«, er verschränkte die
Hände auf dem Rücken, »mag Ihnen als Witzfigur erscheinen. Aber auch bei uns gibt es Personal, das ebenso wie Sie über einen gewissen Einfluss
verfügt. Fragt sich natürlich, wessen Einfluss größer ist.« Er sah nachdenklich zu Boden, wippte auf den Zehenspitzen vor und zurück. »Tja, das müsste man dann wohl testen.«
»Vielleicht«, nickte Victor Kurtz, »sollte man das tun.« Sein Lächeln war eisig. »Ich habe schon viele Staatsanwälte kommen und gehen sehen. Polizisten übrigens auch. Man glaubt gar nicht, wie schnell man in einem Provinzkaff an der polnischen Grenze landet.«
»Also das«, Schröders Augen weiteten sich, »wäre großartig, Herr Kurtz! Ich liebe
den Spreewald! Oder Görlitz, eine wunderbare Stadt! Wenn Sie das tatsächlich einrichten könnten …«
»Es reicht«, zischte Kurtz. »Raus.«
Ihre Blicke trafen sich.
»Einen schönen Tag noch.« Schröder bückte sich und legte die Klarsichthülle mit dem Brief auf den Schreibtisch. »Den lasse ich Ihnen hier. Lesen Sie’s in Ruhe noch mal durch. Vielleicht fällt Ihnen später was dazu ein.«