Sechsundvierzig
13
. September.
»Ich mache dann Feierabend, Victor. Brauchst du noch was?«
Kurtz, der gerade in eine technische Zeichnung vertieft war, hob den Kopf. Astrit, seine Sekretärin, stand in der Tür.
»Du warst beim Friseur«, sagte er. »Sieht gut aus.«
Astrit errötete und strich in einer verlegenen, mädchenhaften Geste über das kinnlange, kupferrot gefärbte Haar. Eigentlich, fand Kurtz, war seine Sekretärin eine attraktive Frau. Lange Beine, Modelfigur. Dunkle, etwas zu weit auseinanderstehende Augen, sinnlicher Mund. Dies schien ihr allerdings nicht bewusst zu sein, jedenfalls ließ ihre Kleidung darauf schließen. Meist trug sie viel zu lange Röcke und unmodische Blusen, die ein paar Nummern zu groß waren. Ihre Frisur roch ebenfalls eher nach den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts, nein, eher nach Mittelalter, das frisch geföhnte Haar erinnerte an den Pagenschnitt eines Knappen, aber das alles war Victor Kurtz egal. Nie im Leben wäre er auf die Idee gekommen, etwas mit einer seiner Angestellten anzufangen.
»Denk dran«, sagte Astrit, »du hast morgen früh um acht einen Termin beim Bauordnungsamt.«
»Ist abgespeichert.« Er tippte sich grinsend an die Schläfe.
»Na dann …« Ein schüchternes Lächeln. »Schönen Feierabend, Victor.«
»Dir auch. Sag mal … hat sich die Polizei noch mal gemeldet?«
»Nicht bei mir. Soll ich nachfragen, ob …«
»Schon gut.« Kurtz faltete die Zeichnung zusammen. »Mit dir haben die auch gesprochen, oder? Wegen Donny, meine ich.«
»Ja. Das war so ein kleiner Kommissar. Ziemlich dick, Glatze und …«
»Schröder.«
»Genau. Viel konnte ich ihm nicht sagen.«
»Und was genau«, Kurtz verschwand hinter dem Schreibtisch und verstaute die Zeichnung in einer Schublade, »hast du ihm erzählt?«
»Na ja.« Sie hob die Schultern. »Dass ich Herrn Piral … Donny … kaum kannte. Ich bin ja erst seit ein paar Wochen hier.«
»Du machst einen hervorragenden Job, Astrit.«
Das stimmte. Akribisch, unauffällig und zuverlässig. Und ihr Kaffee natürlich. Der war hervorragend.
»Danke, Victor.«
Astrits Wangen färbten sich rosa. Doch, überlegte Victor Kurtz, sie ist eine wirklich attraktive Person. Wenn sie nur ein bisschen mehr aus sich machen würde. Ich wette, sie ist ’ne Granate im Bett. Vielleicht ist es an der Zeit, eine Ausnahme zu machen. Vielleicht sollte ich sie vögeln.
»Hab einen schönen Abend«, sagte er.
Und verwarf den Gedanken.
Er hatte andere Probleme.
*
»Ich bin’s.« Zorn machte eine instinktive Pause, bevor er seinen ungeliebten Vornamen nannte. »Claudius.«
Falls Albert überrascht war, dass Zorn ihn am späten Abend anrief, ließ er es sich nicht anmerken.
»Hallo«, sagte er.
»Bist du bei Schröder?«
»Er ist unter der Dusche. Warte einen Moment.«
Leise Orchestermusik drang aus dem Hörer. Zorn hörte Alberts Schritte. Eine Tür wurde geöffnet, schloss sich wieder. Die Musik verstummte, Albert war auf die Terrasse gegangen.
»Frieda hat dir alles erzählt?«
»Ja. Ehrlich gesagt wissen wir nicht, was wir machen sollen.«
»Deshalb habe ich mit ihr gesprochen.« Ein Feuerzeug klickte. »Ich weiß es auch nicht.«
Ein tiefes Einatmen. Zorn konnte sich nicht erinnern, Albert jemals rauchen gesehen zu haben.
»Ich kenne Rufus nicht«, sagte Albert. »Und ich habe keine Ahnung, warum er ausgerechnet mich … darum gebeten hat. Jeder Mensch sollte selbst über sein Leben entscheiden, aber ich … ich kann ihm dabei nicht helfen.«
»Hast du ihm das so gesagt?«
»Nein. Ich hab ihm gesagt, dass ich darüber nachdenken muss. Ich glaube, es ist ihm sehr wichtig. Rufus ist fest entschlossen, und ich … ich wollte einfach nur Zeit gewinnen.«
Ein gedämpfter Schrei drang durch das Telefon. Eine Eule vielleicht. Oder ein anderer Nachtvogel.
»Wir haben überlegt, ob man Schröder einweihen sollte«, sagte Zorn.
»Glaubst du, er wüsste, was zu tun ist?«
Pause.
»Nein.«
»Dann sollten wir ihm das ersparen, findest du nicht?«
»Ja«, seufzte Zorn. »Das sollten wir wohl.«
*
In der Nacht schlief Claudius Zorn kaum. Nachdem er mit Albert gesprochen hatte, telefonierte er noch über eine Stunde mit Frieda, sie sprachen über Sterbehilfe, das Recht, einen Schlussstrich zu ziehen, und über Rufus, der völlig verzweifelt sein musste, entschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen, und doch unfähig, dies allein in die Tat umzusetzen. Als sie sich weit nach Mitternacht verabschiedeten, taten sie dies, ohne zu einem Ergebnis gekommen zu sein, und so lief Zorn eine Weile durch seine Wohnung, stand dann rauchend am Fenster und starrte hinaus in die Dunkelheit. Die Nacht war stürmisch, tief unter ihm wogten die Baumwipfel, und als er schließlich zu Bett ging, da färbte sich bereits der Horizont hinter den Wohnblocks der Neustadt, und die ersten Lichter gingen an. Noch immer sollte er keinen Schlaf finden, ruhelos wälzte er sich hin und her, lauschte dem Heulen des Windes und zermarterte sich das Hirn, bis er schließlich in einen unruhigen Dämmerzustand fiel.
Das Stadtkrankenhaus war nur ein paar hundert Meter Luftlinie entfernt, doch Zorn bekam natürlich nichts mit von dem Mann, der, nackt und vor Schmerzen schreiend, wie aus dem Nichts vor der Notaufnahme erschien und dort bewusstlos zusammenbrach. Erst als Zorn drei Stunden später zur Arbeit kam, erfuhr er von dem Vorfall. Wie immer war Schröders Nachricht knapp und präzise.
Bin im Krankenhaus, Victor Kurtz besuchen.