Fünfundfünfzig
19 . September.
»Wir alle sind froh, dass du wieder da bist, Victor.«
Die Sonne flutete das Büro. Astrit nahm Kurtz den Mantel ab, dieser setzte sich hinter den Schreibtisch. Schwerfällig, mit den rheumatischen Bewegungen eines alten Mannes.
»Ich …«, Astrit strich eine kupferrote Haarsträhne hinter das Ohr, »ich hab hier saubermachen lassen.«
»Gut.«
»Die Polizei meinte, dass …«
»Ich dachte, wir hätten das besprochen.« Kurtz öffnete seinen Laptop. »All dieses Gefasel von einem Überfall ist nichts als Schikane. Die wollen mich bloßstellen, weil ich Dinge gesagt habe, die ihnen nicht in den Kram passen. Ich kann nicht verhindern, dass die Leute sich das Maul zerreißen, aber zumindest du«, ein kurzer Blick, ein leichtes Senken der Stimme, »solltest mich mit diesem Schwachsinn verschonen.«
»Natürlich.«
Kurtz lehnte sich seufzend zurück, massierte mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. Die Blutergüsse unter den verquollenen Augen verheilten allmählich, Schorf bedeckte die Wangen in dunklen, verkrusteten Streifen.
»Du arbeitest zu viel, Victor.«
»Wem sagst du das.« Ein weiteres Seufzen. Kurtz fuhr mit der Zunge über den fehlenden Schneidezahn. »Ich brauche einen Termin bei Doktor Sterzik.«
»Wird erledigt.«
»Und ich will, dass sämtliche Schlösser ausgetauscht werden.«
Astrits Augenbrauen senkten sich ein wenig, ansonsten ließ sie sich ihre Verwunderung nicht anmerken.
»Geht klar.«
»Apropos arbeiten. Könntest du heute ein bisschen länger bleiben?«
»Natürlich.« Ein Lächeln. »Ich hab heute Abend nichts weiter vor.«
»Super.«
»Kaffee?«
»Auch das«, lächelte Kurtz, »wäre super.«
Astrit ging.
Victor Kurtz griff in die Innenseite seines Jacketts. Hielt die Pistole eine Weile in der Hand, als wolle er das Gewicht prüfen, und verstaute sie dann in einer Schublade.
*
Zorn stand am Waschbecken, lauschte dem Plätschern des Wassers, spürte die Kälte auf den Handgelenken und fragte sich, was er hier eigentlich tat.
Es war albern. Nein, mehr als das, es war hinterhältig, hier am Abend bei Schröder aufzutauchen und so zu tun, als wolle er einfach mal vorbeigucken , wie er behauptet hatte. Aber Zorn wusste sich keinen Rat, er hatte einen Verdacht, der einzig und allein auf einem kurzen Blick auf ein verschwommenes Foto beruhte. Jetzt, zwei Tage später, war er längst nicht mehr sicher, doch er glaubte, eine Möglichkeit gefunden zu haben, sich Gewissheit zu verschaffen.
Warmes Kerzenlicht schimmerte hinter der schmalen Milchglasscheibe in der Badezimmertür. Schröder und Albert saßen im Wohnzimmer und unterhielten sich leise. Zorn trocknete die Hände ab, betrachtete die elektrischen Zahnbürsten auf der Ablage unter dem Spiegel und fragte sich kurz, wer von den beiden wohl welche benutzte. Sein Blick wanderte nach oben.
»Schäm dich!«, zischte er seinem Spiegelbild zu, sah, wie der andere die Lippen bewegte, ein älterer Mann, dessen Haar in dünnen, teilweise ergrauten Strähnen tief in die Stirn hing. Bartstoppeln auf dem Kinn, Falten um die Augen, ein feines Narbengeflecht auf der rechten Wange.
Zorn wandte sich missmutig ab, musterte die sandfarbenen Fliesen, die Waschmaschine in der Nische neben der blitzsauberen Badewanne, den geflochtenen Wäschekorb. Ein blauweiß gestreiftes Handtuch hing über einer verchromten Stange, die an der gläsernen Duschabtrennung befestigt war. Er schob es zur Seite (noch feucht) und warf einen Blick in die Dusche. Die Fliesen glänzten nass, Wasser tröpfelte aus dem Duschkopf. In einer Nische ein Nassrasierer (wahrscheinlich von Schröder), Duschbad, ein Seifenspender und eine Tube Anti-Schuppen-Shampoo (eindeutig nicht von Schröder, haha).
Zorn ging zur Tür. Griff vorsichtig nach der Klinke und drückte sie lautlos hinunter. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Er lauschte mit angehaltenem Atem. Schröder und Albert saßen auf dem Sofa, hinter dem wuchtigen Kamin verborgen. Schröder schien gerade eine witzige Bemerkung gemacht zu haben, Alberts Lachen perlte durch das Wohnzimmer, tief, wohlklingend. Kerzen flackerten auf dem Fenstersims, warfen zuckende Schatten an die Wand. Der Kühlschrank brummte leise.
Zorn stieß lautlos die Luft aus. Schweiß glänzte auf seiner Stirn.
Es war gemein. Es war hinterhältig. Aber es ließ sich nicht ändern.
Er bückte sich und schlüpfte auf Zehenspitzen ins Nebenzimmer.
*
»Ich will, dass das heute noch an die Presse geht.«
Kurtz reichte Astrit ein DIN -A4 -Blatt über den Schreibtisch, stemmte sich schwerfällig aus dem Sessel und nahm seinen Mantel von der Garderobe. Astrit überflog das Papier, hob stirnrunzelnd den Kopf.
»Ich verstehe nicht, was …«
»Das musst du auch nicht.« Kurtz schlüpfte steifarmig in den Mantel, verzog das Gesicht. »Tu’s einfach, danach kannst du Feierabend machen. Und vergiss nicht, das Licht auszuschalten.«
Ein knappes Nicken. Victor Kurtz verließ das Büro.
*
Zorn wagte nicht, die Tür hinter sich zu schließen, drückte sie nur so weit wie möglich an den Rahmen. Er öffnete die Taschenlampen-App seines Handys. Der Strahl huschte durch das Gästezimmer: Ein schmales Bett, die Decke ordentlich gefaltet. Auf dem Kissen ein aufgeschlagenes Taschenbuch, mit dem Rücken nach oben. Am Kopfende ein Stuhl. Über der Lehne eine von Alberts gebügelten Anzughosen. Auf der Sitzfläche ein Stapel zerknitterter Notenblätter. Gegenüber ein Schrank, eine Tür stand halboffen. Dahinter ein halbes Dutzend weißer Hemden auf Kleiderbügeln, auf dem Boden ein Paar schwarzer Lackschuhe. Auf dem Fensterbrett eine Porzellanvase mit einer langstieligen Rose. Daneben eine altmodische Kommode aus Nussbaum. Früher, erinnerte sich Zorn, hatte sie bei Schröders Eltern im Wohnzimmer gestanden. Die Messingbeschläge blitzten im bläulichen Licht. Auf einem gehäkelten Deckchen lag das, was Zorn suchte.
Er trat näher. Eine Diele knackte unter seinen Stiefeln. Zorn erstarrte, biss die Zähne zusammen. Was, schoss ihm durch den Kopf, sollte er sagen, wenn einer von den beiden ihn hier erwischte? Sorry, ich hab mich verlaufen?
Haha. Sehr witzig.
Vorsichtig, auf Zehenspitzen, ging er weiter.
Bisher lief alles nach Plan. Sie hatten eine halbe Stunde im Wohnzimmer gesessen, Zorn hatte ein Bier getrunken und schließlich erklärt, dass er kurz aufs Klo müsse. Das war jetzt anderthalb Minuten her, niemand sollte Verdacht geschöpft haben, und der Rest würde in wenigen Sekunden erledigt sein.
Er stand vor Alberts Geigenkasten. Der dünne Lederbezug war zerkratzt, an den Rändern zerschlissen, Sperrholz lugte hervor. Behutsam öffnete Zorn den ersten Verschluss, der Riegel schnappte auf, prallte gegen den Deckel. Zorn stieß einen lautlosen Fluch aus, öffnete den zweiten, diesmal gelang es ihm besser. Der Kasten klappte auf. Zorn betrachtete den Bogen, der auf der Innenseite des mit grünem Samt ausgekleideten Deckels befestigt war. Ein paar Haare (Pferdehaar, erinnerte er sich) hatten sich gelöst, hingen über der matt schimmernden Violine. Vorsichtig öffnete er das Fach über dem schneckenförmigen Kopfende der Geige, schob eine Stimmgabel beiseite und kramte eine kleine Pappdose hervor. KOLOPHONIUM stand in altertümlichen, geschwungenen Buchstaben auf dem Deckel, PREMIUM HANDMADE PRODUCT . Er zog den Deckel ab, musterte den runden bernsteinfarbenen Klumpen, die hellen Streifen, die Alberts Bogen auf der Oberfläche hinterlassen hatte. Die Dose war mit einem weichen Tuch ausgeschlagen, kleine Splitter schimmerten auf dem weißen Stoff. Zorn verstaute ein paar davon in einem Plastiktütchen, zuckte zusammen, als nebenan ein dumpfer Knall erklang. Zwei Sekunden lang verharrte er reglos, bis im klarwurde, dass gerade der Kühlschrank geschlossen worden war, und zwar von Schröder, wie er kurz darauf am Geräusch seiner typischen, tippelnden Schritte erkannte. Zorn entspannte sich ein wenig, warf einen letzten Blick auf die Geige, betrachtete die weißen, puderartigen Spuren des Kolophoniums auf den Saiten, dem Griffbrett, dem feingemaserten Holz und klappte den Deckel zu.
Zehn Sekunden später war er im Bad, betätigte die Klospülung und schloss übertrieben laut den Deckel. Kurz darauf saß er wieder bei Schröder und Albert. Das Bier, das Schröder ihm bereits hingestellt hatte, trank er nur zur Hälfte, und als er sich dann verabschiedete, da spürte er weder Triumph noch Erleichterung. Im Gegenteil.
Claudius Zorn fühlte sich schäbig.
Äußerst schäbig und sehr, sehr schlecht.