Sechsundfünfzig
20
. September.
ES REICHT
–
GEMEINSAM GEGEN KRIMINALITÄT
!
Victor Kurtz, stadtbekannter Investor und Inhaber der Firma Pikur Consult, plant nach eigenen Angaben die Bildung einer Bürgerwehr
. In einer gestern veröffentlichten Pressemitteilung beklagt der mehrfache Millionär die ansteigende Kriminalität
und die zunehmende Anzahl ungelöster Verbrechen, die Kurtz zufolge auf die Unfähigkeit der Behörden zurückzuführen ist. Unter dem Hashtag
#ESREICHT
! sind die Bürger dazu aufgerufen, sich zusammenzutun und Patrouillen zu bilden, um, wie es in der Erklärung heißt, endlich wieder für Sicherheit auf unseren Straßen zu sorgen
.
Inwieweit diese Initiative mit dem noch immer ungeklärten Mord an Donald Piral, Kurtz’ langjährigem Geschäftspartner, zu tun hat, ließ sich bis Redaktionsschluss nicht klären, da Victor Kurtz bisher nicht erreichbar ist. Es ist allerdings davon auszugehen, dass …
»Ich kotze gleich.«
Zorn ließ die Zeitung sinken.
»Lieber nicht«, sagte Schröder. »Ich ertrage den Gestank nicht, vor allem am frühen Morgen. Was hast du vor?«
Zorn hatte sein Handy vom Schreibtisch genommen.
»Frieda anrufen. Die muss …«
»Sie hat’s garantiert schon gelesen. Und sie kann nichts unternehmen. Niemand kann Kurtz verbieten, eine …«, Schröders kurze Zeigefinger malten Anführungszeichen in die Büroluft, »Bürgerwehr
zu bilden. Jedenfalls solange sie sich an die Gesetze hält.«
»Du weißt genau, wo diese Scheiße endet.« Ein angewiderter Blick, die Zeitung segelte zu Boden. »Irgendwann rennen die Idioten durch die Straßen und jagen jeden, der auch nur ein bisschen wie ’n Ausländer aussieht.«
Schröder ging zum Fenster.
»Es sind nicht alles Idioten«, sagte er.
»Doch«, knurrte Zorn. »Vollidioten, die endlich jemanden haben, nach dem sie treten können.«
Schröder seufzte, sah hinaus auf den Parkplatz. Staubkörnchen tanzten um seine Glatze, flimmerten in der Morgensonne wie ein aufgescheuchter Insektenschwarm.
»Kurtz hat Schiss«, sagte Zorn. »Der rechnet damit, noch mal überfallen zu werden. Dass es ihm dann endgültig an den Kragen geht. Und weil er nicht zu den Bullen …«
»Polizisten
«, korrigierte Schröder.
»… gehen kann, gründet er seine eigene Armee.«
»Um sich zu schützen?« Schröder neigte skeptisch den Kopf.
»Warum sonst?«
»Nun ja.« Schröder faltete die Hände auf dem Rücken. »Womöglich ist er einfach nur wütend. Er tischt uns eine Lüge nach der anderen auf, und er weiß, dass wir ihm nicht glauben. Wir wissen zu viel über ihn. Dass er Jenny Vaatz kannte. Dass er entgegen seiner Behauptung überfallen und gefoltert wurde. Dass derjenige, der ihn bedroht, wahrscheinlich der Mörder von Jenny Vaatz und Donald Piral ist. Victor Kurtz ist gewohnt, dass alles nach seiner Pfeife tanzt. Ich habe ihm mehrfach deutlich zu
verstehen gegeben, was ich von ihm halte. Ich habe ihn gereizt bis aufs Blut. Ich denke«, Schröder wandte sich lächelnd um, »es ist seine Art, sich bei mir zu bedanken.«
Darüber dachte Zorn einen Moment nach.
»Glaubst du, er weiß, wer hinter ihm her ist?«, fragte er dann.
»Davon sollte man ausgehen, schließlich wurde er stundenlang von ihm gefoltert. Trotzdem«, Schröder schüttelte nachdenklich den Kopf, »glaube ich nicht, dass Kurtz ihn kennt. Wahrscheinlich war er maskiert. Nein.« Ein weiteres Kopfschütteln. »Kurtz weiß zwar, warum
er bedroht wird, aber nicht, von wem. Sonst hätte er ihn sich längst vom Hals geschafft.«
»Vielleicht hat er das ja.«
»Dann«, erwiderte Schröder, »würde er sich ruhig verhalten und nicht einen solchen Wirbel veranstalten.« Er deutete auf die aufgeschlagene Zeitung. »Ich halte Victor Kurtz für einen äußerst unangenehmen Zeitgenossen. Aber dumm ist er nicht.«
Damit, musste Zorn widerwillig zugeben, hatte Schröder recht.
Er stand auf, nahm die Lederjacke von der Stuhllehne.
»Wo geht’s denn hin?«, fragte Schröder. »Rauchen?«
»Nee. Ins Labor.«
Zorn biss sich auf die Lippen. Zu spät. Er schloss die Jacke, dachte an das Plastiktütchen in der Innentasche und schämte sich.
»Warum?«
Klar, die Frage hatte unweigerlich kommen müssen.
»Ich …« Claudius Zorn war ein schlechter Lügner. Er wandte sich ab, damit Schröder die flammende Röte auf seinen Wangen nicht bemerkte. »Die … die haben angerufen«, fiel ihm dann ein. »Ich weiß auch nicht, was die wollen.«
»Grüß schön.«
»Klar«, sagte Zorn und ging.
*
Den Rest des Tages verbrachte er wie auf Kohlen. Entgegen seiner sonstigen Gepflogenheiten verließ er seinen Schreibtisch kaum, nur einmal zum Pinkeln und später für zwei hastige Zigaretten auf der Bank unter der Kastanie.
Es war kurz vor Feierabend, als das Labor endlich anrief. Zum Glück war Schröder gerade unterwegs, und so verhallte Zorns Fluch ungehört zwischen den kahlen Bürowänden.
*
»Das ist lächerlich, Claudius.«
»Ich wusste, dass du das sagst.«
Frieda lehnte an der Spüle, eine halbe Flasche Rotwein in der einen, zwei Gläser in der anderen Hand.
»Dann erklär mir mal eins.« Zorn hob die Stimme. »Wie kommt das Kolophonium aus Alberts Geigenkasten zu den Leichen von Donald Piral und Jenny Vaatz?«
»Ich …« Frieda öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. »Sorry.« Sie ging zum Küchentisch, nahm Zorn gegenüber Platz, knallte die Gläser auf den Tisch und goss eines davon voll. »Das«, sie leerte das Glas in einem Zug, »muss ich erst mal verkraften.«
Es wurde still. Die Küchenuhr tickte leise vor sich hin.
»Wie bist du überhaupt auf diese Schnapsidee gekommen?«
Frieda wischte sich mit dem Handrücken über die feuchten Lippen. Sie trug noch immer die Sachen, die sie tagsüber bei der Arbeit angehabt hatte. Graues Jackett, dazu passender Rock und eine mit Rüschen besetzte Bluse. Als Zorn sie angerufen hatte, war sie direkt vom Büro zu ihm gefahren.
»Na ja«, murmelte er. »Da war zuerst dieses Foto. Da sind drei Menschen drauf. Jenny Vaatz und Donald Piral, die sind tot. Außerdem Victor Kurtz, der wahrscheinlich als Nächster drankommt. Das Foto stammt aus seinem Schreibtisch. Derjenige, der Kurtz überfallen hat, muss es mitgenommen haben. Das glauben wir
jedenfalls. Und wir glauben, dass diese Person der Mörder von Jenny Vaatz und Donald Piral ist. Ich meine, wie kommt dieses verdammte Foto in Alberts Brieftasche?«
»Du sagst selbst, dass du’s gar nicht genau gesehen hast.«
Zorn nickte stumm.
»Trotzdem bist du sicher?«
»Ich …« Zorn holte tief Luft. »Ich war’s
zumindest. Im ersten Moment.«
»Das ist drei Tage her, Claudius.« Ein weiterer Schwall Rotwein schoss glucksend in Friedas Glas. »Du hältst Albert für einen Mörder. Und du erzählst niemandem ein Wort? Drei
volle Tage lang?«
»Wie denn auch?«, verteidigte sich Zorn. »Du sagst ja selbst jetzt noch, dass ich bekloppt bin. Ich wollte einfach … Gewissheit haben.«
»Du hast dich bei Schröder eingeschlichen.«
»Ja.«
»Du hast Alberts Sachen durchwühlt.«
»Ja.«
»Das wird Schröder dir nie verzeihen, Claudius.«
»Ich weiß.« Zorn starrte trübsinnig in sein leeres Weinglas. »Diese bekloppten Kolophoniumspuren«, murmelte er. »Wir haben uns noch drüber lustig gemacht. Von wegen«, er hob die Hände, wedelte mit den verbliebenen Fingern durch die Luft, »der Mörder spielt bestimmt Geige, haha. Aber nachdem ich das Foto gesehen habe, da … da musste ich das doch prüfen.« Er senkte kleinlaut die Stimme. »Oder etwa nicht?«
Der Blick, mit dem er Frieda ansah, erinnerte an einen Pudel, der vor seinem Frauchen hockt und darum bettelt, auf den Arm genommen und gestreichelt zu werden. Sie tat ihm den Gefallen nicht.
»Wie sicher ist das Labor?«, fragte sie knapp.
»Hundert Prozent.«
»Dass es von Alberts Geige stammt?«
»Nee.« Zorn dachte stirnrunzelnd nach. »Dass es dieselbe Sorte ist.«
»Und wie oft«, Frieda nahm einen tiefen Schluck, »wird diese Sorte verkauft?«
Auch darüber musste Zorn eine Weile nachdenken.
»Keine Ahnung«, gab er dann zu.
»Dann krieg das raus.«
Klirrend landete das Glas auf dem Tisch. Der Wein schwappte hin und her, funkelte im Neonlicht wie frisches Blut.
»Ich fühle mich beschissen«, sagte Zorn. »Und ich verstehe, dass du sauer bist. Aber ich …«
»Klar bin ich sauer.« Frieda straffte sich. »Ich dachte, du vertraust mir. Stattdessen spielst du den Privatdetektiv, hintergehst den einzigen Freund, den du hast, und …«
»Ihr hättet mir nicht geglaubt, Frieda. Du nicht und Schröder auch nicht. Du hättest gesagt, dass ich spinne. Dass ich mir das alles nur einbilde, weil ich eifersüchtig auf Albert bin.«
»Das bist du doch auch.«
Ihre Blicke trafen sich über dem Tisch.
»Stimmt.« Zorn zuckte die Achseln. »Aber das ist jetzt scheißegal.«
Sie lauschten dem Ticken der Küchenuhr.
»Weißt du«, fragte Frieda nach einer Weile, »wovor ich am meisten Angst habe?«
»Sag’s mir.«
»Dass du recht hast.«
»Ich auch.« Zorn nahm ihre Hand. »Das klingt jetzt verdammt schwülstig, aber ich wünsche mir nichts mehr, als unrecht zu haben. Glaubst du mir das?«
»Ja.« Frieda drehte ihr Weinglas am Stiel, sah ihn an. »Kein Wort zu Schröder. Nicht, solange das nicht sicher ist.«
»Darauf kannst du Gift nehmen.«
»Aber wir werden über was anderes mit ihm reden.«
»Rufus.«
»Ja«, nickte Frieda. »Ich hab genug von dieser Heimlichtuerei.«
Zorn griff nach der Flasche, hielt sie schräg gegen das Licht und stellte fest, dass sie leer war.
»Da drüben«, Frieda deutete zum Schrank über der Spüle, »ist noch eine. Ich glaub, ich muss mich heute besaufen.«
»Du hast dich bekleckert«, sagte Zorn. »Auf der Bluse.«
»Scheiß drauf.«
»Sie sollten auf Ihre Wortwahl achten, Frau Staatsanwältin.«
»Mach einfach den Wein auf. Und danach gehst du unter die Dusche.«
»Echt?« Zorn hob den Arm, schnüffelte unter der Achsel. »Ist es so schlimm?«
»Nee.« Frieda streifte ihr Jackett ab. »Ich will mit dir schlafen.«