Vierundsiebzig
24
. September.
Zorn saß am Schreibtisch und wartete.
Früher hatte ihn das wenig gestört, im Gegenteil, es entsprach seiner passiven Natur, tatenlos in die Welt zu schauen und der Dinge zu harren, die auf ihn zukamen. Auf diese Weise hatte er einen großen Teil seines Lebens verbracht, erfüllt von der beruhigenden Gewissheit, dass sich die meisten Probleme entweder irgendwann von selbst erledigten oder von anderen (Malina, Frieda und vor allem natürlich von Schröder) gelöst wurden.
Diesmal war es anders. Zorns verbliebene Finger trommelten nervös auf dem Schreibtisch, immer wieder sah er auf die Uhr.
Das würde eine Weile dauern, hatte ein mürrischer Kriminaltechniker erklärt, als Zorn das Glas mit Alberts Fingerabdrücken im Labor abgegeben hatte, mit einem Ergebnis könne er frühestens am Nachmittag rechnen.
Ein weiterer Blick auf die Uhr. Kurz nach zwei. Draußen pfiff der Herbstwind zwischen den Streifenwagen über den Parkplatz, riss die letzten Blätter von der alten Kastanie. Zorn kontrollierte, ob der Hörer des Festnetztelefons richtig aufgelegt war, lehnte sich seufzend zurück.
Es war etwas anderes, aus freien Stücken gelangweilt vor dem Rechner zu hocken und nicht, wie jetzt, zur Untätigkeit verdammt zu sein. Zorn fühlte sich wie jemand, bei dem ein Tumor festgestellt wurde, ein Patient, der jetzt vor dem Telefon saß und auf die Mitteilung wartete, ob das Geschwür gut- oder bösartig war. Nein, es war schlimmer, viel schlimmer, denn egal, wie das Ergebnis ausfiel, seine Lage würde sich nicht bessern.
Angenommen, dachte Zorn, Alberts Fingerabdruck ist tatsächlich auf dem Deckenhaken. Dann muss ich ihn wegen Mordverdachts verhaften. Und Schröder? Egal, wie ich’s anstelle, er würde das nicht verkraften. Ich hab zwar keine Ahnung, was Albert mit diesen Morden zu tun haben sollte, aber falls
ich ihn – so unwahrscheinlich das auch klingt – überführen sollte, würde Schröder nie wieder ein Wort mit mir wechseln. Er redet jetzt schon nicht mehr mit mir.
Und die andere Möglichkeit? Wenn die Abdrücke nicht
übereinstimmten? Nun, dann würde Zorn wieder am Anfang stehen, ohne die geringste Ahnung, wie er weiter vorgehen sollte. Und Albert? Den musste er trotzdem verdächtigen, das vermaledeite Foto ließ ihm keine Wahl.
Scheiße, dachte Zorn. Egal, wie ich’s drehe, es endet beschissen. Klassische Situation, allerdings nicht win–win
, sondern lose-lose
.
Haha.
Er begann vor dem Schreibtisch auf und ab zu laufen. Vielleicht, überlegte er, habe ich eine dritte Möglichkeit. Schröder ist sauer, weil ich mich bei ihm eingeschlichen hab. Weil ich Albert verdächtigt habe. Was ist, wenn ich’s andersrum anstelle? Wenn ich’s wiedergutmache?
Er sah zum Fenster. Schröders Topfpflanzen reihten sich auf dem Fensterbrett, die meisten ließen bereits die Köpfe hängen. Zorn füllte die kleine Blechkanne und goss die Blumen. Ich kann mich bei ihm entschuldigen, dachte er dabei, so lange, bis ich schwarz werde, das wird nichts ändern. Aber ich kann was anderes tun, und zwar das Gegenteil. Nicht Alberts Schuld, sondern seine Unschuld
beweisen. Es ist zwar bescheuert, schließlich bin ich Bulle, ich soll einen Mörder finden, aber scheiß auf den Job, es geht um Schröder.
Das, fand Zorn, war zumindest ein Ansatz, vage zwar, doch irgendwie tröstlich. Er nahm das weiche Tuch, mit dem Schröder seine Pflanzen pflegte, und begann jetzt ebenfalls, den Staub von den Blättern zu wischen. Das, behauptete Schröder immer, helfe beim Nachdenken, und wenn es bei ihm funktionierte, warum sollte es dann nicht auch bei Claudius Zorn klappen?
*
»Ich … ich war gestern im Präsidium«, sagte Hendryk. »Kommissar Zorn meinte, Sie hätten Urlaub genommen.«
»Das ist richtig«, nickte Schröder.
»Ich hab versucht, Sie zu erreichen. Ihr Handy ist aus.«
»Auch das ist richtig.«
Schröder musterte Hendryk über den Rand seiner Teetasse. Als dieser vor ein paar Minuten bei ihm geklingelt hatte, war er verlegen gewesen und hatte offensichtlich nicht gewusst, wie er seinen Besuch erklären sollte. Auch jetzt noch rutschte er unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her.
»Sie …«, Hendryk deutete auf den Koffer neben der Tür zum Gästezimmer, »Sie wollen verreisen?«
»Morgen früh.«
Schröder wusste noch nicht, wohin. Er wusste nur, dass er wegwollte. Raus aus dieser Stadt. Aus dem Präsidium. Irgendwohin, wo er in Ruhe nachdenken konnte. Ohne Handy. Ohne Zorn. Ohne Albert.
»Herr Kommissar, ich … ich will Ihnen wirklich nicht auf die Nerven gehen. Und ich weiß, dass ich nicht einfach so hier auftauchen sollte, aber ich …«
»Erzähl einfach, was los ist.«
Schröder stellte die Tasse ab. Er hatte Hendryk keinen Tee angeboten. Sicherlich, er mochte den jungen Mann, der ihm da gegenübersaß und nervös an der Unterlippe kaute. Hendryk war gekommen, weil er Hilfe brauchte. Oder einen Rat. Doch Schröder war mit anderen Dingen beschäftigt.
»Was ist das?«
Er deutete auf eine dünne Mappe, die Hendryk mitgebracht und neben der Obstschale auf dem Tisch abgelegt hatte.
»Ich war bei meinem Vater.« Hendryk ging nicht auf die Frage ein. »Beziehungsweise bei dem Menschen, der aller Wahrscheinlichkeit nach mein Vater ist.«
»Und?«
Hendryk begann zu erzählen. Stockend, wie ein Messdiener bei der Beichte. Schröder hörte aufmerksam zu, verzog keine Miene. Nachdem Hendryk geendet hatte, sah er ihn eine Weile schweigend an.
»Du bist in sein Grundstück eingedrungen«, sagte er schließlich.
»Ja.«
»Du hast ihn mit einer Waffe bedroht.«
»Ja.«
»Er hat dich trotzdem überwältigt.«
»Ja.«
»Und wieder gehen lassen.«
»Ja.«
»Was, zum Teufel, hast du dir dabei gedacht?«
»Ich wollte ihn kennenlernen. Sie haben selbst gesagt, dass …«
»Mit einer geladenen Pistole
?« Schröder faltete die Hände auf dem Tisch. »Ich will gar nicht wissen, wie du sie dir besorgt hast. Aber das ist Nötigung, Hendryk. Abgesehen von Hausfriedensbruch und …«
»Er wird mich nicht anzeigen.« Hendryks Miene verzerrte sich. »Selbst wenn«, stieß er hervor, »es wär mir scheißegal.«
»Wozu«, wiederholte Schröder, »die Pistole?«
»Um mich zu schützen.« Hendryk hob den Kopf. Wut, Trotz und Angst lagen in seinem Blick. »Vor einem Mörder.«
*
Zorn gab sich alle Mühe, doch es funktionierte nicht. Konzentriert beugte er sich über Schröders Pflanzen, zupfte hier ein vergilbtes Blatt, dort eine hängende Blüte ab und wartete auf eine Eingebung. Vergeblich. Besorgt, fast ängstlich wanderte sein Blick immer wieder zum Telefon, und als es dann kurz vor Feierabend tatsächlich läutete und ein äußerst schlechtgelaunter Labortechniker erklärte, dass sein verdammter Rechner schon wieder abgeschmiert
sei und Kollege Zorn nicht vor dem nächsten Vormittag mit einem Ergebnis rechnen könne, da reagierte Claudius Zorn nicht – wie man hätte erwarten können – mit einem Wutanfall.
Im Gegenteil. Er war erleichtert.
*
»Ich musste die Wohnung meiner Mutter auflösen«, sagte Hendryk. »Eigentlich wollte ich eine Firma beauftragen, ich wollte
nichts mehr damit zu tun haben. Aber dann«, er hob seufzend die Schultern, »bin ich doch noch mal hingegangen. Im Keller hat sie ihre Manuskripte gelagert. Ich weiß nicht, ob Ihre Kollegen alles durchgesehen haben, es war eine Menge. Zuerst wollte ich alles verbrennen, ich hab’s mir dann doch noch mal angeguckt. Und bin auf das hier gestoßen.«
Er deutete auf die Mappe. Der graue Kartoneinband war verblichen, stockfleckig. Dünne Pergamentseiten lugten unter den gerissenen Rändern hervor.
»Sie haben das nicht gelesen, oder?«
»Nein.« Schröder schüttelte den Kopf.
»Entschuldigung, war eine blöde Frage. Ihnen wär’s natürlich sofort aufgefallen.«
Der Abend brach an. Die Dämmerung hing vor den bodentiefen Fenstern wie ein vergilbtes Laken. Dunkle Wolken trieben über dem bleifarbenen See.
»Was«, fragte Schröder, »wäre mir aufgefallen?«
»Dass das hier keine ihrer …«, Hendryk suchte nach dem richtigen Wort, »Geschichten
ist. Sie hat das mit derselben Maschine geschrieben wie den Brief an meinen sogenannten«, er verzog das Gesicht, »Vater
. Ich glaube, es war einer ihrer ersten Schreibversuche. Und ich glaube, dass sie sich nicht alles ausgedacht hat.«
»Wie kommst du darauf?«
Hendryk schob die Mappe über den Tisch. »Lesen Sie’s.«
Schröder lehnte sich zurück. Sein kahler Schädel schwamm im Zwielicht wie ein kleiner Vollmond.
»Du behauptest, Victor Kurtz sei ein Mörder.«
Hendryk zögerte.
»Ich bin nicht sicher«, gab er dann zu. »Jedenfalls hatte er ein Motiv, Donald Piral zu töten.«