Fünfundsiebzig
Das Mädchen mit den Zöpfen
von
J. Vaatz
Der Zug erreichte den Bahnhof im Morgengrauen. Die Türen öffneten sich zischend, ein junges Mädchen hüpfte leichtfüßig auf den Bahnsteig. Hinter ihr strömten weitere Reisende aus den überfüllten Abteilen und stolperten müde und übernächtigt mit ihren Koffern den Ausgängen entgegen. Die Pfiffe der Schaffner gellten durch die Halle, das Mädchen lauschte den fremdartigen Durchsagen, dem schrillen Quietschen der Bremsen. Sie hatte kein Auge zugetan, doch sie fühlte sich hellwach, ihr Herz schlug erregt.
Endlich, sie war angekommen! Hier, in Venedig, würde sie neu beginnen!
Niemand beachtete die zierliche blonde
junge Frau in weißem Kleid und Sandalen, die nichts bei sich hatte außer einen kleinen Rucksack über der Schulter, in dem sie ihre wenigen Habseligkeiten und etwas Geld verstaut hatte. Mehr brauchte sie nicht, denn wichtiger war das, was sie zurückgelassen hatte! Da war Matthias, ihr Liebhaber, von welchem
dem sie sich vor zwei Wochen getrennt hatte, nachdem ihr klargeworden war, daß diese Beziehung keine Zukunft hatte. Was sollte sie mit einem verheirateten Physiklehrer, der mit vierzig Jahren mehr als doppelt so alt war wie sie? Trotzdem hatte Matthias keine Ruhe gegeben, doch jetzt
würde er es müssen! Niemand wußte, wo sie war. Weder ihre Freunde (von denen es sowieso nur wenige gab) noch ihr Vater, der sich seit Ewigkeiten nicht gemeldet hatte und dessen einzige Lebenszeichen aus den monatlichen Unterhaltszahlungen
Überweisungen auf ihr Konto bestanden.
Da stand sie also, ein neunzehnjähriges Mädchen, das sich kaum von seinen Altersgenossinnen unterschied. Vielleicht war sie etwas hübscher. Das ebenmäßige, von blonden Zöpfen gerahmte Gesicht war ein wenig zu stark geschminkt, doch die Schminke bildete eine Art Schutzschicht, einen Panzer, hinter dem sie ihre Gefühle verbarg, nach all den Verletzungen, die sie im Laufe ihres jungen Lebens erfahren
erlitten hatte.
Wir wollen sie Cyndi nennen, obwohl dies nicht ihr richtiger Name ist. Die Männer, die ihr diesen Namen gaben, hießen Donny und Vic. Die Begegnung mit ihnen würde ihr Leben von Grund auf verändern, doch dies konnte sie jetzt noch nicht ahnen.
Sie schulterte den Rucksack und ging
lief durch die Halle. Leicht und beschwingt schritt sie voran. Endlich, sie hatte allen Ballast über Bord geworfen! Sie roch die Lagune, bevor sie den Ausgang erreichte, spürte die Wärme des Mittelmeers, und als sie hinaus in die Morgensonne trat, da strahlten ihre Augen, und ein glückliches Lächeln lag auf ihren Lippen.
Schröder legte das oberste Blatt beiseite. Das Papier war nicht gelocht, drei, vielleicht vier Dutzend weitere Blätter stapelten sich in der Mappe. Die Seiten waren vergilbt und so dünn, dass
die Typen der Schreibmaschine an den Satzenden anstelle eines Punkts kleine Löcher hinterlassen hatten.
Hendryk war vor einer Viertelstunde gegangen. Bisher hatte er recht behalten, auch Schröder war überzeugt, dass es sich hier nicht um eine der Liebesschnulzen von Jenny Vaatz handelte. Sie schrieb über sich selbst, nannte sich Cyndi, wie sie vermutet hatten. Auch die Beschreibung passte zu dem Foto, auf dem sie die junge Jenny Vaatz mit Donald Piral und Victor Kurtz erkannt hatten. Die beiden Namen – Donny und Vic – stimmten ebenfalls, Kurtz selbst hatte Piral in seinem ersten Gespräch mit Schröder als Donny bezeichnet, und Zorn hatte auch nach einem Vierteljahrhundert nicht vergessen, dass Kurtz sich damals in Venedig als Vic vorgestellt hatte.
Schröder rieb sich die brennenden Augen. Die Dämmerung war fast vollständig hereingebrochen, die Buchstaben verschwammen vor seinem Gesicht. Abgesehen von der schwülstigen Wortwahl deutete wenig darauf hin, dass es sich hier um die ersten Versuche einer jungen Frau handelte, deren Bücher später unter dem Namen Erica de Gabalier
tausendfach verkauft werden sollten. Schröder betrachtete die holprigen, ungelenk in die Maschine getippten Zeilen, die immer wieder durchgestrichenen Wörter und fragte sich, wie viele Lektoren Jenny Vaatz im Laufe der Jahre wohl in den Wahnsinn getrieben haben musste. Von Talent
konnte hier kaum die Rede sein, doch das, wusste Schröder aus eigener Erfahrung, war nicht wichtig, solange man Erfolg hatte.
Seufzend raffte er die Blätter zusammen, ging um den Esstisch herum, sank in den großen Ohrensessel und schaltete die Stehlampe neben dem Kamin ein.
Es war unstrittig, dass Jenny Vaatz diese Zeilen verfasst hatte. Ebenso unstrittig war, dass es um ihre eigene Vergangenheit ging.
Die Frage war nur: Schrieb sie die Wahrheit?
Sie fand eine Pension in Santa Croce, gleich gegenüber vom Bahnhof. Das Zimmer war winzig, die Züge lärmten den ganzen Tag. Doch war das wichtig?
Nein, denn Cyndi war frei!
Zwei Tage lang streifte sie durch die uralte Stadt, ließ sich treiben durch enge Gassen, lief leichtfüßig
über geschwungene Brücken, bewunderte die glitzernden Auslagen der Souvenirläden, betrachtete die Mauern der stolzen Paläste, die eleganten Türme, gleißend im Sonnenlicht, daß
s wie ein Lichtermeer auf der Lagune funkelte. Ach, wie genoß sie das geschäftige Treiben auf den Kanälen, das Knattern der Motorboote, die Rufe der Gondoliere! Ihre bewundernden Blicke entgingen Cyndi nicht, und sie wußte, daß die Männer tuschelnd die Köpfe zusammensteckten und ihr nachsahen, wenn sie leichtfüßig an ihnen vorüberschritt, getragen von einer Woge des Glücks und dem Gefühl unendlicher Freiheit. Ihr junges Herz tanzte vor Freude, hüpfte wie ein übermütiger Schmetterling
»Herrje«, murmelte Schröder und blätterte um.
in ihrer Brust.
Oh ja, Cyndi war glücklich wie nie zuvor.
Hätte sie es ahnen können? Daß das Glück
die Freude vergänglich ist, daß das Unglück unweigerlich folgen muß wie die Nacht dem Tage, die Ebbe der Flut?
Man kann es naiv nennen, leichtfertig, doch wer könnte es Cyndi verdenken, daß sie in der zweiten Nacht allein zurück in ihre Pension ging, obwohl jedermann wußte, daß dieses
Viertel nach Einbruch der Dunkelheit gefährlich war?
Vielleicht war es Schicksal. Vielleicht war es eine höhere Bestimmung, die Cyndi in die Arme ihres Peinigers trieb, der in der Dunkelheit lauerte und erbarmungslos über sie herfiel! Sie wehrte sich, kämpfte mit jeder Faser ihres jungen Körpers gegen den Vergewaltiger, der ihr schon länger unbemerkt gefolgt war. Der Kampf gegen den stinkenden bärenhaften
Unhold war aussichtslos, doch ihre verzweifelten Schreie verhallten nicht ungehört, und so wendete sich die furchtbare Begegnung doch noch zum Guten, denn die beiden Männer, die Cyndi furchtlos
zu Hilfe eilten und den Vergewaltiger überwältigten, bevor er sein Werk vollenden konnte, würden ihr Leben für immer verändern.
Donny und Vic. Zwei Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Stark wie ein Bär der eine, der andere klein, doch zäh wie ein Puma. Natürlich war Cyndi ihren Rettern vom ersten Augenblick an zugetan, und sie spürte, daß es den beiden genauso
ähnlich ging. Doch es war mehr als Freundschaft, und so war der Tag, an dem sich ihre Wege auf so schicksalhafte Weise kreuzten, nur der Beginn einer langen Reise eines jungen Mädchens, das sich zwischen zwei Männern entscheiden mußte, die um ihre Liebe kämpften, einer Reise, die in einer furchtbaren Tragödie enden sollte!