Vierundachtzig
Albanien 1992
.
Luleta wollte nicht, dass ich zusehe. Es war ihr letzter Wunsch, doch ich konnte ihn nicht erfüllen. Es ging nicht. Sie hat den Großen (ich werde ihn weiterhin so nennen, schließlich sollte ich seinen Namen erst Jahrzehnte später herausfinden) provoziert, hat ihn und die anderen abgelenkt, damit wir flüchten konnten. Doch ich stand wie gelähmt an der Tür, sah durch den Spalt, unfähig, mich zu bewegen.
Der Große hat getobt wie ein Wahnsinniger. Vielleicht hätte er früher von Luleta abgelassen, doch die blonde Frau hat ihn angetrieben, angefeuert, als wäre es ein Wettkampf. Sie hat ihm die Zigaretten gegeben, mit denen er Luletas Arme verbrannt hat. Den Schürhaken, den sie vorher bei meiner Mutter benutzt hatte. Das Elektrokabel, mit dem er sie würgte. Den Hammer. Und all die anderen Dinge. Selbst
als Luleta tot war, hat er nicht aufgehört, auf sie einzuschlagen.
Was dann passiert ist, kann ich nicht genau sagen. Wahrscheinlich ist mir bewusst geworden, dass meine Familie so gut wie ausgelöscht war. Vater und Großmutter lebten zwar noch, doch selbst mir, einem sechsjährigen Mädchen, war klar, dass sie so gut wie tot waren.
Es gab nur noch mich. Ich war es, die jetzt die Verantwortung trug. Für mich und für meinen kleinen Bruder, der die ganze Zeit hinter mir auf Luletas Bett gesessen hatte.
Albert war fünf, ein Jahr jünger als ich.
Hatte ich das schon erwähnt?
*
Es ist Donny, der ihn schließlich zurückholt. Später wird Vic nicht sagen können, wie lange es gedauert hat, doch irgendwann steht Donny plötzlich vor ihm, umfasst seine Schultern und sieht ernst zu ihm auf.
»Es reicht, Bruder.«
Wahrscheinlich hat er es schon ein paarmal gesagt. Die Worte dringen wie aus weiter Ferne heran, Vic fühlt sich wie nach einer rasenden Karussellfahrt. Die Welt dreht sich noch immer, er macht einen Ausfallschritt, um das Gleichgewicht zu halten. Donny hilft ihm, hält ihn fest.
»Alles in Ordnung?«, fragt er.
Vic blinzelt, nickt verwirrt. Er kann sich erinnern, dass er wütend geworden ist. Sehr
wütend. Dann ist er ausgetickt, in einen flammenden Nebel getaucht und jetzt … tja, jetzt steht er mit offenem Gürtel vor einer verklumpten, blutigen Masse.
»Zieh die Hose hoch, amico
.«
Vic gehorcht. Es ist gar nicht so einfach, seine Finger tun weh, die Knöchel sind blutig. Und seine Kehle ist rau, als hätte er sich
die Seele aus dem Leib gebrüllt (was er vermutlich auch hat). Als er sich aufrichtet, wird ihm wieder schwindlig, Donny greift ihn unter der Achsel.
»Erinnerst du dich, wie wir uns kennengelernt haben?«, fragt er.
Klar doch, Vic hat ihm nach Strich und Faden die Fresse poliert. Aus den Augenwinkeln nimmt er eine Bewegung wahr. Cyndi sitzt rittlings auf dem kleinen Typen mit dem Schnauzbart, drückt sein Gesicht in die versifften Sofakissen und hält ihm die Knarre an den Hinterkopf. Vorhin, erinnert Vic sich dunkel, hat Donny noch dort gesessen.
»Ich wusste damals sofort, dass du nicht normal bist.« Donny nimmt sein Gesicht in die Hände, betrachtet ihn eine Weile. »Aber du bist mehr als das, du bist krank«, sagt er sanft. Ein Stück Apfelschale klebt neben der Narbe auf seiner Oberlippe. »Du bist pervers, abartig. Ein Psychopath.«
Vic weiß, dass es als Kompliment gemeint ist. Er fühlt sich jetzt besser. Irgendwie erleichtert, aber auch ein bisschen schuldbewusst. Wie damals, wenn er als Teenager in den Schlüpfer seiner Mutter onaniert hat. Er wusste, dass er was Verbotenes getan hatte, aber es war trotzdem … ein cooles Gefühl.
»Von jetzt an«, sagt Donny feierlich, »sind wir mehr als Brüder. Wir wissen Dinge voneinander, die uns für den Rest unseres Lebens aneinanderketten. Bald, amico
, werden wir reich sein. Und wir werden uns nie verlassen.«
Das, denkt Vic, klingt ein bisschen schwülstig, aber er nickt trotzdem.
Er hört ein leises Poltern, es kommt aus der Kammer, in der sie die beiden Bälger eingesperrt haben.
Scheiße, denkt er, die müssen auch noch weg. Darauf hat Vic überhaupt keinen Bock, aber die haben ihre Gesichter gesehen.
Auch Cyndi hat das Poltern gehört. Sie richtet sich auf, und als
Vic das Glitzern in ihren Augen sieht, weiß er, dass sie sich um die Sache kümmern wird.
Cyndi hat noch lange nicht genug.
*
Albert war ein schweigsamer Junge. Am liebsten hat er allein gespielt, oft bekam man ihn gar nicht mit. Als er vier war, hat Luleta begonnen, ihm das Lesen beizubringen. Die meiste Zeit hat er im Schneidersitz auf dem Sofa gehockt und in seinen Comics geblättert. Am glücklichsten war er, wenn er Großvaters Walkman haben durfte, dann saß er stundenlang da, sah aus dem Fenster und hörte Musik. Und wenn ich mit Luleta gestritten habe, ist er aufgestanden und weggegangen.
In dieser Nacht hat er kein Wort gesagt. Selbst als ich ihm mit Luletas Nagelschere die Fesseln durchgeschnitten und dabei die Handgelenke verletzt habe, war er still. Er hat nicht geweint, als ich mit ihm durch die Klappe in den Keller gestiegen bin. Er stand unter Schock und tat alles, was ich ihm sagte. Das hat uns das Leben gerettet.
*
Der Bauer stolpert. Donny packt ihn am Kragen des gestreiften Schlafanzugs, drückt ihm die Pistole zwischen die Schulterblätter und schiebt ihn vorwärts. Das Versteck, hat der schnauzbärtige Bauer gesagt, ist nicht weit entfernt. Eigentlich kann Donny kein Albanisch, doch er hat sich vorbereitet und die wichtigsten Sätze gelernt.
Es ist Teil seines Plans.
Der eigentlich nicht von Donny stammt. Sondern von Carlo, einem Typen, mit dem er zusammen in Mestre auf der Grundschule war. Sie haben sich in einer Bar wiedergetroffen, nachdem
sie sich jahrelang aus den Augen verloren hatten. Carlo ist ein mürrischer, schweigsamer Typ, einer der wenigen, die Donny wegen seiner Hasenscharte in Ruhe gelassen hatten.
An diesem Abend war Carlo in einem erbärmlichen Zustand. Ein paar Tage zuvor hatte man ihn bei der Zollfahndung gefeuert, nachdem er zum dritten Mal innerhalb eines Monats betrunken zum Dienst erschienen war. Er würde es diesen Wichsern heimzahlen, hatte er nach dem vierten Bier erklärt, und Donny, der zunächst nur mit einem halben Ohr zugehört hatte, war allmählich hellhörig geworden. Carlo hatte von den Plantagen in den albanischen Bergen erzählt, von der Mafia, die den Transport über das Mittelmeer nach Europa organisierte, und wie einfach es war, sich einzuklinken. Carlo war dabei gewesen, als eines der Schnellboote in der Adria hochgenommen worden war. Die Ware war von hervorragender Qualität, das wusste Carlo, schließlich hatte er ein halbes Kilo abgezweigt, für den eigenen Gebrauch. Das machten alle so, kein Wunder bei der miesen Bezahlung. Es hatte ein paar Tage gedauert, bis er den Bootsführer geknackt hatte, aber jetzt wusste er über alles Bescheid. Er wusste, wie das Dorf hieß. Er kannte den Namen des albanischen Bauern. Und er wusste, an welchem Tag die Mafia die Ware abholen würde. Man müsse nur ein paar Tage vorher dort auftauchen, hatte er mit schwerer Stimme gesagt und den fleckigen Schlips gelockert. Ein Kinderspiel.
Donny hatte ihm noch ein paar Schnäpse bestellt. Am nächsten Tag war er in eine Telefonzelle gegangen und hatte Carlo wegen Drogenbesitzes angezeigt. Anonym natürlich, und nachdem Carlo in Untersuchungshaft saß, war der Weg frei gewesen.
»Stopp.«
Der Bauer gehorcht augenblicklich. Er steht vor Donny, die schmalen Schultern gebeugt, den Kopf gesenkt. Wie ein Spielzeug, dem der Stecker gezogen wurde. Neben ihm schaukelt ein
Autoreifen, der mit Seilen in der verkümmerten Krone eines Feigenbaums befestigt ist.
Donny wirft einen Blick über die Schulter. Das Haus duckt sich unter den Bäumen, trübes Licht fällt durch die winzigen Fenster. Das schiefe Dach schimmert silbrig im Mondlicht. Irgendwo gurgelt der Bach. Über das Zirpen der Grillen wehen Stimmen heran. Erst Cyndi, dann Vic.
*
»Ich wusste, dass du keinen hochkriegst.«
Cyndis Lippen sind schmal, die Augen kalt.
»Fick dich selbst«, sagt Vic.
Es kotzt ihn an, dass sie ihn so gesehen hat. Es ist erniedrigend. Demütigend. Es macht ihn wütend.
»War klar, dass du das sagst.« Sie lehnt mit verschränkten Armen am Ofen. Tänzelnd setzt sie sich in Bewegung, steigt über die beiden Alten, ohne Vic aus den Augen zu lassen. »Schlappschwanz.«
Ein Bilderrahmen bricht unter ihren Absätzen. Leichtfüßig kommt sie näher, bleibt direkt vor ihm stehen. Ihr Gesicht ist bleich, wie mit Wachs überzogen. Die Spritzer auf ihren Wangen sehen aus, als hätte sie gerade das Zimmer gestrichen. Doch es ist keine Farbe, sondern das Blut der Frau, die einen Meter hinter ihr von der Decke hängt wie eine Puppe mit verrenkten Gliedern.
»Waschlappen.«
Cyndi mustert ihn, den Kopf ein wenig geneigt, als würde sie ein Kotelett in einer Wursttheke begutachten. Sie hebt die Hand, streicht über seine Wange, und als er das Blut an ihrem Zeigefinger sieht, wird ihm klar, dass sein Gesicht mindestens genauso verschmiert ist wie ihres. Wahrscheinlich noch mehr.
Sie steckt den Finger in den Mund, leckt ihn ab. Ihre Zunge
fährt genüsslich über die Lippen. Vics Puls beschleunigt sich, fängt an zu rasen, während Cyndi ihr Kleid aufknöpft. Eine kurze Bewegung, das Kleid rutscht über ihre Schultern zu Boden. Ihre Hand tastet nach seinem Schritt. Vic hält keuchend die Luft an.
»Komm schon«, zischt sie. »Besorg’s mir.«
Das tut Vic.
*
Das Fenster war schmal, gerade groß genug, dass Vater im Herbst die Kartoffeln in den Keller schippen konnte. Ich habe Albert auf Vaters ölverschmierte Werkbank gehoben, und nachdem ich mich hinter ihm ins Freie gezwängt hatte, wurde mir klar, warum Luleta nicht versucht hat, gemeinsam mit uns zu fliehen. Sie hätte nicht durch das Fenster gepasst.
Es war eine wunderschöne Nacht.
Ich habe nie wieder einen solchen Vollmond gesehen.
*
Sie sind nicht weit gelaufen, vielleicht fünfzig Meter durch hüfthohes Gras, als der Bauer vor einen Haufen Totholz stoppt. Hinter den aufgetürmten Ästen erhebt sich eine vier Meter hohe Felswand. Der Bauer hat Schwierigkeiten, die wild ineinander verschlungenen Äste wegzuschleifen, immer wieder entgleiten sie seinen gefesselten Händen. Sein Schnaufen dringt unter dem Knebel hervor, die nackten Füße sind von den scharfen Gräsern zerschnitten, die Hosenbeine des Schlafanzugs feucht vom nächtlichen Tau.
Donny setzt sich auf den Rand einer verrosteten Schubkarre und überlegt, die Taschenlampe einzuschalten, lässt es dann aber sein. Der Mond scheint so hell, dass man die Kleinanzeigen in einer Zeitung lesen könnte.
Gedämpfte Schreie dringen aus dem Haus. Sie stammen von Cyndi. Donny hat sie schon öfter gehört, Cyndi kann ziemlich laut werden, wenn sie Sex hat. Er runzelt die Stirn, nicht etwa, weil er eifersüchtig wäre. Das Haus ist abgelegen, aber es wäre fatal, wenn sie jemanden aus dem Dorf wecken würde.
Ein leichter Windstoß weht durch den verwilderten Garten. Hinter Donny duckt sich ein Wellblechschuppen unter den Bäumen, die Tür steht halb offen, knarrt in den rostigen Scharnieren.
Ein dumpfes Poltern dringt herüber, gefolgt von einem rauen Schrei. Diesmal ist es Vic, sie scheinen ordentlich bei der Sache zu sein. Es war richtig, die beiden mitzunehmen. Vic sowieso, er ist ein bisschen trottelig, aber leicht zu steuern. Wenn das hier vorbei ist, wird Donny für immer verschwinden müssen, mit der Mafia ist nicht zu spaßen. Er wird mit Vic nach Deutschland gehen. Donny mag Vic, doch vor allem muss er ihn unter Kontrolle behalten, muss verhindern, dass er noch einmal so austickt. Es war Donnys Ernst, als er vorhin gesagt hat, dass sie für den Rest ihres Lebens aneinandergekettet sind. Wenn einer von ihnen redet, landen sie alle im Knast. Und zwar für immer.
Von Cyndi allerdings werden sie sich trennen. Donny hat keine Probleme damit, einen Menschen zu töten. Doch als er Cyndi vorhin zugesehen hat, war ihm ein wenig unbehaglich. Im Gegensatz zu Vic hatte sie sich unter Kontrolle, sie hat jede Sekunde genossen. Jeder Schlag war kühl und genau kalkuliert.
Sie wird ihren Anteil bekommen. Doch Donny wird zur Bedingung machen, dass sie sich nie wiedersehen. Cyndi wird darauf eingehen. Andere Menschen sind ihr egal.
Hinter den aufgetürmten Ästen kommt eine Tür zum Vorschein, grob zusammengezimmert aus vier dicken, unbehandelten Bohlen. Donny sieht keine Scharniere, die Tür ist nur an den rostfarbenen Felsen gelehnt. Der Bauer schiebt sie beiseite, der Rücken der Schlafanzugjacke ist getränkt von seinem Schweiß.
Donny steht auf, die Schubkarre reagiert mit einem leisen
Quietschen. Der Spalt, den das Türblatt verborgen hat, erweitert sich zu einer Höhle, etwa so groß wie der Raum, in dem Cyndi und Vic gerade vögeln. Die Taschenlampe flammt auf, der Strahl streift über die bis unter die niedrige Decke gestapelten Plastiksäcke, jeder in etwa so groß wie ein Zementsack. Donny rechnet kurz durch. Es ist mehr, als er erwartet hat. Viel mehr. Wahrscheinlich mehr, als auf den Lkw passt.
»Du warst fleißig, mein Freund.«
Er richtet die Lampe auf den Bauern. Dieser reagiert nicht. Seine Augen, umgeben von Blutergüssen, sind leer. Dunkle, verloschene Krater. Tote Augen. Die Augen eines Mannes, der mit dem Leben abgeschlossen hat.
*
Schweigend, ohne Vic eines Blickes zu würdigen, zieht sie sich an. Die Leiche der Göre liegt bäuchlings hinter ihr auf dem Tisch. Cyndi knöpft ihr Kleid zu, bemerkt das Blut an ihren Händen, verzieht das Gesicht und wischt die Finger am Nachthemd der Toten ab. Vic, der soeben seinen einzigen Sohn gezeugt hat, zieht die Hose hoch.