Sechsundachtzig
Albanien 1992 .
Meine Erinnerung setzt ein, als Astrit mich durch das Kellerfenster ins Freie schiebt. Wir müssen ganz leise sein, hat sie mir zugeflüstert, es ist ein Spiel, Albert. Wir verstecken uns, niemand darf uns finden. Ich weiß noch, dass ich mir den Bauch aufgeschürft habe, dass Astrit meine Hand nahm und weglaufen wollte, doch dann haben wir die Stimme unseres Vaters irgendwo hinten aus dem Garten gehört.
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Es ist eher ein Wimmern. Der Bauer kniet vor Donny, hebt die gefesselten Hände. Das Klebeband hat sich gelöst, nur eine Ecke hängt noch am rechten Mundwinkel. Als er die Lippen bewegt, flattert es auf seiner unrasierten Wange. Donny versteht kein Wort, doch die Augen des Bauern, die erhobenen Hände, sagen alles.
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Vater hat um unser Leben gebettelt. Ich hockte mit Albert hinter dem Werkstattschuppen, wir hörten jedes Wort. Es sind Kinder, hat er gesagt, unschuldige Kinder. Lasst wenigstens die Kinder am Leben. Unsere nackten Füße waren zerkratzt, Brennnesseln brannten auf unseren Armen. Lauft, hatte Luleta gesagt, lauft, so schnell ihr könnt. Ich schwöre, das wollte ich, doch Albert hielt mich zurück.
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Donny hat genug. Er hält dem Bauern die Pistole an die Schläfe, zieht ihn an der Achsel in die Höhe und drückt das Klebeband fest. Der Bauer plappert weiter, ein Schlag mit der flachen Hand bringt ihn zum Schweigen. Seine Augen sind geweitet, das verklebte Haar steht wirr nach allen Seiten ab, Zweige haben sich darin verfangen.
Eine Wolke verdunkelt den Vollmond, es wird schlagartig finster. Stirnrunzelnd registriert Donny die Wand, die sich über den Bergen vor die Sterne schiebt. Hier oben schlägt das Wetter schnell um. Der Plan ist, das Haus abzufackeln, sie müssen ihre Spuren verwischen. Auch bei Regen wird die Hütte wie Zunder brennen. Und bis jemand das Feuer bemerkt, werden sie längst über alle Berge sein.
Wind kommt auf, die vertrockneten Kronen der Dattelbäume beginnen zu flüstern. Im Haus ist es seit einer Weile ruhig, die beiden scheinen fertig zu sein. Donny sieht auf die Uhr, in zwanzig Minuten kommt der Laster. Vorher wird er noch etwas anderes erledigen.
Der Bauer weint. Tränen graben helle Furchen in sein verquollenes Gesicht. Hinter ihm ist Baumaterial im hohen Gras verteilt. Mörteleimer, Spaten, halbvolle Säcke. An einem Stapel Ziegelsteine lehnt eine verbeulte Schippe.
Der Mond erscheint hinter der Wolke. Donny dreht den Schalldämpfer fest. Der Bauer stolpert rückwärts. Die Pistole hebt sich.
Ein Knacken.
Der Bauer verschwindet, wie vom Erdboden verschluckt.
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Ich war klein für mein Alter, ein magerer Hänfling. Astrit war einen halben Kopf größer als ich, wesentlich stärker, obwohl sie ein Mädchen war. Sie hat aus Leibeskräften an mir gezerrt, ich habe es nicht einmal gespürt. Ich sah, wie der kleine Mann mit dem schiefen Mund die Pistole auf meinen Vater richtete. Ich war fünf, doch ich weiß noch, dass ich mich gewundert habe, weil der Lauf so lang war.
Vater hat uns immer verboten, in der Nähe des ausgetrockneten Brunnenschachtes zu spielen. Ich schrie, als das morsche Holz unter ihm nachgab.
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Ich habe Albert die Hand auf den Mund gepresst. Sonst wären wir jetzt tot.
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Donny stößt einen Fluch aus. Der Schacht ist tief, mindestens drei Meter. Ätzender Staub wirbelt ihm entgegen, der Bauer muss im Fallen nach einem der Säcke gegriffen und diesen mit in die Tiefe gerissen haben. Sein Kopf, die Schultern sind über und über wie mit Mehl bestäubt. Er reißt das Klebeband vom Mund, und als er zu Donny durch den wirbelnden Staub aufsieht, sind seine Augen gerötet, doch seltsam klar. Seine Stimme klingt ruhig, und obwohl Donny die Worte nicht kennt, versteht er sofort.
Komm schon. Bring es zu Ende.
Es beginnt zu regnen. Der Bauer krümmt sich, ein dumpfes, bellendes Husten dringt aus dem Schacht. Donny reibt sich die brennenden Augen. Eigentlich hatte er vor, die Leiche des Bauern ins Haus zu schaffen und mit den anderen zu verbrennen, aber das ist nicht mehr möglich.
Er tritt näher. Erde löst sich unter seinen Schuhen, rieselt in den Schacht. Donny hebt die Pistole, sein Finger krümmt sich um den Abzug. Nichts passiert.
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Der Kleine hat noch ein paarmal abgedrückt, doch die Pistole hat nicht funktioniert. Als er durch den strömenden Regen zum Haus ging, ist er nur einen knappen Meter an Albert und mir vorbeigelaufen. Wir haben hinter dem Schuppen im Unkraut gehockt, und es ist ein Glück, dass ich Albert die Hand noch immer auf den Mund presste. Ich habe nie wieder einen derart wütenden Menschen gesehen. Wenn er uns bemerkt hätte, hätte er uns mit bloßen Händen erwürgt.
Dann hat sich Albert losgerissen und ist zu Vater gerannt. Ich konnte nicht anders, ich musste hinterher.
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Cyndi kommt aus der Kammer. Vic öffnet den Mund, um zu fragen, wo die Bälger sind (er hat gehofft, dass sie’s gleich in der Kammer erledigt, aber sie ist eben erst reingegangen), als die Haustür geöffnet wird. Donny stürmt herein, schäumt vor Wut. Er reißt Vic die Pistole aus der Hand, knurrt, dass er den verdammten Hinterwäldler jetzt fertigmache, und will sofort wieder verschwinden. Doch im letzten Moment besinnt er sich, atmet tief durch. Er ist pitschnass, Vic hat nicht mitbekommen, dass es zu regnen begonnen hat.
»Wir müssen das Haus abfackeln.« Donny hat sich wieder halbwegs unter Kontrolle. »Bereitet alles vor, die Zeit wird langsam knapp. Was ist?«, blafft er, als er Cyndis versteinertes Gesicht bemerkt.
»Ich denke«, sie deutet in die Kammer, »wir haben ein Problem.«
*
Astrit und ich haben versucht, Vater zu helfen. Der Schacht war viel zu tief, selbst wenn wir seine Hände erreicht hätten, wären wir viel zu schwach gewesen, ihn hochzuziehen. Innerhalb einer Minute war aus dem Regen eine wahre Sturzflut geworden. Ich habe nicht verstanden, dass sich das Wasser mit dem weißen, stinkenden Zeug zu einer ätzenden Säure verband, doch ich sah, wie es sich in seine Augen fraß.
Es geht mir gut, hat er immer wieder gesagt, macht euch keine Sorgen um mich. Ich liebe euch.
Dann haben wir die Rufe gehört. Sie hatten bemerkt, dass wir weg waren. Als die Schritte sich näherten, wussten wir, dass der wütende Mann mit dem schiefen Mund zurückkam.
Ihr müsst jetzt gehen, hat Vater geflüstert, während die Haut sich wie blutiger Sirup von seinem Gesicht löste. Bitte, Kinder. Ihr …
*
… müsst auf mich hören, ich bitte euch.
Albert wollte zu Vater in den Schacht springen, doch ich habe ihn am Kragen zurückgerissen. Selbst für mich war das leicht, Albert war spindeldürr. Die Schritte kamen näher, auch Vater hat sie da unten gehört. Er hat zu uns aufgesehen, als wolle er sich unsere Gesichter einprägen. Da, wo seine Augen gewesen waren, klafften Löcher. Ich sah, wie er lächelte, obwohl seine Lippen verschwunden waren. Ich werde seine letzten Worte nie vergessen.
Es waren dieselben, die Luleta gesagt hatte: Lauft. Lauft, so schnell ihr könnt.