Neunzig
Albert stemmte sich aus dem Sessel. Die Decke rutschte von seinen Schultern zu Boden. Er hielt die Tasse noch immer in der Hand, sah sich suchend um und stellte sie schließlich auf den Küchentresen.
»Danke.« Er klang verlegen, fast schüchtern. »Für den Tee. Und überhaupt.«
Schröder antwortete nicht.
»Und?«, fragte Albert. »Wie geht’s jetzt weiter?«
Schröder saß auf dem Sofa, sah ruhig zu ihm auf.
»Du bist ein Mörder. Du musst bestraft werden.«
»Ja«, nickte Albert. »Das muss ich wohl. Um der …«, er hob die Hände, »Gerechtigkeit Genüge zu tun . Aber soll ich dir was sagen? Es tut mir nicht mal leid! Und es war so verdammt … einfach! Astrit hat die Pistole besorgt, sie wusste, wann ich Donald Piral«, wieder hob Albert die Hände, »zufällig treffen würde. Er kannte mich, hat mich in sein Auto gelassen, ich musste ihn weder niederschlagen noch betäuben. Ich weiß bis heute nicht, ob diese verfluchte Pistole geladen war, aber ich habe sie ihm an die Schläfe gehalten und …«
»… dann hast du ihn gezwungen, in den Wald zu fahren.« Schröder klang ungeduldig, wie jemand, der einer oft gehörten Geschichte allmählich überdrüssig wird. »Du hast ihn gefesselt, ihm einen Sack ungelöschten Kalk über den Kopf geschüttelt und die Heizung aufgedreht.«
»Er sollte sterben wie mein Vater, verstehst du das nicht? Ich …«
»Doch«, unterbrach Schröder, »ich verstehe sehr gut, du hast es ausführlich genug erzählt, Albert. Aber sag mir eins.« Er hob den Kopf. »Tut es dir leid?«
»Nein.« Die Antwort folgte prompt. »Ich habe eine Weile zugesehen. Ich stand neben dem Auto und habe seine Schreie gehört. Er wusste nicht, wer ich bin, aber er muss es geahnt haben. Er hat um sein Leben gebettelt. Ich habe das nicht genossen, das musst du mir glauben. Ich … ich wollte einfach nur sicher sein, dass er tatsächlich stirbt.«
»Und du hast ernsthaft daran geglaubt? Dass du dich besser fühlen würdest, wenn du einen Menschen tötest?«
»Du hast es nicht erlebt.« Alberts dunkle Augen wirkten leer, als würde er nicht zu Schröder, sondern in einen gähnenden Abgrund blicken. »Ich sehe meinen Vater immer noch vor mir. Wie er im Brunnenschacht steht und uns ansieht, obwohl er keine Augen mehr hat. Wie er uns fortschickt, uns sagt, dass er uns liebt, während der Regen ihm die Haut vom Gesicht frisst. Ich träume davon, seit ich denken kann.«
An dieser Stelle hätte Schröder einhaken können, denn auch er hatte Träume. Fürchterliche Träume, die ihn seit Jahren verfolgten wie der Tod seines älteren Bruders. Rüdiger war ertrunken, als Schröder ein Teenager gewesen war, noch immer fühlte er sich schuldig. Das allerdings war nicht alles.
Es gab nur einen Spiegel in Schröders Haus. Im Bad, über dem Waschbecken, er benutzte ihn zum Rasieren. Einen größeren hatte Schröder nicht, er mied den Anblick seines Körpers. Nicht etwa, weil er sich seines Äußeren schämte – sicherlich, er war zu dick, zu klein, hatte käsige, sommersprossige Haut –, doch das war ihm herzlich egal. Nicht egal war ihm die gezackte Narbe, die quer über seinen Kugelbauch verlief und ihn daran erinnerte, dass er vor einigen Jahren beinahe erstochen worden war. Ja, Schröder kannte den Tod, vor ein paar Monaten erst hatte er unten am Fluss im seichten Uferwasser gelegen, an Händen und Füßen gefesselt, der Kopf fixiert von einem Laubsägeblatt, das quer über seinen Hals zwischen zwei eiserne Stangen gespannt war. Dieser Traum war der schlimmste, eine klaustrophobische Hölle, in der Schröder immer und immer wieder ertrank, und wenn er schweißgebadet erwachte, spürte er das schlammige Wasser im Mund, seine Kehle schmerzte, als würde sich der gezackte Draht noch immer in seine Haut graben und …
Nein, er wollte nicht daran denken. Und reden wollte er erst recht nicht darüber. Nicht jetzt. Nicht mit Albert. Mit niemandem.
Du hast es nicht erlebt , hatte Albert gesagt.
Schröder hätte allen Grund gehabt, dem zu widersprechen. Er tat es nicht. Schweigend lauschte er Albert, der weiter von seinen Träumen erzählte, die jetzt, nachdem er zum Mörder geworden war, noch schlimmer waren.
»Ich träume nicht nur von meinem Vater, sondern auch von Donald Piral. Wie er geschrien hat. Wie er …« Albert verstummte. »Egal.« Ein weiteres Kopfschütteln, trotzig diesmal. »Ich bereue es nicht.«
Draußen stand der Mond tief zwischen den Kiefern, verblasste allmählich. Über den Baumkronen am anderen Seeufer erschien das erste Grau des anbrechenden Morgens.
»Und jetzt?«, fragte Albert zum zweiten Mal. »Was machen wir jetzt?«
»Das weißt du.« Schröder klang müde.
»Ja. Du bist Polizist, du musst mich …«
»Im Moment«, unterbrach Schröder, »möchte ich einfach nur meine Ruhe. Polizist zu sein ist das Letzte, was ich gerade will. Aber du lässt mir keine Wahl.«
Albert sah stirnrunzelnd zu Boden.
»Niemand wird gern bestraft«, murmelte er wie im Selbstgespräch, hob dann den Kopf. »Sollte ich jetzt nicht flüchten? Müsste ich dich nicht überwältigen und mich dann irgendwo verstecken, damit …«
»Ach, Albert.« Schröder schüttelte seufzend den Kopf. »Wir sind hier doch nicht im Film.«
»Nein«, erwiderte Albert, nachdem er einen Moment nachgedacht hatte, »das sind wir wohl nicht.«
Schröder stand auf, ging an Albert vorbei und öffnete die Terrassentür. Nebel trieb in wattigen Schwaden über dem dunklen See. Er schloss die Augen, atmete die kalte, feuchte Luft.
»Darf ich dich was fragen?«, sagte Albert hinter ihm.
»Das darfst du.«
»Wirst du mir jemals verzeihen?«
»Nein.«
Die ersten Vögel erwachten zum Leben.
»Nicht alle Menschen betrachten die Zeit im Gefängnis nur als Strafe«, sagte Schröder. Er wandte sich um. »Für manche ist es auch eine Chance, mit der Vergangenheit abzuschließen.«
»Du meinst …« Albert hob die Brauen. »Dass es mir dann bessergeht? Wenn ich in einer Zelle sitze?«
»Vielleicht hilft es dir. Zu wissen, dass du die Verantwortung übernimmst.«
Albert neigte den Kopf. Seine Augen weiteten sich, als er über Schröders Worte nachdachte. Zweifel lag in seinem Blick, gleichzeitig etwas anderes. Hoffnung vielleicht.
»Glaubst du daran?«, fragte er.
»Du wirst es bald wissen.«
»Wenn ich entlassen werde«, sagte Albert, »werde ich ein alter Mann sein. Falls ich überhaupt jemals freikomme. Wirst du mich besuchen?«
»Nein.«
»Könntest du nicht …«
»Nein, Albert«, unterbrach Schröder leise. »Ich will dich nie wiedersehen.«
Albert hob die Arme. Eine hilflose, traurige Geste.
»Ich weiß, dass ich kein Recht dazu habe«, sagte er. »Darf ich dich trotzdem um etwas bitten? Einen letzten Gefallen?«