Dreiundneunzig
Zwei Wochen später.
Claudius Zorn war ein sehr, sehr schlechter Sänger. Das war ihm durchaus bewusst, trotzdem schmetterte er das Happy Birthday voller Inbrunst, schließlich galt es seinem einzigen Sohn, und das war etwas völlig anderes. Er saß neben Edgar am festlich gedeckten Geburtstagstisch, sein schiefer, scheppernder Bariton übertönte die Stimmen von Malina und Frieda, während Rufus sich damit begnügte, die Lippen zu bewegen. Malina hatte Girlanden aufgehängt, Luftballons baumelten über ihren Köpfen von der Decke. Es roch nach Kaffee und warmen Keksen. Edgar zappelte ungeduldig auf seinem Stuhl herum, und als das Ständchen vorbei war, wollte er sofort aufspringen, um weiter mit seinen Geschenken zu spielen.
»Mooooment , Kumpel.« Zorn hielt ihn zurück. »Erst auspusten.«
Er deutete auf einen kleinen Rührkuchen neben der Kaffeekanne. Fünf hellblaue Kerzen flackerten auf dem Rand.
»Hat Frieda gebacken«, sagte Zorn. »Extra für das Geburtstagskind.«
»Aha.«
Edgar klang nicht sehr interessiert. Er beugte sich vor, spitzte die Lippen, blies die Kerzen aus und lief zum Couchtisch, wo sich zwischen Bergen von buntem Packpapier seine Geschenke stapelten. Die Erwachsenen tranken Kaffee, aßen Kuchen, redeten über dies und das. Zorn beteiligte sich kaum an dem Gespräch, immer wieder wandte er sich um, beobachtete, wie sein Sohn sich einem gelben Plastikroboter widmete, und wurde ein bisschen stolz (schließlich war er es, der das Geschenk ausgesucht hatte). Dann stand Malina hinter ihm auf, um das Geschirr abzuräumen. Frieda erbot sich, ihr zu helfen, die beiden verschwanden in der Küche, und als Zorn an seinem Kaffee nippen wollte, bemerkte er zunächst, dass seine Tasse verschwunden war, und dann, dass er mit Rufus allein am Tisch saß.
Malina hatte den Rollstuhl an die Stirnseite des Tisches geschoben. Sie hatte Rufus rasiert, sein dunkles Haar streng nach hinten gekämmt. Ein Gurt quer über der Brust verhinderte, dass sein magerer Körper nach vorn sackte. Das Atemgerät stand leise zischend neben ihm auf dem Boden, der Schlauch schlängelte sich über seinen Schoß und verschwand zwischen den spitzen Kragenenden des weißen Hemds. Sein Kopf war geneigt, lehnte an der gepolsterten Stütze, und als ihre Blicke sich trafen, sah Zorn augenblicklich zur Seite und wischte verlegen einen unsichtbaren Krümel von der Tischdecke.
Seit ihrem letzten Gespräch waren einige Wochen vergangen. Zorn war ein vergesslicher Mensch, doch er erinnerte sich noch genau an Rufus’ Worte, an seine Wut, nachdem Zorn ihm erklärt hatte, dass sie ihm nicht helfen würden.
Verpiss dich , hatte Rufus damals gesagt. Verpiss dich, sonst polier ich dir deine scheinheilige Fresse.
Edgar kniete vor dem Sofa, den gelben Roboter in der Hand, den Blick unter gesenkten Brauen drohend auf eines der bestickten Kissen gerichtet. Dahinter verbarg sich offensichtlich ein gefährliches Ungeheuer, das jetzt aufgefordert wurde, sich augenblicklich zu ergeben. Rufus beobachtete den Kleinen, ein leises Lächeln spielte um seine Lippen, und während Edgar dem Sofakissen mit dem Einsatz der ultimativen Laserkanone drohte, überlegte Zorn, dass Rufus nicht aussah wie jemand, der mit dem Leben abgeschlossen hatte. Sicherlich, er hockte bleich, abgemagert und verkrümmt wie eh und je in seinem Rollstuhl, doch irgendwie hatte Zorn das Gefühl, dass …
»Hast du was von Schröder gehört?«, fragte Rufus.
»Nee«, sagte Zorn, der Mühe hatte, das pfeifende Krächzen zu verstehen. »Er ist immer noch im Urlaub.«
Besser gesagt, fügte er in Gedanken hinzu, wie vom Erdboden verschluckt. Und da kann er von mir aus auch bleiben, der feine Herr.
Das war natürlich Blödsinn, das wusste selbst Claudius Zorn. O ja, er war sauer gewesen, verdammt sauer, nachdem Schröder vor zwei Wochen mit Albert ins Präsidium spaziert und dann seelenruhig abmarschiert war, ohne sich auch nur zu verabschieden. Zorn hatte sich alleingelassen gefühlt (nun, das war noch immer der Fall), doch seine Befürchtung, dass ihm die Arbeit über den Kopf wachsen würde, hatte sich erstaunlicherweise als unbegründet erwiesen. Zunächst waren Alberts Vernehmungen eine Tortur gewesen, doch irgendwann im Laufe der stundenlangen Befragungen war es Zorn gelungen, seine Gefühle mehr und mehr auszublenden und Albert Meta als das zu betrachten, was er war: ein geständiger Mörder. Albert war kooperativ gewesen (ein dämliches Wort, in Zorns Augen passte es eher zu einem Wirtschaftsmanager als zu einem überführten Gewaltverbrecher), er hatte sämtliche Fragen beantwortet, es gab keinerlei Lücken, seine Aussagen passten zu den Ermittlungsergebnissen. Sicherlich, es gab noch eine Menge Schreibkram zu erledigen, doch was Zorn betraf, würde der Fall bald abgeschlossen sein.
Zorn konnte nur ahnen, wie viel Albert Schröder bedeutet hatte, und er war nicht sicher, was er Albert mehr vorwerfen sollte: den Mord an einem Menschen oder die Tatsache, dass er Schröder so tief verletzt hatte. Solcherlei Dinge machte Schröder mit sich allein aus, das wusste Zorn, doch er war jetzt seit zwei Wochen verschwunden, kein Anruf, keine Nachricht, nicht das geringste Lebenszeichen. Und das war schlimm, denn Claudius Zorn vermisste Schröder. Sehr sogar.
Und damit bin ich nicht der Einzige, dachte Zorn und betrachtete seinen nun fünfjährigen Sohn, der den Roboter mittlerweile auf dem Couchtisch postiert und eine weiße Blumenvase zum neuen Gegner erkoren hatte. Edgar fragte ständig nach seinem Ögi, und Zorn war es allmählich leid, sich immer wieder neue Ausreden einfallen lassen zu müssen.
Rufus öffnete den Mund.
»Sorry.« Zorn beugte sich zu ihm. »Ich hab dich nicht verstanden.«
»Ich werde mich operieren lassen«, wiederholte Rufus mit einer Stimme, die an das Zischen einer defekten Hydrauliktür erinnerte. »Sie werden mir einen Zwerchfellsimulator einsetzen.« Seine Augen wanderten schräg nach unten zu dem Beatmungsgerät neben dem Rollstuhl, einem orangefarbenen, glänzenden Kasten. »Dann bin ich nicht mehr auf das verdammte Ding angewiesen.«
»Echt?« Zorn hob überrascht den Kopf. »Das ist toll, Rufus!«
Er meinte es ernst. Wenn Rufus sich operieren ließ, konnte das nur eines bedeuten: Er hatte seine Meinung geändert.
»Ich muss mich bei dir entschuldigen«, krächzte Rufus. »Ich … ich hätte das nicht von euch verlangen dürfen.«
Gelächter drang aus der Küche, Geschirr klapperte. Edgar war hinter dem Couchtisch in Deckung gegangen, nahm mit dem Roboter die Vase ins Visier und überzog seinen hoffnungslos unterlegenen Gegner mit einem unsichtbaren, dafür umso lautstärker vorgetragenen Kugelhagel.
»Das …«, Zorn räusperte sich verlegen, »ist schon okay.«
Edgar feuerte eine weitere Salve ab und forderte die Vase zur umgehenden Kaputilation auf. Komisch, schoss es Zorn durch den Kopf, er hat noch gar nicht nach Schröder gefragt. Ausgerechnet heute, an seinem Geburtstag.
»Heißt das …«, er räusperte sich erneut, »dass du deine Meinung …«
»Es heißt«, unterbrach Rufus ihn, »dass ich euch nicht mehr behelligen werde.«
Zorn kam nicht dazu, über die Bedeutung dieser Worte nachzudenken. Malina erschien, in der Hand eine Sektflasche, gefolgt von Frieda, die ein paar hochstielige Gläser brachte.
»Jetzt«, rief Malina, »wird angestoßen!«
Es dauerte eine Weile, bis Zorn die Flasche umständlich geöffnet hatte. Allgemeines Gelächter ertönte, als der Korken quer durchs Zimmer flog und neben der Balkontür in einem Blumentopf landete. Der Sekt schäumte in den Gläsern, Edgar, der ebenfalls anstoßen wollte, wurde nach kurzer Diskussion mit Apfelschorle abgespeist.
Sie hoben die Gläser. Zorn und Frieda hatten Edgar in die Mitte genommen, Malina stand hinter dem Rollstuhl, eine Hand lag auf Rufus’ Schulter.
»Auf das Geburtstagskind!«, schmetterte Zorn feierlich und zupfte seinem Sohn ein Stück Papiergirlande aus dem blonden Haar.
Es klingelte. Die Gläser verharrten vor den offenen Mündern, nur Edgar trank von seinem Saft.
»Da ist er ja«, sagte er, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und stellte das Glas ab. Malina warf Zorn einen fragenden Blick zu, dieser zuckte stumm die Achseln.
»Das ist bestimmt für dich«, sagte Frieda. »Willst du nicht aufmachen?«
»Nee.« Edgar schnappte seinen Roboter und hockte sich im Schneidersitz vor dem Couchtisch auf den Teppich. »Jetzt muss er auch nicht mehr kommen.«