TEIL A
Im Unterricht Kompetenzen erwerben

Die Schule soll Ihrem Kind mitgeben, was es braucht, um ein gutes Leben zu führen. Das bedeutet heute auch: in einer hoch arbeitsteiligen Gesellschaft im Europa des 21. Jahrhunderts seinen Platz finden. Die meisten Erwachsenen haben eine Meinung darüber, wie die Schule das besser oder schlechter tun kann. Auch Experten vielerlei Provenienz stellen jede Menge Ratschläge oder Vorgaben zur Verfügung, wie »die Schule« das tun soll; tatsächlich handelt es sich dabei immer noch um Lehrerinnen und Lehrer aus Fleisch und Blut.

Der erste Teil dieses Buches handelt von Aspekten des Lernens, wie sie im sozialen Umfeld Schule vorkommen. Er konzentriert sich auf das Lernen selbst und seine Bedingungen, wie es die Psychologie als Grundlagenwissenschaft heute sieht. Das tut sie immer auf zwei Ebenen, der des Verhaltens und der des Gehirns. Sie können mit Recht erwarten, dass in »Ihrer« Schule diese Erkenntnisse berücksichtigt werden.

Als Eltern helfen Sie ihrem Kind, wenn Sie seiner Schule grundsätzlich positiv gegenüberstehen und dennoch kritisch begleiten, was es von dort mitbringt. Die Unterrichtsmethoden selbst jedoch liegen in der Profession der Lehrer. Die Lehrkräfte und Sie haben normalerweise das gleiche Ziel: dass Ihr Kind seine Kompetenzen erweitert und sich grundsätzlich wohlfühlt. In diesem Teil geht es deshalb auch darum, wie Sie als Eltern die kognitiven Vorgänge besser verstehen, die das ermöglichen.

1.Lernen braucht Verstehen

Alle Eltern hierzulande haben viele Jahre Schulen besucht. Von daher haben sie eine Meinung zur Schule und zum Lernen allgemein. Die meisten haben auch eine Vorstellung davon, wie Lehrer sein sollten. All das basiert auf ihrer eigenen Erfahrung, ihrem eigenen Nachdenken, dem, was das eigene Kind aus der Schule mitbringt – und dem, wie sie all das bewerten.

Wie viele unsere Bewertungen sind auch diese elementar, sie sind persönlich und sie sind uns wichtig. Wenn Menschen eine Sache extrem wichtig finden, sie aber völlig unterschiedlich bewerten, dann geraten sie schon mal in Streit. Für viele Eltern ist die Schule ein solches Thema. Deshalb hat es viel für sich, der Basis der Bewertung etwas hinzuzufügen, was man selbst in der Schule eher nicht gelernt hat: Wissen darüber, wie Menschen Wissen erwerben. Damit können Sie Ihr Kind besonders kompetent auf seinem Weg durch die Schule unterstützen und ihm die Freude daran erhalten.

Dabei kann es nicht darum gehen, wie die Lehrer ihren Unterricht gestalten sollen. Damit würden Sie in die Professionalität der Lehrer eingreifen, auch wenn die gelegentlich verbesserbar wäre. Für Sie als Eltern stellen sich eher Fragen der Art: Wie kann Schule, wie können Lehrer, wie können wir selbst das Lernen unseres Kindes im Hintergrund befördern, und wie vermeiden wir, es dabei unbeabsichtigt zu behindern? Am Beginn steht die Frage: Wie lernen Kinder und Jugendliche überhaupt?

Die Grundleistung des Gedächtnisses

Die grundlegende Frage nach dem Lernen ist psychologisch. Im psychologischen Sinn hat ein Kind etwas gelernt, sobald es eine neue Verhaltensweise zeigt, eine, die es zuvor nicht kannte oder beherrschte: Vielleicht benutzt es ein neues Wort oder den Konjunktiv, singt ein neues Lied, zählt drei und fünf korrekt zusammen, kann einen Stadtplan lesen oder auf einem Bein hüpfen. All das hat es nicht erfunden. Es ist ihm begegnet und im Anschluss hat es das gelernt. Gedächtnis beginnt, sobald dem Kind etwas aus dieser Begegnung zumindest kurz »im Kopf« bleibt.

Das ist bei Erwachsenen genauso. Stellen Sie sich vor, der Klassenlehrer Ihres Kindes sagt Ihnen seine Telefonnummer, ziffernweise. Nehmen wir 7835126. Nach wie vielen Zahlen muss er eine Pause machen, damit Sie die fehlerfrei aufschreiben können? Die Anzahl bis zur Pause hat einen Namen: Es ist Ihre »Gedächtnisspanne«, der Umfang Ihres sensorischen Gedächtnisses.

Die meisten Erwachsenen behalten mindestens fünf solche Einheiten ohne Pause, 20-jährige Studenten im Mittel sieben. Um sich mehr als neun zu merken, benötigt man dagegen Tricks. Wegen des Mittelwerts sprach man lange von der »magischen Sieben« als dem Umfang der Gedächtnisspanne.

Die Sache ändert sich, wenn der Klassenlehrer ein Späßchen macht und Ihnen seine Telefonnummer nicht auf Deutsch, sondern zum Beispiel auf Hindi vorsagt. In diesem Fall schaffen Sie allerhöchstens fünf »Zahlen«. Das liegt daran, dass diese »Zahlen« für Sie akustische Reize sind, die für Sie keinen Sinn ergeben. In solchen Fällen schrumpft die durchschnittliche Gedächtnisspanne auf eine relativ magere »magische Vier«. Das bedeutet: Sinn erweitert bereits deutlich die Gedächtnisspanne.

Doch selbst wenn Sie die Telefonnummer auf Deutsch gehört haben, ist sie wenige Sekunden später wieder verschwunden. Dieses Vergessen ist normal und vorteilhaft, schließlich ist die Nummer notiert. Anders ist es, wenn Ihr Stift nicht funktioniert. Dann müssen Sie entweder einen anderen suchen oder Ihr Mobiltelefon. Was tun Sie, wenn Sie den Lehrer nicht bitten wollen, die Nummer zu wiederholen? Klar, Sie sagen sie sich vor. Das ist Arbeitsgedächtnis. Damit beginnt nachhaltiges Lernen.

Noch anders liegt der Fall, wenn Sie eine Ähnlichkeit feststellen. Nehmen wir an, die Telefonnummer Ihrer besten Freundin ist 7885126. Die kennen Sie auswendig; Sie stutzen und vergleichen die beiden Nummern im Kopf. Sobald Sie so etwas tun, hantieren Sie geistig mit der Information. Das ist kognitiv mehr als Gedächtnisspanne. Auch dabei nutzen Sie das »Arbeitsgedächtnis«.

Sensorisches Gedächtnis und Arbeitsgedächtnis zusammen bilden das Kurzzeitgedächtnis. Damit ist die Nummer noch immer nicht längerfristig gespeichert, noch können Sie später nicht mehr aktiv darauf zugreifen. Dafür muss sie erst dort »ankommen«, was Psychologen das Langzeitgedächtnis nennen.

Langzeitgedächtnis und Wissen

Das Erste, was Ihr Kind in der Schule lernen sollte, ist lesen, schreiben und rechnen. Sie erwarten aber sicherlich mehr: dass es lernt, sich auf Deutsch verständlich auszudrücken, und möglichst in mindestens noch einer anderen Sprache. Sie erwarten, dass es eine Ahnung davon bekommt, wie die Welt beschaffen ist, vom Universum bis zum Einzeller, wie der Mensch gebaut ist und wie er die Welt gestaltet hat, was er gedanklich entwickelt und künstlerisch geschaffen hat, wie wir uns heute die Welt einrichten – und vieles mehr.

Logisch: Eine Gedächtnisspanne von gerade mal vier beziehungsweise sieben Elementen genügt nicht, damit Ihr Kind all diese Kompetenzen erwirbt. Das Gedächtnis muss mehr umfassen. Tatsächlich unterscheidet die Psychologie Kurzzeit- und Langzeitgedächtnis. Auf Inhalte des Langzeitgedächtnisses kann man auch nach mehreren Tagen zurückgreifen, manchmal auch länger. Aber nicht jeder Inhalt wird längerfristig gespeichert. Dafür muss er zunächst einen Prozess durchlaufen, und zwar mehrfach.

Dieser Prozess hat drei Stufen. Auf der ersten Stufe nehmen wir den Inhalt auf. Man könnte auch sagen, wir nehmen ihn möglichst bewusst wahr. Je besser und je genauer wir den Inhalt aufnehmen, umso besser kann ihn das Gehirn in seine Sprache übersetzen. Damit hat es die Information verschlüsselt oder »encodiert«. Diese verschlüsselte Information wird automatisch gespeichert; das ist die zweite Stufe. Auf der dritten Stufe rufen wir den Inhalt wieder ab.

Rufen wir einen Inhalt ab, hantieren wir im Arbeitsgedächtnis damit. Dabei wird er neu verschlüsselt und neu gespeichert. Wirklich langfristig behalten wir fast ausschließlich Inhalte, die diesen Prozess mehrfach durchlaufen haben. Alles andere vergessen wir auf lange Sicht. Und was wir verfälscht abrufen, wird verfälscht gespeichert.

Verstehen

Das mit dem Vergessen zeigt schon: Die drei Gedächtnisstufen sind keine »Copy-and-paste«-Funktion des Gehirns, das Gedächtnis ist keine Computerfestplatte. Ein Rechner speichert nämlich alles, was er im passenden Format bekommt, bis es jemand aktiv löscht. Wir Menschen nicht. Wir speichern Inhalte vor allem dann, wenn sie Sinn haben und sich mit vorhandenem Wissen verknüpfen lassen.

Sinnloses Material dagegen überfordert uns meistens. Genau deshalb steht es am Beginn der Gedächtnispsychologie: Hermann Ebbinghaus (1859–1909) experimentierte mit »sinnlosen Silben«, um dem Gedächtnis »an sich« auf die Spur zu kommen: Er konstruierte Hunderte sinnlose Silben, lernte immer 13 davon auswendig und prüfte, wie lange er sie behielt. Seitdem wissen wir, was herauskommt, wenn wir sinnloses Material lernen: wenig. Wenn er sie einen Tag lang nicht wiederholte, hatte er zwei Drittel davon vergessen, und nach einem Monat praktisch alles.

Ganz ähnlich ist es, wenn Schüler Massen an Informationen in sich hineinstopfen, ohne sie mit ihrem vorhandenen Wissen zu verknüpfen. In der Prüfung spucken sie sie wieder aus. Anschließend vergessen sie alles gründlich. Man nennt das auch binge-learning; das spielt auf binge-eating an, das Kernverhalten der Essstörung Bulimie. Die Betroffenen essen riesige Mengen und erbrechen sie im Anschluss absichtlich wieder. Beim Lernen ist Hineinstopfen-Ausspucken keine Diagnose, ungesund ist es trotzdem: Die Inhalte sind wie bei der Bulimie verschwunden und nutzlos. Wissen erwirbt man so nicht.

Sicher ins Langzeitgedächtnis gelangen nur Inhalte, die »gehirngerecht« verschlüsselt wurden. Das heißt: Die Information ist kognitiv verarbeitet. Dafür wälzt Ihr Kind sie zunächst im Arbeitsgedächtnis und fahndet nach dem Sinn der neuen Information. Es vergleicht die neue Information mit dem, was es bereits weiß, es vergleicht, wo Neues zum alten Wissen passt, wo es etwas ergänzt, wo sich Zusammenhänge finden lassen. Dabei nimmt es das Neue präziser wahr und ordnet es ein. Je tiefer das Neue verarbeitet wird, umso besser ist es verstanden.

All das geht umso besser, je mehr Ihr Kind bereits weiß. Je besser es in einem Gebiet Bescheid weiß, umso mehr Feinheiten der neuen Information kann es erfassen. Und umso einfacher wird das Neue dem vorhandenen Wissen angegliedert. Befasst sich das Kind mit einem Thema – wendet es zum Beispiel auf andere Fragestellungen an –, dann wird sowohl das Alte als auch das Neue ins Arbeitsgedächtnis hervorgeholt.

Die zentrale Bedingung dafür, dass Ihr Kind Wissen erwirbt, ist deshalb, dass es die Inhalte so tief und umfassend wie möglich verarbeitet und auf dieser Basis versteht. Das schließt ein, dass es das neue Wissen in eigenen Worten formulieren kann. Erst dann hat es verstanden und erst dann kann stabiles Wissen daraus werden.

Die Lehrer sind dafür verantwortlich, die Dinge so zu erklären, dass Ihr Kind sie versteht. Sie sind auch dafür verantwortlich, Ihrem Kind vertiefende Aufgaben zu stellen. Ihr Kind ist dafür verantwortlich, diese Aufgaben sorgfältig zu bearbeiten. Sie selbst sollten es unterstützen; lösen dürfen Sie die Aufgaben aber nicht.

2.Nachhaltiges Lernen geht nicht ganz von selbst

Nur was Ihr Kind verstanden und verarbeitet hat, kann es langfristig in sein Wissen einbauen. Könnte das nicht auch in einem Durchgang gehen? Dann könnten sie ihr Wissen direkt in der Schule erwerben, ohne Üben, Wiederholen und die lästigen Hausaufgaben? Solche Stimmen gibt es. Sie sagen, es müsste ausreichen, wenn die Schule nur »kindgerecht« und vor allem »gehirngerecht« wäre. Dann müssten sich die Kinder »selbstgesteuert und eigenverantwortlich« Inhalte erarbeiten, und schon wären Kompetenz und Wissen für immer da. Was sagt die Psychologie dazu?

Inzidentelles Gedächtnis und die eigene Lebensgeschichte

Zwei Formen des Gedächtnisses bewahren Inhalte, ohne dass wir sie bewusst wiederholen. Das eine heißt in der Psychologie »inzidentell«, was so viel wie »nebenbei« meint. Es greift vor allem im Alltag, wo uns viele Informationen begegnen, die wir nur nebenbei wahrnehmen, die uns abends aber trotzdem wieder einfallen. Wir haben sie gewissermaßen »aufgeschnappt«.

Das andere ist das Gedächtnis für wichtige Ereignisse oder Episoden Ihres eigenen Lebens. Wenn die wirklich wichtig sind und aus dem Alltag herausragen, dann behalten wir sie länger im Gedächtnis. Das kann der letzte Urlaub sein, Ihr eigener Schulabschluss oder die Geburt Ihres Kindes, wegen dessen schulischer Entwicklung Sie dieses Buch gekauft haben. Insgesamt prägen Episoden das, was wir als unsere Identität erleben. Am besten behalten wir Episoden, die uns emotional stark berührt haben, egal ob angenehm oder unangenehm. Diese Form des Gedächtnisses heißt »episodisch«.

Schule ohne Üben – das könnte ja inzidentell oder episodisch sein? Ist es dort einfach zu langweilig und bietet sie zu wenig Gefühle?

Ganz so einfach ist es nicht. Wenn wir inzidentell behaltene Informationen nicht wiederholen, vergessen wir sie genauso wie alles andere. Mit den Episoden täuscht man sich noch leichter. Gerade emotional bedeutsame Ereignisse wiederholen wir nämlich häufig: Wir denken darüber nach, erzählen sie oder schreiben sie sogar auf. Die Geschichte ist uns wichtig.

Gedächtnispsychologisch wiederholen wir dabei die ganze Episode und speichern sie jedes Mal neu ab. In einem guten Unterricht geschieht einerseits ganz Analoges: Die Kinder bearbeiten die Themen aus verschiedenen Perspektiven und sie wenden die Erkenntnisse direkt an. Andererseits ist gedächtnispsychologisch das Wesentliche daran der Inhalt und gerade nicht das, wie Ihr Kind die Situation erlebt. Nur das wäre episodisches Gedächtnis. Abgesehen davon, dass das episodische Gedächtnis sich erst ausdifferenziert. Das Wissensgedächtnis ist dagegen schon bei kleinen Kindern da.

Beim Wissenserwerb gibt es eine Gelegenheit, die Übung weniger nötig macht: Aha-Erlebnisse. Überflüssig wird das Üben dadurch aber nicht.

Verstehen und »darüber sprechen«

Wird ein Kind mit einem neuen Gedanken konfrontiert, will es sich einen Reim darauf machen. Es vergleicht den Gedanken mit dem, was es schon weiß. Das fällt ihm umso leichter, je mehr es über das Thema bereits weiß und je besser dieses Wissen organisiert ist. Nebenbei speichert es die Information ab, vorläufig, aber messbar.

In meinen Veranstaltungen zum Gedächtnis machen die Teilnehmer viele Übungen. In einer gebe ich ihnen 20 Begriffe, etwa fünf Tiere, fünf Pflanzen, fünf Verkehrsmittel und fünf Gebäudearten. Diese Begriffe stehen gemischt auf einem Zettel. Ich bitte die Teilnehmer, die (nicht genannten) Kategorien zu finden und jeden Begriff einer zuzuordnen. Wenn alle damit fertig sind, bitte ich sie, einfach die Begriffe aufzuschreiben, die ihnen noch einfallen.

Den meisten fallen fast alle 20 Begriffe ein. Das ist sehr viel, zwanzig Reize übersteigen die Gedächtnisspanne bei Weitem. Nun kann man sich vier Kategorien mit je fünf Begriffen sowieso leichter merken als 20 zufällige Begriffe. Das Material enthält schließlich Sinn. Doch in diesem Fall ist das Behalten nur die Nebenwirkung: Hauptsächlich haben sich die Teilnehmer schließlich inhaltlich mit den Begriffen beschäftigt, sie haben sie verarbeitet. Und zwar den Sinn: Wenn sie nach Anfangsbuchstaben sortieren, klappt es nicht.

Nehmen Sie jetzt folgende Liste und versuchen Sie auch hier, Kategorien zu finden und die Wörter zuzuordnen. Die Liste: »Arno, Becquerel, Eremitage, Gramm, Guadalquivir, Hertz, Iller, Lena, Liebesverbot, Loire, Louvre, Lumen, Maskenball, Norma, Ohm, Prado, Salome, Tiefland, Uffizien, Zwinger«. Wie gut Ihnen das gelingt, liegt nicht an Ihrer Intelligenz oder Ihrem Denkvermögen. Es liegt daran, ob Sie etwas über Kunstgeschichte, Physik, Geografie und Musik wissen. Fehlt Ihnen dieses Wissen, dann ergeht es Ihnen wie einem Jugendlichen, der die dritte binomische Formel »lernt«, aber das Einmaleins nur lückenhaft beherrscht: Sie werden scheitern. Dabei ist die Aufgabe als solche genauso »einfach« wie die oben.

Die Konsequenz: Wissen kann sich nur Stück um Stück erweitern; um Neues verstehen und verarbeiten zu können, benötigt man eine gewisse Menge an Vorwissen. Auch Schüler können nur so viel neu lernen, wie sie verstehen. Ein Wissensstückchen »landet« nur, wenn Vorwissen den Boden bereitet hat.

Jeder Mensch will verstehen, was ihm begegnet. Versteht einer etwas nicht, dann wendet er sich sofort ab oder er reimt sich eine eigene Erklärung zusammen. Die Lehrerin muss deshalb unbedingt herausfinden, was ihre Schüler verstanden haben, was sie wissen, und wo sie sich etwas Falsches zusammengereimt haben. Wie Erwachsene speichern Jugendliche nämlich exakt das, was sie verstanden haben. Erarbeiten sich Jugendliche also etwas selbst, so nützt es ihnen nur dann etwas, wenn der Lehrer das Ergebnis genau überprüft.

Leichter lernen durch Lerntyp-Diagnose?

Zugegeben, bestechend ist sie schon, die Idee der Lerntypen: Den eigenen »Lerntyp« herausfinden und die Inhalte entsprechend darbieten – schon gehe das Lernen »wie von selbst«. Der »Sehtyp«, der »Hörtyp«, der »Bewegungstyp« und so weiter – die Idee ist in Elternkreisen ähnlich beliebt wie bei Trainern in der beruflichen Weiterbildung. Es gibt sogar Anleitungen für Lehrkräfte und Schulklassen, die dann ihren Unterricht an die ermittelten »Typen« anpassen sollen. Wie das bei den verschiedenen Kindern in einer Klasse gehen soll, bleibt dabei allerdings verschwommen.

Psychologisch betrachtet allerdings gibt es ohnehin keine Lerntypen. Zwar haben manche Kinder eine besondere Vorliebe für ein Sinnessystem, aber das hat eher damit zu tun, dass einer der fünf Sinne besonders gut oder eben schlechter arbeitet. So haben Kurzsichtige oft zum Ausgleich ihr Gehör besonders gut trainiert, Schwerhörige sehen oder tasten intensiver und nehmen dann über diesen Kanal auch intensiver wahr als andere. Für das Lernen darf man daraus aber nur einen Schluss ziehen: Man muss die Wahrnehmung auch der weniger »guten« Sinne gezielt trainieren. Wir haben die fünf Sinne, weil sie uns gemeinsam das Leben erleichtern. Lernen funktioniert besser, wenn wir mehrere Sinneskanäle dabei einsetzen, statt dass wir die schwächeren gleich ganz ausschalten.

Doch selbst wenn es Lerntypen gäbe und der Input an den Vorliebe-Sinn angepasst wäre, würde Lernen nicht von selbst geschehen. Was wir wie lernen, hängt nämlich vom Inhalt ab. Man kann eben Musizieren nicht über das Sehen lehren (obwohl man Noten können und den Lehrer beobachten muss); man kann einen komplexen Gedankengang nur sehr eingeschränkt so visualisieren, dass ihn jemand anders versteht; weder eine Landkarte noch die Idee des Nationalstaats noch die binomischen Formeln werden wir verstehen, wenn wir sie anfassen.

Kinder und Jugendliche lernen besser, wenn sie die Wahrnehmung jedes Sinnes schärfen. Dann nehmen sie mehr wahr, verschlüsseln den Input besser, verarbeiten mehr und können mehr Zusammenhänge herstellen. Es ist auch sinnvoll, wenn sie zwischen den Sinnen hin- und herzugehen lernen. Hat Ihr Kind einen Inhalt verstanden? Dann bitten Sie es, ihn in seinen eigenen Worten zu erklären oder eine kleine Zeichnung oder Tabelle zu erstellen. Erst wenn es das kann, hat es wirklich verstanden; das gilt auch für Naturwissenschaften und Mathematik.

Lehrer müssen genau das von ihren Schülern fordern: Gelerntes in eigenen Worten zusammenfassen und erklären. Gerade ein Kind, das visuell fit ist, muss das üben. Wörter von Fremdsprachen lernen sich leichter, wenn man mehrere Sinne einbezieht und sowohl spricht als auch schreibt. Hören und darauf reagieren muss allerdings ein Mensch – und das ist die Lehrerin oder der Lehrer.

Erleichtern elektronische Medien das Lernen?

Am Anfang stand die Kreidetafel, dann kamen Overheadprojektor, schließlich Filme, Hörmedien oder Sprachlabore. Heute sind es Beamer und Powerpoint und »elektronisches« Lernen. Dieses »E-Learning« nutzt Smartphone oder Tablet-Computer, Whiteboards beziehungsweise Internetsuchen über den Beamer. Es gibt Lernprogramme, und weil die nicht sonderlich beliebt sind, immer mehr »Games«, Computer-Lernspiele. E-Learning sei die Methode des 21. Jahrhunderts, alles völlig einfach und spielerisch. Wer E-Learning verschmäht – was viele Lehrkräfte tun –, wird gerne als vorsintflutlich und altbacken gebrandmarkt. Frage ist nur: Was ist dran? Lernen die Kinder damit besser – oder winkt da vor allem ein gutes Geschäft?

Bisher gibt es viele Ankündigungen, aber kaum positive Belege und schon gar keine umfangreiche Begleitforschung von Pilotversuchen. In einigen Studien floppten elektronische Hilfsmittel gleich ganz, in anderen erzielten sie keinen besseren Effekt als lebendige Menschen. Warum sollte man sie dann in großem Stil einsetzen?

Gedächtnis- und lernpsychologisch ist es ziemlich einfach: Bei einfachen Aufgaben wie dem Einmaleins oder Vokabeln kann E-Learning gute Dienste leisten. Im nächsten Schritt geht es um die Frage, wie gut das Kind den Stoff durchdrungen und verarbeitet hat. Soll das ein elektronisches Medium auch nur annähernd angemessen tun, muss es dafür extrem umfassend und weitverzweigt programmiert sein. Das ist teuer und wird immer wieder daran scheitern, dass Kinder viel komplexere Ideen haben als Programmierer. Schon deshalb kann E-Learning eigentlich nur zusammen mit einem Lehrer aus Fleisch und Blut klappen. Und außerdem: Ein Computer kann niemals trösten.

3.Gute Schule macht nicht einfach Spaß

Die Idee ist in den Köpfen vieler Eltern fest verankert, und Texte mit dem Thema sind hoch beliebt: Schule, heißt es dort, tauge dann, wenn sie »Spaß« mache. Sobald Kinder und Jugendliche genug Spaß hätten, inklusive Freiarbeit, Selbstlerngruppen und E-Learning, laufe alles wie von selbst. Belegt habe das spätestens die Neurobiologie. Stattdessen säßen die jungen Leute missmutig in Klassenräumen, wo sie sich im überkommenen Frontalunterricht gähnend langweilten. Und schließlich vergäßen sie auch noch 90 Prozent oder mehr von alledem, was ihnen dort begegnet sei.

Explizites und implizites Gedächtnis

Genaugenommen betrafen die ersten beiden Kapitel dieses Buches nur einen Teil des Lernens. In der Psychologie heißt das explizites oder deklaratives Gedächtnis. Benutzen wir das explizite Gedächtnis, dann entsteht Wissen, zumindest solange wir die Inhalte benutzen. Tun wir es nicht mehr, vergessen wir sie.

Ein Teil davon heißt episodisch und betrifft Ereignisse unseres eigenen Lebens (Kapitel 2); wir merken uns diejenigen besser, die mit Emotionen verknüpft sind. Der große zweite Teil heißt semantisch und umfasst alles andere Wissen, das, was nicht direkt unser Leben betrifft. Semantisches Wissen lässt sich gut in Worte fassen. Starke Gefühle fördern es nicht, semantisches Wissen zu erwerben, im Gegenteil: Sie behindern es eher, selbst wenn sie positiv sind.

Daneben gibt es die Form des Gedächtnisses und des Lernens, die implizit heißt. Implizit lernen wir alle Fertigkeiten, etwa Fahrrad fahren, Schwimmen oder Ski fahren, aber auch Grammatik und Sprachmelodie unserer Muttersprache. Wir lernen auch implizit, wie man sich benimmt, wann man frei seine Meinung sagen kann und wann lieber nicht oder wie man das Messer beim Schnitzen hält – und sogar den »Stallgeruch« diverser soziologischer Gruppen.

All das geschieht meist unbewusst, verlangt viel Übung und läuft schließlich automatisiert ab. Es lässt sich nur schwer in Worte fassen, was Handwerksmeister, Sporttrainer und Kunstlehrer täglich aufs Neue herausfordert. Das Ergebnis ist, da ist die deutsche Sprache sehr präzise, dass wir etwas können, manchmal auch kennen, etwa Gefahren oder Gerüche. Und daran sehen Sie: Auch explizit Gelerntes kann sich automatisieren und damit implizit werden, etwa Wortschätze oder das Einmaleins.

Lernen in der Schule – was braucht das Gehirn?

Die Vertreter der Spaßschule berufen sich in der Regel auf die Neurowissenschaft: Das Gehirn brauche »Spaß«, um gut zu lernen. Die Lebenserfahrung ist da skeptisch. Die Psychologie auch. Deshalb möchte ich kurz zusammenfassen, was wir biologisch über das Lernen wissen.

Unser Gehirn ist 24 Stunden am Tag aktiv, aber nicht immer gleich. Was es während des Schlafs tut, finden Sie in Teil B. Aktiv heißt, es nimmt Informationen aus der Umwelt auf, verarbeitet sie und speichert sie eine Zeit lang. Der Mensch hat etwas nachhaltig gelernt, wenn das Gespeicherte das Verhalten verändert.

Wie Lernen im Gehirn genau funktioniert, wissen wir bisher nicht. Es sieht aber so aus, als dass bei Lernvorgängen immer einige Gehirnareale aktiver wären als andere. Man schließt das daraus, wie gut ein Areal mit Sauerstoff und Zucker versorgt wird und wie aktiv die dortigen Nervenzellen sind. Welche Areale wann aktiver sind, können wir nicht willentlich beeinflussen; es liegt am Material, dem Inhalt oder den Reizen.

Begegnen uns explizite Informationen, dann werden sie vom zuständigen Sinnesorgan an ganz bestimmte Stellen im Gehirn geleitet: Sehinformation an den unteren Hinterkopf, Hörinformation an die Gehirnoberfläche knapp oberhalb der Ohren. Dann ist das Gehirn dort aktiv. Speichern wir die Information, dann wird eine Struktur aktiv, die aussieht wie ein Seepferdchen und deshalb altgriechisch Hippokampus heißt. Sie liegt ungefähr dort, wo man ankommt, wenn man von den Ohren aus ein paar Zentimeter nach innen geht, eine links, eine rechts. Von hier aus wird die Information an das Frontalhirn hinter der Stirn geschickt und dort verarbeitet. Rufen wir auf der dritten Stufe des Gedächtnisses das Wissen wieder ab, dann ist der Hippokampus erneut aktiv. Genauer: die beiden.

Direkt neben jedem Hippokampus liegt je ein Nervenknoten, der aussieht wie eine Mandel. Er heißt auch so, nämlich Amygdala oder Mandelkern. Die Mandelkerne sind aktiv, wenn uns etwas Gefährliches begegnet oder wenn wir an Gefahren denken. Feuern sie, dann erleben wir das als Angst. Deshalb können wir die Gefahr nicht einfach ignorieren – wir kämpfen oder fliehen.

Die Stoffe, die im Gehirn »Handlungsanweisungen« transportieren, heißen Neurotransmitter. Zwei davon sind die Stresshormone Kortisol und Adrenalin. Sie aktivieren die Mandelkerne und behindern gleichzeitig die Hippokampi und das Frontalhirn, sodass diese bei Stress ausfallen. So kann sich das Gehirn ungestört darauf konzentrieren, wie der Organismus den Stressor loswird. Daran können wir uns zwar gut erinnern – doch zusätzliche semantische Informationen fallen durch die Maschen. Kurz: Stresshormone behindern das semantische Gedächtnis.

Implizites Lernen dagegen hat immer mit konkretem Verhalten oder intensiven Gefühlen zu tun. Da spielen die Seepferdchen keine besondere Rolle. Dafür »reagieren« implizite Vorgänge mehr auf Belohnung und Bestrafung als explizite: Hat ein Verhalten positive Konsequenzen, machen wir es öfter. Hat ein Verhalten dagegen auch nur gelegentlich unangenehme Folgen, dann schränken wir es tendenziell ein.

Die Erkenntnisse über Angst und Bestrafung kann man unmittelbar auf schulisches Lernen anwenden: Wird ein Kind mehrfach gedemütigt, etwa wenn es falsche Antworten gegeben hat, wird es sich eher verstecken und immer weniger antworten, selbst wenn es zwischendurch mal gelobt wird. Wenn ein Kind Angst vor der Schule hat, dann lernt es schlechter und weniger nachhaltig – und es speichert immer die Angst mit.

Und wenn elektronische Lehrmedien eben mehr Spaß machen?

Wie gesagt, es ist nicht belegt, dass Kinder und Jugendliche mit elektronischen Medien mehr oder leichter Wissen erwerben als im Unterricht. Dabei machen ihnen diese Medien durchaus mehr »Spaß«. Dazu hat der Pädagogikprofessor Wolfgang Nieke aus Rostock 2011 mehrere Studien gemacht, von denen eine zu einer Pressemeldung mit der Schlagzeile führte: »Professor warnt vor Powerpoint«.

Zu den Vorstufen des E-Learnings zählt die Beamerpräsentation. Die kann statisch sein wie herkömmliche Overheadfolien. Sie kann aber auch animiert sein: Dann »fliegen« die Texte ein, eine unsichtbare Hand »malt« Grafiken und 3-D-Bilder oder Bilder und Filme werden eingeblendet – all das, was wir aus dem Fernsehen kennen.

Eine Mitarbeiterin Niekes hielt nun vor drei Schülergruppen der 11. und 12. Klassen einen 20-minütigen Vortrag über die Bevölkerungsexplosion in Megastädten des Südens, nämlich Kairo, Jakarta und Lagos. Über Kairo hielt sie einen freien Vortrag, bei Jakarta benutzte sie klassische Overheadtextfolien, bei Lagos eine animierte Beamerpräsentation. Im Anschluss bearbeiteten alle Gruppen einen Wissenstest.

Die Gruppe mit der animierten Beamerpräsentation hatte am meisten »Spaß«. Aber sie schnitt nicht am besten ab, sondern am schlechtesten. Am meisten hatte die Gruppe behalten, die den foliengestützten Vortrag gehört hatte. Das ist zwar nur ein erstes Ergebnis, aber psychologisch kann man es gut erklären: Die Folien wiederholen die Inhalte unauffällig. Die Animation dagegen könnte das Arbeitsgedächtnis überfordert haben, das ja keine große Kapazität hat. In diesem Fall wählt der Kopf selbsttätig aus, was er überhaupt wahrnimmt.

Wie steht es also um die These mit dem Spaß?

Auch wenn wir nicht die »Spaßgesellschaft« bemühen, ist der Begriff »Spaß« heutzutage fast allgegenwärtig. In Bewerbungen gehört Spaß an diesem und jenem zu den wichtigsten Argumenten, warum jemand meint, für einen Job geeignet zu sein. Tatsächlich gibt es keinen Job dieser Welt, der ständig Spaß macht – und wenn wir ehrlich sind, ziehen wir alle Tätigkeiten vor, die uns interessieren und die in einem Umfeld stattfinden, wo wir uns angemessen behandelt und wertgeschätzt fühlen.

Warum sollte das für Kinder und Jugendliche anders sein? Schließlich ist die Schule für sie ungefähr das, was für Sie der Beruf ist: Sie verbringen viel Zeit dort, die Schule fordert sie und sie sollen – und wollen – ihr Wissen erweitern. Das funktioniert, wenn sie keine Angst haben und wertgeschätzt werden, wenn sie verstehen, womit sie sich beschäftigen, wenn sie richtig wiederholen und richtig üben (Teil C).

Es ist völlig ausgeschlossen, dass das immer Spaß macht. Das ist wie bei einer guten Arbeit: Es kann begeistern, befriedigen, Freude machen und einen herausfordern. Und je mehr man weiß und kann, umso geringer ist der Aufwand im Gehirn. Wenn Ihr Kind erlebt, dass es etwas beherrscht, was es vorher nicht konnte, dann freut es sich und will weitermachen. Das nennt man intrinsische Motivation, Motivation, die von innen kommt.

Vier Dinge sind wissenschaftlich gesichert, auch neurobiologisch:

  1. Menschen beschäftigen sich nicht kognitiv mit Dingen, die sie völlig kalt lassen. Kinder interessieren sich für Alltagserscheinungen, die ihnen auffallen. Und sie interessieren sich für Inhalte, über die sie bereits etwas wissen. Deshalb hilft es ihnen, wenn ihnen jemand vorlebt, wofür man sich alles interessieren kann. Das können Sie als Eltern sein, Lehrkräfte müssen es sein. Wenn sich ein Kind für etwas interessiert, will es damit aber ernst genommen werden. Dass es Freude daran hat, wenn die Frage beantwortet wird und es etwas Neues kann, ist etwas anderes als Spaß.
  2. Ihr Kind lernt erheblich leichter, wenn es richtig wach ist. Das kann angenehm sein, aber mit Spaß sollte man es nicht verwechseln. Im Gehirn kann man Wachheit daran erkennen, wie aktiv es ist.
  3. Stress und Angst behindern das explizite Lernen. Das ist psychologisch nachgewiesen und neurobiologisch untermauert. Es beginnt damit, dass Stresshormone Gehirnareale kurzzeitig beeinträchtigen, die beim Lernen die zentrale Rolle spielen. Aber das Gegenteil von Stress und Angst ist nicht automatisch Spaß.
  4. Wenn ein Kind Angst hat und gleichzeitig eine Information aufnimmt, dann speichert es die Angst mit ab. Ruft es die Information wieder ab, ruft es die Angst mit ab. Dieser Kreislauf beeinträchtigt das Lernen massiv. Schluss: siehe c.

Wissen erwerben, Neues lernen, wiederholen und üben kann anstrengend sein. Wenn Ihr Kind danach erlebt, dass es neue Kompetenzen erworben hat, freut es sich trotzdem darüber. Fühlte es sich dabei frustriert, macht das Stress, und dies kann eine Durststrecke produzieren. Die überwindet es besser, wenn es von niemandem als dumm und unfähig hingestellt wird, auch nicht von sich selbst. Das zu begleiten ist die pädagogische Aufgabe – für Sie und seine Lehrer. Das ist aber keine Bespaßung.

4.Begabung, Selbstwertgefühl und die Kultur der Rückmeldung

Es gibt sie immer noch: die Lehrer, die felsenfest davon überzeugt sind, dass Schüler, die ihren Unterricht nicht verstehen, einfach zu schlechte Gene haben. Es gibt sie immer noch: die Jugendlichen, die innerlich ausgestiegen sind, weil sie sich für unfähig halten. Es gibt sie immer noch: die Eltern, die mit schlechten Mathematiknoten besser zurechtkommen als mit schlechten Lateinnoten, weil sie meinen, die Familie sei dafür eben »unbegabt«. Und es gibt sie neuerdings: die Eltern, die Schulnoten vor Gericht anfechten oder ihr Kind für hochbegabt erklären, was nur der unfähige Lehrer nicht wahrhaben will. Was also hat es mit der Begabung auf sich – und wie ist sie mit dem Lernen verschränkt?

Intelligenz messen

Mit Intelligenz bezeichnet man seit dem 18. Jahrhundert die Gesamtheit der geistigen beziehungsweise kognitiven Fähigkeiten. Das Thema gehörte zu den Ersten, mit denen sich die wissenschaftliche Psychologie beschäftigte. Auf den ersten Blick scheint es ja schon kühn, die Intelligenz erfassen zu wollen, schließlich kann man sie nicht am oder im Kopf messen, sondern muss sie indirekt anhand von Leistungen erschließen. Trotzdem war die Psychologie erfolgreich: Heute gehören Intelligenztests zu ihren besten Methoden.

Der Begriff Intelligenzquotient, IQ, stammt von dem Hamburger Psychologieprofessor William Stern (1871– 1938). Er hatte die Idee, die kognitive Leistung eines Kindes mit der durchschnittlichen seiner Altersgruppe zu vergleichen. Das Verhältnis multipliziert mit 100 bezeichnete er als Intelligenzquotient. Ein IQ von 100 ist Durchschnitt – das Kind zeigt exakt die Leistungen seiner Altersgruppe. Bessere Leistungen ergeben einen höheren IQ, schlechtere einen niedrigeren. – Ab der Pubertät bezieht man die Leistung auf die Durchschnittsleistung mehrerer Jahrgänge. Das wird immer so umgerechnet, dass der Durchschnitt 100 ist; deshalb ist der IQ grundsätzlich ein statistischer Wert.

Jeder Intelligenztest enthält verschiedenartige Aufgabentypen, etwa zu logischem Denken, Sprachverständnis oder räumlicher Vorstellung. Jeder Typ beginnt mit leichten Aufgaben, dann werden sie immer schwieriger. Alle Autoren versuchen, dabei möglichst wenig direktes (Schul)-Wissen abzufragen; dennoch sind IQ-Aufgaben für Personen ohne Bildung nicht lösbar. Außerdem unterschätzt zum Beispiel ein deutschsprachiger Test die Intelligenz von Migrantenkindern, die nur schlecht Deutsch sprechen.

Doch bei Muttersprachlern mit normaler Schulbildung sagen Intelligenztests sehr viel aus. Deshalb nutzte man sie auch zur Begabungsforschung. Begabung meint die genetischen Anteile der Intelligenz. Das Gegenstück ist die Umwelt, sie beschreibt den Anteil, den Lernmöglichkeiten, Lernverhalten und physische Bedingungen daran haben.

In der Wissenschaft sind sich heute praktisch alle einig, dass jedes Kind kognitiv genetische Obergrenzen mitbringt. Man kann nicht aus jedem Kind eine Marie Curie oder einen Einstein machen, und manche Kinder werden auch keine Abiturprüfung bestehen. Dennoch sind die Erfahrungen eines Kindes wesentlich; sie erst stimulieren die Gene, aktiv zu werden.

Manche Kinder machen nicht die nötigen Erfahrungen. Leidet die Schwangere ständig unter Stress, beeinträchtigt das auch die spätere kognitive Entwicklung des Kindes. Kümmert sich niemand um das kleine Kind, wird zu wenig mit ihm gesprochen, ist seine Umwelt sehr karg oder lebt es emotional in sehr instabilen Verhältnissen – dann kann es nicht so viel Intelligenz entwickeln, wie seine Gene theoretisch ermöglichen würden. Nur wenn ein körperlich gesundes Kind bei sehr guten Bedingungen lediglich schlechte Leistungen erzielt, sind ausschließlich »die Gene« verantwortlich.

Den zweiten Punkt betonen die Psychologieprofessoren Aljoscha Neubauer und Elsbeth Stern mit ihrem Buchtitel »Lernen macht intelligent«. Intelligenz ist kein Merkmal wie die Augenfarbe; es gibt sie nur im Spiegel erworbener Kompetenzen. Die basieren zwar auf der Genetik, aber ohne Lernen gibt es sie gar nicht.

Begabung und Schulform

Zwei Drittel der Menschen sind durchschnittlich intelligent. Nun haben wir nach wie vor ein drei- (gelegentlich auch ein zwei-) gliedriges Schulsystem. Das verteilt 10-jährige Kinder auf weiterführende Schulen und richtet sich angeblich nach Intelligenz oder »Begabung«. Die macht zum Beispiel das bayerische Kultusministerium an den Noten der 4. Klasse fest. Das führt dazu, wie Grundschullehrer beklagen, dass für viele Eltern spätestens in der 3. Klasse die Noten zum Thema Nummer eins werden. Das setzt manche Kinder enorm unter Druck und beeinträchtigt ihr Selbstwertgefühl. Vielen raubt es die Freude daran, ihr Wissen zu erweitern. Anderswo geben die Grundschullehrer eine Empfehlung oder die Eltern entscheiden selbst. Alle Varianten führen jedoch zu einer sozialen Auslese, die schärfer ist als fast überall sonst in der Welt. Besonders scharf ist sie dort, wo die Eltern die freie Wahl haben.

Die Selektion nach Noten ist wissenschaftlicher Unsinn, weil Noten die Intelligenz zwar grob, aber keineswegs genau widerspiegeln. Sie ist aber auch statistisch falsch. Wenn jeder zweite Jugendliche eines Jahrgangs Abitur macht und das die »intelligentere« Hälfte sein soll, dann ist das mathematisch fast unmöglich. Dann müssten die Kinder mit einem IQ ab 100 Abitur machen, die darunter nicht. Doch die Intelligenz von Personen mit einem IQ von 99 und 101 unterscheidet sich fast nicht. Wer also 50 Prozent Abiturienten will und behauptet, das sei die »intelligentere« Hälfte, hat das Konzept Intelligenz nicht verstanden.

Noch ein Wort zur Hochbegabung. Das wissenschaftliche Konzept Hochbegabung hängt am IQ und ist wie dieser eine statistische Größe: Hochbegabt ist, wer über einen IQ von mindestens 130 verfügt. Das sind 2 Prozent der Bevölkerung, also wenige. Natürlich sollten Hochbegabte das Abitur schaffen, doch einige Hochbegabte klinken sich aus und »versagen«. Man muss sich unbedingt um sie kümmern; es sind jedoch nicht sehr viele. Falls Sie vermuten, Ihr Kind sei viel intelligenter, als seine Noten nahelegen, gibt es eine Anlaufstelle: die Schulpsychologin.

Lernfreundliche Rückmeldung und Noten

Man kann endlos darüber streiten, wie sinnvoll Noten sind. Für Sie als Eltern geht es nicht darum. Für Sie geht es darum, wie die Lehrer mit den Noten umgehen – und Sie selbst.

Eigentlich sind Noten eine Rückmeldung, allerdings eine formalisierte. Rückmeldung beim Lernen ist durchaus nötig, weil jeder Mensch, jede Schülerin und jeder Schüler gesehen werden möchte, nicht nur als Person, sondern auch als jemand, der etwas geleistet hat.

Gute Lehrkräfte nutzen Prüfungen, um herauszufinden, auf welchem Stand jedes Kind ist und wo es etwas nicht verstanden hat. Sie sehen an der Lösung, was ein Jugendlicher verstanden und vor allem, wo er falsch gedacht hat. Richtigstellen heißt, den Denkfehler erkennen – und auf anderem Weg die Lösung bahnen. Das ist wichtiger, als lange über den Fehler zu sprechen. Bearbeitet der Jugendliche die Aufgabe nämlich ein zweites Mal, holt er sie erneut ins Arbeitsgedächtnis. Was dann besprochen wird, speichert sich: Deshalb sollte es der richtige Weg sein. Genau so arbeitet die Beratungsstelle für »Rechenstörungen« der Universität Bielefeld: Die Denkfehler des Kindes erkennen, auf sie eingehen und sie dadurch auflösen.

Eine sinnvolle Rückmeldung in der Schule ist stimmig, holt Kinder von Holzwegen weg und ermöglicht ihnen, die Kompetenzen richtigzustellen (»konstruktiv« nennt man das gerne). Niemals darf sie das Kind demütigen – und Ihre Reaktion als Eltern auch nicht. Ein gedemütigtes Kind nämlich sieht keinen Sinn mehr darin, sich anzustrengen. Stattdessen wird es auf seine individuelle Weise rebellieren; das kann von Abschalten bis Stören reichen.

Aber konstruktive Rückmeldung ist schwierig, Sie kennen das sicher aus Ihrem Beruf und Ihrem eigenen Privatleben. Ein Kind oder eine Jugendliche erlebt Noten als konstruktiv, wenn sie gut sind. Eine schlechte Note ist zunächst nie konstruktiv; es kann höchstens sein, dass ein sehr guter Schüler durch eine schlechte Note merkt, dass er in letzter Zeit alles hat schleifen lassen. Häufiger führen unkommentierte schlechte Noten psychologisch ins Aus: Sie entmutigen und demotivieren, weil sie Kinder dazu bringen, sich für »dumm« zu halten. Die Herausforderung für Lehrkräfte ist deshalb, Ihrem Kind auch nach einer schlechten Note eine konstruktive Rückmeldung zu geben. Es ist korrekt, wenn Sie das erwarten.

Wenn Sie als Eltern Ihr Kind gut durch die Schule begleiten wollen, sollten Sie Noten nie zu wichtig und schon gar nicht wörtlich nehmen. Noten sind nun einmal relativ, sie spiegeln zuallererst die Rangreihe in der Klasse. Man könnte genauso statt der ersten sechs Zahlen die ersten sechs Buchstaben des Alphabets hernehmen. Der Rang in der Klasse ist für Ihr Kind eine wichtige Information, falls sie von konstruktiver Rückmeldung begleitet wird. Eine eingeklagte bessere Note isoliert Ihr Kind aus seiner sozialen Gruppe.

Das Wichtigste an benoteten Schulaufgaben ist, dass die Lehrkraft die Denkfehler erkennt und das Denken der Kinder im weiteren Unterricht auf die richtige Spur lenkt. Das setzt voraus, dass die Klassenstärken sich im international normalen Bereich bewegen, zwischen 18 und 27. Das ist hierzulande nicht selbstverständlich.

Selbstwertgefühl

Demütigung in der Schule beschädigt das Selbstwertgefühl. Ein Kind oder ein Jugendlicher mit einem guten Selbstwertgefühl oder Selbstkonzept ist überzeugt: Ich bin in Ordnung, wie ich bin. Ich bin in der Lage zu tun, was nötig ist, und ich mache das gerne. So jemand kann sich leichter für die Dinge in seiner Welt begeistern und auf ihre Erkundung konzentrieren, ob es sich dabei um die Schule handelt oder den Wald.

Schädliches Selbstwertgefühl gibt es in beide Richtungen: Die einen halten sich für dumm, faul, inkompetent, hässlich und dick, die anderen für unerreicht, super und unschlagbar. Ein Kind mit einem beschädigten Selbstwertgefühl neigt dazu, entweder ständig zu »beweisen«, wie toll es ist oder dass es »auch« jemand ist. Oder es stellt sich »tot«, damit es nicht auffällt.

Ihr Kind entwickelt sein Selbstwertgefühl implizit, und zwar über viele Wege. Die Basis legen Sie als Eltern schon in der Kleinkindzeit. Sehr lange bilden Sie auch den Hintergrund dafür und bleiben die erste Instanz. Empfindet sich ein Kind grundsätzlich als prinzipiell in Ordnung, dann wird dieses Gefühl von der einen oder anderen schlechten Note nicht beschädigt.

5.Bildung fordert Zeit und Pausen

Höher-Schneller-Weiter gilt heute auch in Schule und Hochschule. Am liebsten schneller. Dabei wurde Bildung zu Ausbildung, und die umfasst vor allem das, was »man später braucht«, gute Noten eingeschlossen. Später, das bedeutet Beruf, nicht eigene Ideen oder gar gelingendes Leben. Junge Erwachsene sollen sich schnell in etwas einarbeiten können, sich selbst gut darstellen und ihr Produkt an jeden Kunden bringen. Inhalte herkömmlicher Bildung, die sich nicht unmittelbar beruflich »anwenden« lassen – von Musik bis Latein –, gelten bestenfalls als Luxus. Wollen einige Eltern ihren Kindern diese Bildung trotzdem angedeihen lassen, nennt man sie milde lächelnd »Bildungsbürger«. Doch manchmal führt die Vorfahrt für Schnelligkeit und Noten auch zum binge-learning. Und dagegen spricht psychologisch ziemlich viel – wie auch sonst gegen die gedrängte Zeit in Schulen.

Speichern ins Langzeitgedächtnis braucht Zeit

Das explizite Langzeitgedächtnis umfasst drei Stufen. Sicher zurückgreifen kann man nur auf Inhalte, die diese Abfolge mehrfach durchlaufen haben. Sie kennen die drei Schritte: 1. Aufnehmen beziehungsweise Verschlüsseln, 2. Speichern und 3. Abrufen beziehungsweise Wiedergeben. Der Speichervorgang ist automatisch, aber er benötigt ein paar Minuten. Das weiß man von Menschen, die bewusstlos waren: Die letzten Minuten vor der Bewusstlosigkeit können sie niemals rekonstruieren.

Das kann auch im bewussten Zustand passieren. Wie in der Physik heißt das Interferenz. Gedächtnisinterferenz entsteht etwa, wenn eine Schülerin gerade erfahren hat, wie die binomische Formel funktioniert oder das Present Perfect, und sich direkt danach intensiv geistig mit ihrem Handy beschäftigt. Prüft sie jetzt ihren SMS-Stand, dann stört das den Speichervorgang für den Unterrichtsinhalt »binomische Formel« oder »Present Perfect«. Der hat dann nicht die nötigen Minuten, um überhaupt ein erstes Mal gespeichert zu werden – er ist erst einmal verloren.

Später benötigt das explizite Gedächtnis noch einmal Zeit: wenn die Schülerin die binomischen Formeln wiederholt beziehungsweise Aufgaben dazu löst. Verstehen ist die Voraussetzung, aber alleine genügt es fast nie. Nur wenn sie das Neue wiederholt und in verschiedenen Zusammenhängen anwendet, kann sie es auch später noch abrufen. Wiedererkennen gelingt länger, aber auch das ist begrenzt. Wenn nun Schüler Wissensbruchstücke in sich hineinstopfen, um sie bei der nächsten Klassenarbeit oder im nächsten Test ein einziges Mal abzurufen, dann ist das Vergessen garantiert. Das liegt dann nicht an der Schule. Das Gegenmittel ist, sich mehrfach und in verschiedenen Zusammenhängen damit zu beschäftigen. Das braucht Zeit. Was dabei zu beachten ist, steht in Kapitel 17.

Komplexe Inhalte werden in mehreren Schleifen verarbeitet

Das Gedächtnis arbeitet »nebenbei«, während wir etwas verstehen, uns eigene Gedanken dazu machen und es so geistig verarbeiten. Sehen wir einen Film oder ein Theaterstück, dann geschieht das schnell und wir merken uns die wesentlichen Inhalte zunächst auch ganz gut – das ist eine Form von inzidentellem Gedächtnis. Es funktioniert aber nur, wenn Film oder Stück eine Logik haben, die wir unmittelbar verstehen. Eine chaotische Geschichte oder zusammenhanglose Spots behalten wir sehr viel schlechter.

Ganz ähnlich behalten auch Schüler manche Inhalte gut, wenn sie in eine gute Geschichte »übersetzt« sind. Aber dafür eignet sich nicht alles. Vor allem komplexe Zusammenhänge widersetzen sich, sei das der Klimawandel, die Entwicklung Europas im 20. Jahrhundert oder auch eine Frage wie: Wann schwimmt ein Schiff aus schwerem Eisen? Oder: Wie ergänzen sich Erbe und Umwelt bei der Formung eines biologischen Organismus? Oder: Wie groß ist die Fläche unter einer Kurve? Inhalte dieser Art lassen sich nicht in einer kurzen logischen Abfolge erklären.

Will ein Schüler das Ganze durchdringen, muss er es von verschiedenen Seiten her »einkreisen«. Dafür muss er es zunächst verstehen. Im Anschluss braucht er anspruchsvolle Aufgaben, wie Elsbeth Stern nicht müde wird zu erklären. Es dauert, die zu bearbeiten. Dabei klopft der Schüler die Zusammenhänge noch einmal ab, denkt die Argumente durch und stellt vielleicht selbst weitergehende Fragen. Im Verlauf dieses Prozesses verarbeitet er die Information tiefer. Bei jedem Durchgang speichert sich das aktuelle Verständnis ab. Das braucht Stunden, Tage und Wochen. In Minuten ist ein erstes Verstehen zu haben; komplexeres Wissen nicht.

Implizites Lernen in Schule – vom Sport bis zum Benehmen

Zum implizit gelernten Können gehören zum Beispiel »Prozeduren«, fein abgestimmte Bewegungsfolgen. Ob Fahrrad fahren, Schwimmen oder Fußball spielen, eine Tastatur bedienen, einen Geigenbogen führen oder ein Saxofon blasen: Jede Schülergeneration muss sich das neu aneignen. Sie muss es üben, richtig und ausdauernd. Genauso implizit eignen sie sich an, wie Farben und Formen wirken, wie man sich freundlich und sozial angemessen benimmt oder welche Töne eine Maschine produziert, die nicht rund läuft. Implizites Üben dauert meist noch länger als das Wiederholen expliziter Inhalte.

Implizit Gelerntes beherrschen wir automatisch und damit ziemlich nachhaltig. Man kann »verlernen« – doch das ist ein Kunststück. Dieses Kunststück muss man leisten, wenn man umlernt, etwa neue Tastenkombinationen am Computer oder auch nur eine englische Tastatur, die z und y »vertauscht«. Es dauert lange, weil das Alte so automatisch ist, dass es sich immer dazwischendrängt.

Kleine Kinder lernen fast alles implizit, ob laufen oder mit dem Löffel essen. Dabei tun sie unverdrossen wieder und wieder dasselbe: Sie üben, üben, üben. Das tun sie nicht, weil es »Spaß« macht. Sie tun es, weil sie unbedingt auf eigenen Füßen vorwärtskommen oder etwas essen wollen. Was sie motiviert, ist das Verhalten an sich; die »Belohnung« liegt im Können selbst. Und sie steigert sich mit jedem Übungsdurchlauf.

Auch Schüler wenden für implizites Training viel Zeit auf, oft für Bewegungen oder andere Automatismen. Das tun sie nicht, weil es mit albernen Ködern angereichert ist, damit es »Spaß« macht. Sie üben sinnvoll, wenn sie es normal und richtig finden und Fortschritte erleben, auch wenn sie winzig sind. Auf einer intuitiven Ebene wissen sie, warum. Dafür müssen sie es »nur« generell für gut halten, die Schule zu besuchen.

Ein weit entferntes »Ziel« kann Ihr Kind von sich aus erst anpeilen, wenn das Frontalhirn ausgereift ist, und das geschieht erst im Laufe der Pubertät. Bis dahin muss es direkter spüren, dass sich die zeitfressende Anstrengung lohnt. Das spürt es, wenn es erlebt, etwas zu können, was es vorher nicht konnte: Es kann ein neues Lied spielen, ein Fußballspiel gegen die Nachbarschule bestreiten, schwimmen, wie es mag. Manchmal ist das Üben zwischendurch trotzdem mühsam, frustrierend oder langweilig. Dann könnten Sie als Eltern schon mal etwas besonders Angenehmes versprechen, wenn die Übung abgeschlossen ist. Sie müssen es aber einhalten. Das kann etwas zu essen sein, ein Ausflug oder der Besuch bei der besten Freundin.

Biologische Tagesrhythmen, Mittagstief und Ganztagsschule

Die menschliche Biologie – auch die des Lernens – folgt mehreren inneren Uhren. Der kürzeste Leistungs- und Fitnessrhythmus schwingt ungefähr in einem Takt von 90 Minuten, der nächste etwa von 4 Stunden. Ab dem Beginn der Pubertät erleben wir ein Energie- und Leistungstief mitten am Tag, ungefähr zwischen 13 und 14 Uhr. Machen wir bei einem Tief einfach weiter, dümpeln wir den halben Nachmittag vor uns hin. Gönnen wir uns eine Pause, steigt die Leistungsfähigkeit viel schneller wieder an. Das gilt auch für Schüler und Lehrer.

Deshalb sollte die Schule mehrere kurze Pausen vorsehen und spätestens um 13 Uhr eine längere. Damit die Halbtagsschule gegen 13 Uhr enden kann, sind die Pausen sehr kurz. Dauert sie länger, müssen Schüler wie Lehrer während des tiefsten Tiefs hoch konzentriert sein; das geht seit vielen Jahren schief, die letzte Stunde ist gefürchtet. Pausen kann die Ganztagsschule besser vorsehen, eine echte Mittagspause eingeschlossen.

Zeitlich, biologisch und psychologisch ist eine Ganztagsschule dann sinnvoll organisiert, wenn sich ständig geistige mit körperlichen oder künstlerischen Anforderungen abwechseln. Dazwischen gibt es Zeit für Übung und Stillarbeit, viele Pausen und gelegentlich die Möglichkeit, sich alleine zurückzuziehen. Ist dieser Tagesablauf von Anfang bis Ende verbindlich, nennt man das »gebundene« Ganztagsschule. Doch im Schuljahr 2011/2012 hatte nicht einmal jeder siebte Schüler in Deutschland die Möglichkeit, daran teilzunehmen.

6.Aufmerksam sein im Klassenzimmer

Sie haben das sicher schon erlebt: Sie sitzen im Zug und wollen lesen. Da klingelt bei dem jungen Mann neben Ihnen das Telefon und er beginnt ein Gespräch mit seinem Kumpel. Gleichzeitig sprechen hinter Ihnen zwei Fahrgäste intensiv miteinander. Können Sie Ihrem Text dann aufmerksam und konzentriert folgen? Oder erwischen Sie sich in solchen Fällen dabei, eine Seite mehr als einmal von vorne zu beginnen?

Die zweite Variante ist wahrscheinlicher. Grundsätzlich können sich Menschen besser konzentrieren, wenn sie ihre aktuelle Aufgabe interessant finden, und schlechter, wenn ihnen Informationen fehlen, um sie zu bearbeiten. Doch wenn die Außenwelt akustisch stört, kann es auch im Idealfall schnell vorbei sein. Dann müssen Sie die Töne nämlich erst einmal ausblenden, um überhaupt anfangen zu können. Dafür gibt es einen Fachausdruck: selektive Aufmerksamkeit.

Aufmerksamkeit ist zunächst einmal biologisch

Es ist nicht nur Wollen und Motivation. Es gibt einen biologischen Rahmen dafür, wie aufmerksam oder konzentriert Sie zu einem Zeitpunkt sein können. Diesen Rahmen steckt Ihre Wachheit ab, und da gibt es viele Stufen von hellwach bis schlafen. Zunächst sind dafür zwei Dinge von Bedeutung: a) wie gut und angemessen Sie in der Nacht zuvor geschlafen haben, b) welche Tageszeit gerade ist.

In der Psychologie werden Aufmerksamkeit und Konzentration in der Regel getestet, indem man viele leichte, eher langweilige Aufgaben hintereinander bearbeitet. Das kann etwa so aussehen: Sie drücken eine Taste, wenn auf dem Bildschirm ein bestimmter Reiz erscheint, etwa ein Lichtpunkt oben rechts; Lichtpunkte an allen anderen Stellen ignorieren Sie. Oder: Sie bearbeiten (sehr) einfache Rechenaufgaben. Oder: Sie streichen auf einem Blatt mit vielen Buchstaben jedes »r« an.

Solche Aufgaben können die meisten Menschen hierzulande problemlos bearbeiten. Sie brauchen nicht gut denken zu können dafür, sie müssen nur wach sein. Doch je länger sie an einer solchen einfachen Aufgabe sitzen, umso mehr Fehler machen sie. Sie werden weniger aufmerksam, fühlen sich aber gar nicht müde. Wissenschaftlich heißt das: Die Vigilanz sinkt. Das tut sie spätestens nach 20 Minuten.

Wird man in einem solchen Fall von jemandem angefeuert (oder beschimpft), kann das die Vigilanz kurzfristig erhöhen. Das liegt daran, dass das Stresshormone freisetzt, und die machen wach. Aber das funktioniert nur kurz und ist überdies ungesund.

Das gilt auch in der Schule. Stress macht kurz wach, aber er stört die Konzentration. Keine gute Voraussetzung für nachhaltiges Lernen.

Sprache muss man richtig hören

Ein Kind, das schlecht oder gar nicht hört, muss möglichst früh medizinisch angemessen versorgt werden. Nur wenn es richtig hört, kann es seine Muttersprache gut lernen.

Inzwischen ist diese Muttersprache hierzulande häufig nicht mehr Deutsch. Schule findet natürlich trotzdem auf Deutsch statt, so dass ein Kind trotzdem nur dann gut lernt, wenn es altersgemäß deutsch spricht. Dafür brauchen die Eltern nicht ihre eigene Sprache zu verleugnen: Menschenkinder sind darauf eingerichtet, mit mehr als einer Sprache aufzuwachsen. Lernen sie zwei Sprachen gleichberechtigt und gleichzeitig, dann beherrschen sie sie auch ungefähr gleich gut. Deshalb sollten Kinder aus nicht deutschsprachigen Familien sehr früh in die Kita gehen und dort Deutsch sprechen. Sprechen, nicht Wort für Wort »lernen«.

Solange Ihr Kind die Schule besucht, muss es drei Arten von akustischer Information gut entschlüsseln können. Die sind fast alle sprachlicher Natur: Was die Lehrer sagen, was die Mitschüler sagen und was als Tondokument vorgespielt wird; das ist oft Musik, kann aber auch Sprache sein, etwa im Fremdsprachenunterricht.

Nimmt Ihr Kind auch nur eine dieser Reizquellen nicht korrekt wahr, hat es ein Problem, und das ist völlig unabhängig von der Intelligenz. Es kommt aber häufiger vor, als man denken würde. Zum einen wurden nicht alle Kinder rechtzeitig medizinisch gut untersucht. Zum anderen scheint die Hörfähigkeit der Jugendlichen objektiv abzunehmen. Ihnen selbst fällt das nicht auf.

Der wichtigste Grund dafür ist, dass sie sich zu lange zu hohen Lärmpegeln aussetzen. Das menschliche Ohr ist nicht auf intensiven Lärm ausgelegt. Deshalb müssen Arbeiter ab einer Lautstärke von 85 Dezibel (dB) einen Hörschutz tragen. MP3-Spieler und vor allem Diskotheken kommen aber leicht auf 90 oder gar 100 dB. Die Kinderund Jugendärzte haben deshalb schon empfohlen, die Lautstärke zu kappen, aber das funktioniert natürlich nicht.

Es bleibt nichts übrig: Sie als Eltern müssen Ihr Kind davon überzeugen, die Lautstärke zu dämpfen. Nur das schützt sein Hörvermögen – und damit seine Fähigkeit, dem Unterricht kompetent zu folgen.

Die Akustik in Klassenräumen

Auch wer sehr gut hört, kann gesprochene Sprache schon mal falsch wahrnehmen. Das kann drei Gründe haben:

Nachhall gibt es immer, und er ist nicht automatisch ein Problem. Hallen die Töne aber in einem Raum sehr lange nach, dann überlagern sich die Schallwellen physikalisch und man versteht gesprochene Sprache schlechter. Die Akustiker sagen: Die Hörsamkeit für Sprache ist schlecht. Wie gut die Hörsamkeit für verschiedene Zwecke sein muss, regelt die Deutsche Industrienorm (DIN) 18041. Auch für die Schule.

In unseren Schulen wird diese Norm selten eingehalten. Das heißt: Klassenzimmer hallen oft so stark nach, dass ihre Hörsamkeit schlecht ist. Wer dann spricht, kann sich so gut artikulieren, wie er will – er wird schlecht verstanden, weil bei jedem Wort immer die vorigen mithallen. Besonders schwer verstehen Schüler, die schlechter Deutsch sprechen, und die ganze Klasse im Fremdsprachenunterricht. Viele schalten dann ganz ab.

Die Folge: Wer überhaupt spricht, tut das lauter. Das führt dazu, dass es noch länger hallt und der Geräuschpegel steigt. In der Konsequenz ist es in Klassenräumen – in denen sich ja immerhin meist 30 oder mehr Personen aufhalten – viel zu laut. 60 Dezibel (dB) sind die Regel, 65 bis 70 häufig. Das ist viel zu viel für konzentrierte Arbeit.

Man kann das experimentell überprüfen: Gerade in einem Raum mit großem Nachhall wird es schon ziemlich laut, wenn 30 Schüler mit einem Papier rascheln. Macht die Klasse Gruppenarbeit, kann man schon fast von Lärm sprechen, wenn nur in jeder von vier oder fünf Gruppen eine einzige Person spricht. Frontalunterricht kann also auch akustische Gründe haben.

Selektive Aufmerksamkeit

Wer sich in einer lauten Umgebung auf Gesprochenes konzentrieren will, dem geht es wie den Gästen der Cocktailparty: Er oder sie muss das Wesentliche aus dem lauten »Hintergrundrauschen« herausfiltern, also selektiv aufmerksam sein. Das ist sehr anstrengend, man hält es nicht lange durch, und man macht Fehler. Das Vergnügen an der Sache sinkt schon deshalb, weil man zu viel nicht richtig hört.

Muss man eine halbe Stunde oder noch länger selektiv aufmerksam sein, wird es Stress. Darauf reagiert das Gehirn viel schneller, als man früher dachte, und die Aufmerksamkeit sinkt. So wirkt Lärm in der Schule wie ein Teufelskreis.

Dennoch wird immer wieder behauptet, große Klassen seien kein Problem, gute Lehrer könnten auch diesen etwas beibringen. Das stimmt empirisch, allerdings nur für Klassenstärken bis 27. Dennoch sagt die Akustik schlicht und einfach: Mehr Menschen in einem Raum produzieren einen höheren Schallpegel, vor allem wenn der Nachhall groß ist. Noch mehr Schall produzieren »moderne« Unterrichtsformen wie Gruppenarbeit. Sie sind, wie größere Klassen auch, nur dann zu verantworten, wenn die Raumakustik optimiert wurde.

Wer sich geistig produktiv betätigen und gut lernen will, muss aufmerksam sein und sich konzentrieren. Einige Voraussetzungen dafür sind akustischer Natur. Dazu gehört vor allem, wie gut die Schüler hören können, wie »hörsam« der Raum ist, und wie deutlich Lehrer wie Schüler sprechen. Die Lehrer können mit den Schülern trainieren, sich akustisch verständlich auszudrücken. Sie können zusätzlich auch eine Kultur der Stille pflegen. Dann benötigen die Schüler weniger selektive Aufmerksamkeit und sehr viel weniger Energie.

7.Gutes Licht kann Lernen fördern

Die Schule ist für Ihr Kind ein ebenso elementares Lebensumfeld wie Ihr Arbeitsplatz für Sie. Die Ausstattung von Arbeitsplätzen muss vielen Vorschriften und Normen entsprechen, akustische und visuelle Qualitäten eingeschlossen. Befassen wir uns also näher damit, wann wir besser sehen und wann weniger gut.

Menschliches Sehen, Lichtfarben und Helligkeit

Den Sehsinn nutzen Menschen besonders umfassend: Wenn wir visuelle Reize verarbeiten, ist weit mehr als die Hälfte der Großhirnrinde in irgendeiner Form aktiv. Von daher könnte man vermuten, dieser Sinn sei besonders robust, doch das ist nicht der Fall. Wirklich gut sehen wir nämlich nur, was gut beleuchtet ist, aber nicht blendet. Deshalb sehen wir umso schlechter, je dunkler es wird, und in einem lichtlosen Raum nichts mehr. Außerdem ist das Sehen anfällig: Viele Kinder sind kurz- oder weitsichtig oder sie schielen. Das wirkt sich in der Schule immer negativ aus. Achten Sie als Eltern deshalb schon ab der Kita darauf, dass Ihr Kind gegebenenfalls eine Brille bekommt, mit der es wirklich gut sieht.

Physikalisch ist Licht elektromagnetische Strahlung. Unser Sehsystem kann daraus einen bestimmten Ausschnitt wahrnehmen, nämlich Wellenlängen zwischen 380 und 780 Nanometer (nm). Da ultraviolette und infrarote Strahlen außerhalb liegen, sehen wir sie nicht.

Noch zwei weitere physikalische Eigenschaften tragen dazu bei, wie wir visuell wahrnehmen. Die eine ist die Farb»temperatur«. Normales Tageslicht ist »warm«, es erscheint uns angenehm; physikalisch enthält es das volle Wellenspektrum. Künstliche Beleuchtung umfasst unter Umständen nur Teile des Lichtspektrums. Dabei empfinden wir kurzwelliges Licht als »kalt« – weiß oder blau – und langwelliges als »warm« – rot oder gelb.

Die zweite Eigenschaft ist die Helligkeit, die Physiker messen sie in Lux (lx). Im Freien hat ein trüber Tag etwa 5000 Lux, ein heller Sonnentag 100 000 Lux, der Vollmond 0,25 Lux. Die übliche Wohnzimmerbeleuchtung bringt es auf etwa 200 Lux. Für ein normales Büro schreibt die Arbeitsstättenverordnung 400 Lux vor. Jeder Arbeitsplatz muss so beleuchtet sein, dass die arbeitende Person gut sieht und nicht geblendet wird.

Künstliche Beleuchtung

Eine umfangreiche wissenschaftliche Literatur beschreibt, wie sich die Beleuchtung von Arbeitsplätzen auf Leistung und Wohlbefinden auswirkt. Demnach sehen Menschen nicht nur objektiv besser, wenn es heller ist, sie nehmen optische Informationen auch genauer wahr. Ist der Arbeitsplatz hell und hat das Licht dort einen hohen Blauanteil, dann sind Erwachsene besonders wach und aktiv. Sie arbeiten bei diesem kürzerwelligen Licht konzentrierter, obwohl sie es subjektiv als kalt empfinden. Umgekehrt gibt es Hinweise, dass wärmeres Licht das Sozialverhalten in Arbeitswelten positiv beeinflusst.

Die DIN für Klassenzimmer trägt die Nummer 5035. Sie schreibt im ganzen Raum 300 Lux vor, an der Tafel muss es mit 500 Lux heller sein. Der Vorschrift liegen allerdings keine Studien zugrunde, die Daten zu Leistung und Wohlbefinden der Kinder erhoben hätten, sie rechnet Erwachsenendaten hoch. Diese Norm hat ausschließlich den Lehrervortrag im Blick. Arbeitet die Klasse aber anders, etwa in Gruppen, dann benötigt sie eigentlich eine andere Beleuchtung, wie wir eben auch aus Büros wissen. Dort passt man die Beleuchtung der Arbeitsform an: Es gibt eine Beleuchtung für Einzelarbeit, eine für Besprechungen in verschiedenen Gruppengrößen und eine für Vorträge. Für Klassenzimmer gibt es nur eine; flexible Beleuchtung gibt es nicht. Bisher.

Klassenzimmerbeleuchtung und Kognition

Selbst wenn ein Klassenzimmer die DIN 5035 erfüllt – was nicht alle tun –, könnte es also Situationen geben, in denen nicht jede Schülerin und jeder Schüler alles gleich gut erkennt, was er oder sie erkennen sollte. Das sind sämtliche Personen im Raum, die Tafel beziehungsweise Leinwand oder das Whiteboard und das Material, mit dem sie persönlich gerade arbeiten, also Buch, Heft, Computer und so weiter. Dabei müssten auch Blend- und Spiegelungseffekte ausgeglichen werden, die durch die Sonne oder durch Oberflächen entstehen, etwa bei Whiteboards.

Eine Arbeitsgruppe um Claus Barkmann aus der Hamburger Kinder- und Jugendpsychiatrie berichtete nun 2012 in der Zeitschrift Physiology and Behavior über die Ergebnisse einer Studie zum Licht in Klassenräumen. Weltweit erstmals prüften sie, ob und wie sich verschiedenartige Beleuchtungen in Schulen auf das Lernen der Kinder und Jugendlichen auswirken. Die Firma Philips hatte eine Anlage entwickelt, an der sieben Beleuchtungstypen eingestellt werden konnten. Die Arbeitsgruppe prüfte die Wirkung jeweils neun Monate lang in einer 3. Grundschul- und einer 10. Sekundarschulklasse. Zum Vergleich beobachtete sie auch die jeweilige Parallelklasse, die mit althergebrachter Beleuchtung lernte.

Je nach Bedarf konnte die Lehrkraft den passenden Beleuchtungstyp wählen. Stand die Tafel im Mittelpunkt, konnte sie mit 1000 Lux sehr hell beleuchtet werden. Sollten sich die Schüler stark konzentrieren, bekam das Licht mehr Blauanteil, war also kälter. Erlaubten die Aufgaben eine entspanntere Atmosphäre, wählte die Lehrkraft wärmeres Licht. Im Abstand von vier Wochen machten die Schüler aller vier Klassen einen Konzentrations- und einen Lesetest; außerdem beantworteten sie Fragen zu ihrer eigenen Leistungsmotivation und zur Atmosphäre im Klassenzimmer.

Tatsächlich lasen Schüler, die bei variabler Beleuchtung gearbeitet hatten, im Test schneller als zuvor und schneller als Parallelklassen bei üblichem Licht. Sie machten auch deutlich weniger Konzentrationsfehler. Sie fühlten sich motivierter als vorher und empfanden die Atmosphäre im Klassenzimmer als angenehmer.

Diese Studie ist ein Anfang. Doch ihre Ergebnisse passen zu dem, was aus der Arbeitspsychologie bekannt ist. Es könnte also sehr sinnvoll sein, auch die Klassenzimmerbeleuchtung an verschiedene Arbeitsmethoden anzupassen.

Sie passen auch zu Ergebnissen, die wir aus der allgemeinen Lichtforschung kennen. Die besagen, dass der Mensch schon ausreichend helles Licht benötigt, damit seine innere Uhr getaktet wird, insbesondere Tageslicht (mehr dazu in Kapitel 12). Und nur wenn die innere Uhr rund läuft, kann er emotional, sozial und kognitiv wirklich gut funktionieren.

Licht, Raumausstattung und Wohlbefinden

Ganz allgemein steigert es Wohlbefinden, Gesundheit und Leistungsfähigkeit, wenn man täglich genügend Zeit draußen verbringt oder zumindest in Räumen mit Tageslicht. Wenn sich viele Stunden in rein künstlich beleuchteten Räumen nicht vermeiden lassen, verhilft helles Licht von 2000 Lux und mehr dazu, Emotionen und Leistungsfähigkeit im Gleichgewicht zu halten. In Gegenden mit sehr kurzen Wintertagen – oder zeitweise durchgehender Dunkelheit – benützt man deshalb inzwischen Tageslichtleuchten zum Ausgleich.

Für Schulen kann man daraus zumindest den Schluss ziehen: möglichst viel Tageslicht. Das darf allerdings nicht blenden, weshalb Anstrich und Möblierung nicht durchgehend in Weiß gehalten sein dürfen.

Damit Schüler gut arbeiten, sollten sie sich nicht nur in ihrer Klassengemeinschaft und ihrer Schule wohlfühlen, sondern auch in ihrem Klassenzimmer. Ein solches Klassenzimmer ist so ausgestattet, dass sie dort gut hören, sich gut verständlich machen und alles sehen können, was nötig ist, um am Unterricht aktiv teilzunehmen. Es ist so hell, dass die Kinder und Jugendlichen nicht müde werden, sich aber auch nicht geblendet fühlen. Von jedem Platz aus ist perfekt erkennbar, was auf Tafel und Leinwand erscheint. Jeder Schüler, jede Schülerin kann gut sehen, was er oder sie selbst aufzeichnet. Bildschirme sind so gestaltet, dass man sie auch bei Helligkeit gut erkennen kann. Und es ist angenehm, weil Möblierung, Wandanstrich und Verschönerungen den Bedürfnissen der Kinder entsprechen.